Und: Was bedeutet das für die Alternative für Deutschland? Alice Weidel macht den Aufschlag und wird im Spiegel wie folgt zitiert:
Frau Wagenknecht bekommt aus großen Teilen unseres Wählerumfeldes großen Zuspruch.
Die Partei- und Bundestagsfraktionschefin der AfD fährt fort:
Selbstverständlich ist da eine gewisse Konkurrenz entstanden, mit der wir uns auseinandersetzen müssen,
was schon allein deswegen korrekt erscheint, weil nach Angaben der Zeitung Der Westen 63 Prozent der befragten AfD-Wähler eine Wagenknecht-Parteigründung befürworten.
Weidel kennt die Zahlen und sie kennt die Besonderheiten aus den ostdeutschen Ländern, wo die AfD weiterhin in Umfragen stärkste Kraft bleibt. Gerade dort gibt es frappierende Überschneidungen zwischen AfD-Sympathisanten und Wagenknecht-Anhängern.
Die These des Politberaters Tomasz Froelich, wonach Opposition in Deutschland heute »AfD + Wagenknecht« heiße, ist im Osten längst im Alltagsverstand der politisch motivierten Menschen verankert.
Weidel spricht dazu Klartext:
Sie ist wahnsinnig populär und spricht besonders im Osten dieselben Wähler an wie wir: Jene, die die Folgen der Energiekrise besonders hart spüren, die genug haben von linksgrünem Mainstream und dem Versagen der Regierung.
Zieht Weidel daraus die richtigen Konsequenzen? Ich meine, daß sie das tut, indem sie exakt das hervorhebt, was nun, zumal in Zeiten der Krisenballung, als Herausforderung vor der Partei liege:
Wir als AfD müssen unser sozialpolitisches Profil weiter schärfen, gerade in dem Bereich starke Köpfe einsetzen und prominent machen.
Schon allein, daß einem bei »starke (sozialpolitische) Köpfe« zumindest auf Anhieb maximal eine Handvoll AfD-Politiker einfallen (Jürgen Pohl, René Springer, René Aust, Thorsten Weiß, ???) unterstreicht Weidels Ansatz: Hier ist noch viel Gutes zu tun.
Und das kann explizit im Geiste der parteieigenen Programmatik geschehen. Man erinnere sich nur an die Präambel der Bundesprogrammkommission vom Bundesparteitag in Kalkar aus dem November 2020.
Dort heißt es:
Die AfD bekennt sich zum Sozialstaat, der sozialen Marktwirtschaft und zur Solidarität und gegenseitigen Hilfe innerhalb unseres Volkes.
Auf dieser Basis läßt sich arbeiten – und wird bereits gearbeitet. So hat beispielsweise der Landesverband Berlin auf seinem Parteitag Mitte Oktober einer Resolution zugestimmt, die von den Antragstellern um Thorsten Weiß und Jeannette Auricht eingereicht wurde.
Sie trägt den Titel »Sozial ohne rot zu werden – Für eine positive Sozialpolitik!« und zeigt, daß auch jenseits der ostdeutschen »Provinz« verstärkt soziale und patriotische Anliegen zusammen gedacht werden.
Das ist der richtige Weg, den auch Weidel anspricht: Soziale Programmatik muß stärker ausgearbeitet werden. Dazu müssen die Köpfe hinter dieser Programmatik innerparteilich mehr Gehör finden, damit die Alternative sich auch als glaubwürdige Alternative auf dem politischen Angebotsfeld »vermarkten« kann.
Auf diesem Feld könnte eine Liste Wagenknecht zur Gefahr für die AfD werden, vor allem im Hinblick auf 2024, wenn gleich in drei ostdeutschen Bundesländern gewählt wird.
Schon 2018 skizzierte Wagenknecht in einem bundesweit viel beachteten Interview mit Marc Felix Serrao von der Neuen Zürcher Zeitung ihre persönlichen Schwerpunkte in Fragen der inhaltlichen wie strategischen Ausrichtung.
Es gehe ihr, liest man da, um soziale und innere Sicherheit, Identität, Kultur, Fragen der Gerechtigkeit sowie um Einbettung in ein großes Ganzes, das Schutz vor dem »entfesselten Kapitalismus« bietet, wobei Björn Höcke übrigens ganz ähnlich vom patriotischen Gegenmodell einer »eingebetteten Marktwirtschaft« spricht (zuletzt: hier).
Man kann also konstatieren, daß es – trotz gravierender Unterschiede – große Schnittmengen zwischen Wagenknechts Ideenwelt und der (Ost-)AfD gibt, was die Sorgenfalten vergrößern dürfte. Zugleich kann aber auch Entwarnung gegeben werden: Wagenknecht fehlte und fehlt jedwede aktivistische Basis; das Experiment »Aufstehen« scheiterte kolossal, die Motoren wie Bernd Stegemann sind seitdem politisch verstummt.
Denn es ist auch für Wagenknecht das eine, in Talkshows und auf Podien zu glänzen, formidable Bücher zu schreiben und den politischen Gegner argumentativ in seine Einzelteile zu zerlegen. Es ist aber etwas anderes, eine Partei aufzubauen, Kreis- und Landesverbände zu gestalten, Programme und Satzungen zu erarbeiten, fähiges wie integres Personal zu finden usw., sprich: die Mühen der Ebene zu bespielen.
Dort glänzte Wagenknecht noch nie. Niemand in der Linkspartei, auch nicht ihre Anhänger, würden behaupten, daß Wagenknecht Partei- und Gremienarbeit liege, daß sie die Kärrnerarbeit des Parteiaufbaus beherrschen würde oder ähnliches.
Wagenknecht selbst ahnt diese aufkommenden Probleme einer eigenständigen Parteigründung. In einem gestern Abend ausgestrahlten (obligatorisch tendenziösen) MDR-Exakt-Beitrag spricht sie dazu Klartext (ab Min. 13:45); die Frage nach Sinn und Unsinn der Parteigründung dürfte sie und ihren Ehemann Oskar Lafontaine derzeit einige graue Zellen kosten.
Bliebe noch die Zwischenlösung: eine auf Wagenknecht zugeschnittene, dadurch eher autoritäre Partei ohne den üblichen parteilichen Unterbau mit starker medialer Fokussierung auf die Gründungsperson (vergleichbar der Geert-Wilders-Partei in den Niederlanden). Nur: Das gibt das bundesdeutsche Parteiensystem kaum her.
Von daher bleibe ich bei meinem mehr als drei Jahre alten Fazit aus dem kaplaken-Band Blick nach links, der ja in weiten Teilen eine sowohl inhaltliche als auch strategische Wagenknecht-Analyse darstellt:
Man kann von »rechts« folglich das gesamte Vorhaben Wagenknechts und ihrer Partner jetzt und in den kommenden Jahren, die Linke vor dem neoliberalen Sumpf der »Mitte« und dem antinationalen Habitus des »eigenen Lager« zu retten, entkrampft bewerten:
• Realpolitisch, weil ein eventuelles Antreten einer Liste Wagenknecht keine »französischen« Folgen hätte. Die AfD hätte – bei fortwährender sozialprogrammatischer Profilschärfung – keine herben Verluste zu fürchten, zumal Wagenknechts Formation gegen die Platzhirsche SPD, Linke und Grüne antreten müßte.
• Metapolitisch, weil Wagenknecht und ihre Mitstreiter mit jedem Versuch, ideenpolitisch voranzukommen, einen Schritt näher in unsere Richtung gehen (müssen). Mit jedem dieser Schritte aber werden die vernunftorientierten Linken sukzessive die konzeptlose Verengung des ideenpolitisch Sag- und Tragbaren innerhalb ihres Politkosmos spüren und neue Anfeindungen erfahren.
Denn es ist nicht auszuschließen, daß die Spirale der innerlinken Anti-Wagenknecht-Agitation im Zuge der Konkretisierung des Vorhabens und weiteren Verstößen gegen antifaschistische Verhaltensgebote in offene Abneigung und Haß umschlägt, ja daß die Köpfe der linken Sammlungsbewegung, die zu keiner wirklich solchen wurde, aus der politischen Linken flüchten müssen – ins innere Exil oder in neue politische Strukturen. Erst dann würden die Karten wirklich neu gemischt,
und dann wird dieses Thema tatsächlich zur Wiedervorlage fällig.
Bis dahin gilt es, vor der eigenen Türe zu kehren und die sozialpolitische Profilschärfung ganz oben auf die Tagesordnung aller AfD- und JA-Gliederungen zu setzen. Die Konvergenz der Krisen erlaubt diesbezüglich keine Untätigkeit.
RMH
Sollte es Frau Wagenknecht gelingen, ein paar tüchtige Renegaten aus der Linken, der SPD und den Grünen zu gewinnen, dann wird das Projekt auch ohne Kärrnerarbeit durch sie selber gelingen (es stellt sich die Frage, in wie weit ihr Ehemann noch über gute Kontakte und Netzwerke verfügt, die nutzbar gemacht werden könnten). Denn eines dürfte klar sein: Aktuell ist S. W. ein bisschen medial abgemeldet, erst Corona Kritik, jetzt Nato Kritik, dass wollen die MSM nicht bedienen. Spätestens aber, wenn eine Liste W. der AfD die Butter in den neuen Ländern vom Brot nehmen könnte, werden wir alle erleben:
Stargast bei Anne Will etc. : S. Wagenknecht! Teilnehmer seitens der AfD: nach wie vor Fehlanzeige!
Und da die Liste W. den etablierten Parteien nutzt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie kommen wird, insbesondere wenn Frau W. nicht den Fehler macht, sich mit irgendwelchen obskuren DKP-Kreisen einzulassen.