wie Hartmut Rosa, Andreas Reckwitz, Byung-Chul Han und Robert Pfaller. Was aber kann solch ein Idealleser gerade noch ertragen, wo verlaufen für ihn die »Grenzen des Zumutbaren«?
Flaßpöhlers Buch ist eine elegant geschriebene Motivgeschichte, weniger akademisch als Fritz Breithaupts Studie über Die dunkle Seite der Empathie (2017), aber in der Anlage ähnlich. Vom Aufriß mit Norbert Elias’ Über den Prozeß der Zivilisation – in dem dieser 1939 herausgearbeitet hatte, wie der moderne Mensch seine Sitten und seine Wahrnehmung stetig verfeinerte um den Preis der Triebunterdrückung – über David Hume, Jean-Jacques Rousseau, de Sade, Nietzsche und Ernst Jünger, über Lévinas und Jean Améry bis zu den Dekonstruktivisten Derrida und Judith Butler reicht das Panorama.
Glücklicherweise bleibt Flaßpöhler der Motivgeschichte weitgehend treu, denn die verbreitete Malaise solcher Publikumsbücher ist es, tolle Zitatfunde aktualisierend aneinanderzustückeln. Aktualisierung durchzieht nichtsdestoweniger das Buch – das kann phänomenologisch anregend sein, hingegen müssen nicht jedem Fragen der Art sinnvoll erscheinen, was Hume zu #MeToo wohl gesagt hätte und ob de Sades Figur Juliette emanzipiert gewesen sei.
Versetze ich mich in den idealen Leser von Sensibel hinein, möchte ich annehmen, daß dieser gelegentlich entrüstet sein dürfte. Nicht nur setzt Svenja Flaßpöhler mit Nietzsche die Perspektive der Resilienz in ihr Recht: »Was uns nicht umbringt, macht uns stärker« (Nietzsche), etwas philosophischer formuliert: »Die Wunde ist es, aus der die Kraft erwächst!«
Sondern sie charakterisiert ein (fiktives) männliches Berliner Sensibelchen namens Jan ohne Anzeichen offener Ironie durchaus so, daß der gut durchgegenderte lesende Mitmensch sich verschaukelt vorkommen muß: »Gut und richtig finden beide, daß es der toxischen Männlichkeit nun an den Kragen geht und Frauen vor ihr geschützt werden. Jan und Tine schlafen nicht mehr so oft miteinander wie früher. […] Jan hat dafür, auch wenn er die Berührung und den Sex manchmal vermißt, tiefes Verständnis. […] Als Familie unternehmen sie regelmäßig mit S‑Bahn oder Rad (ein Auto besitzen sie aus ökologischen Gründen nicht) Ausflüge ins Umland, um zu baden oder zu wandern und die Kinder für die Schäden des Klimawandels zu sensibilisieren.«
Die dekonstruktivistische Theorie nimmt Flaßpöhler gegen die aus ihr entstandene political correctness in Schutz – nie wäre bei Derrida und Butler das freie Spiel der Signifikanten und des Begehrens in starre politische Zensurregularien gebannt worden. Mit meines Mannes Verhaltenslehren der Kälte (Helmut Lethen 1994) sympathisiert die Autorin sehr, so daß ihr die von ihm als Panzer der »kalten persona« aufgefaßten Gedanken Ernst Jüngers über den Schmerz und diejenigen von Helmuth Plessner über den Takt streckenweise ungebrochen die Feder führen.
Durch 20.-Jahrhundert-»Coolness« – neuerdings »Resilienz« geheißen – die Hypersensiblen des 21. Jahrhunderts schocken: Flaßpöhlers Bürgerschreckspiele führen sie offenbar zu ihrer Selbstwahrnehmung, mutig gegen den Mainstream-Stachel zu löcken.
Wie in vielen vergleichenden Anordnungen kommen immer beide Seiten in einem ausgleichenden Urteil zusammen: »Unzumutbar ist eine verabsolutierte Resilienz, weil sie die Ansprüche der anderen an sich abprallen läßt. Unzumutbar ist aber auch eine verabsolutierte Sensibilität, weil sie den Menschen als ein verletzliches, schützenswertes Wesen reduziert, das sich nicht selbst zu helfen weiß.« So weit, so zustimmungspflichtig. Wer verabsolutiert schon gern?
Mich interessiert vor allem eine Frage: Welche metapolitische Funktion haben Bücher wie Sensibel? Spricht aus ihnen die Stimme der ausgleichenden Vernunft in einem hypersensiblen, extrem vereinseitigten Diskurs? Läßt dieser sich wieder ins Lot bringen, wenn man die »verabsolutierenden« Extreme markiert? Oder liegt dieser Diskursanomalie ein Machtproblem zugrunde, das Svenja Flaßpöhler nicht erkennt?
Wenn sie »Black Lives Matter«, »Transmenschen« oder die schönen Frauen, die in Weißrußland die Revolution mit Blumen im Haar anführten, für authentische Äußerungen notwendiger Sensibilität hält statt für Bausteine einer Elitenagenda, dann fehlt es ihr entweder an geschärfter (sensibler!) Wahrnehmung, oder sie ist ein gatekeeper (läßt also nur moderate Kritik innerhalb des Systems zu, um dieses zu stabilisieren).
Daß letzteres des Fall sein könnte, deutete sich in dem Talkshow-»Skandal« an, als Flaßpöhler kürzlich bei »Hart aber fair« zu behaupten wagte, die »Corona«-Berichterstattung sei einseitig. Das wird man doch wohl noch sagen dürfen … Die Reaktion der Soziale-Medien-Meute dürfte wiederum ihr Selbstbild bestätigen – hier liegt der interessante Fall vor, daß scheinbares Aufstechen der Blase diese nur um so fester isoliert.
Insgesamt ist das vorliegende Buch in meinen Augen für die Leserschaft der Sezession eher ein Zeitgeistdokument als auf sie zugeschnitten. Kriegt man alte weiße Boomer zu mehr Verständnis für diskursive Ungleichheit, indem man ihnen eine faire Geschichte dieses Motivs zu lesen gibt? Sie sind wohl einfach zu unsensibel.
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Svenja Flaßpöhler: Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des
Zumutbaren, Stuttgart: Klett-Cotta 2021.,
231 S., 20 €
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