Volk, Welt und Überfall

Zum 70. Jahrestag des Weltkriegsbeginns stürzt sich der aktuelle Spiegel mal wieder in die nationalmasochistische Selbstbezichtigungsoffensive: ...

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

… “Der Krieg der Deut­schen” heißt es da auf der Titel­sei­te, und: “Als ein Volk die Welt über­fiel”.  Illus­triert wird das Gan­ze mit einem sug­ges­ti­ven Bild von tumb drein­bli­cken­den Land­sern, die vor bren­nen­den Häu­sern ein­ko­piert wur­den – die übli­chen dem­ago­gi­schen Lügen und Ver­ein­fa­chun­gen, auf­be­rei­tet mit einer Dosis emo­tio­na­ler Auf­put­schung.  Beson­ders per­fi­de ist die Unter­stel­lung, es hät­te im Sep­tem­ber 1939 ein gan­zes “Volk die Welt über­fal­len”.  An die­ser Behaup­tung stimmt weder “die Welt”, noch der “Über­fall”, noch das “Volk”, selbst an den Stan­dards der Main­stream-Geschichts­schrei­bung gemes­sen.  Um nur letz­te­ren Punkt zu kom­men­tie­ren: Tat­sa­che ist, daß es im Sep­tem­ber 1939 im deut­schen Volk nicht den gerings­ten Fun­ken Kriegs­be­geis­te­rung oder Kriegs­wil­len gab.

Das Zeug­nis von Wolf­gang Ven­ohr, damals 14 jah­re alt, ist nur eines unter vielen:

Nie­mand bei uns, weder in der Schu­le noch zu Hau­se oder in der Bekannt­schaft, dach­te an Krieg. Es lie­fen ja bereits die Vor­be­rei­tun­gen für den gro­ßen „Par­tei­tag des Frie­dens“, der im Sep­tem­ber in Nürn­berg fest­lich began­gen wer­den soll­te. Jeder­mann war davon über­zeugt, daß der Füh­rer, der selbst jah­re­lang als ein­fa­cher Sol­dat im Trom­mel­feu­er der West­front gestan­den hat­te, nie­mals einen Krieg zulas­sen wür­de. Aller­dings häuf­ten sich seit Anfang Juli in auf­fäl­li­ger Wei­se die Pres­se­be­rich­te über Ver­fol­gun­gen der Volks­deut­schen in Polen.

Das alles war wie weg­ge­wischt, als im August plötz­lich bekannt wur­de, daß der Füh­rer sich mit Herrn Sta­lin ver­stän­digt habe, daß Deutsch­land und die UdSSR einen Freund­schafts- und Nicht­an­griffs­pakt mit­ein­an­der geschlos­sen hatten. (…)

In der Schu­le fiel zu der Sache kein Wort. Die Sprach­lo­sig­keit war all­ge­mein. Kri­tik, offe­ne, ehr­li­che Kri­tik hör­te ich nur von mei­ner Mut­ter. Ist die­ser Sta­lin denn nicht ein Mas­sen­mör­der, frag­te sie Vater und füg­te hin­zu, erst kürz­lich (…) hät­te er doch erzählt, daß von den Bol­sche­wis­ten min­des­tens 13 Mil­lio­nen Men­schen umge­bracht wor­den sei­en. Vater nick­te. Mut­ter zog die Augen­brau­en hoch: Und mit denen sind wir nun befreundet?

Es änder­te sich nicht all­zu viel, als am 1. Sep­tem­ber 1939 der Polen­feld­zug begann. Das war ein Frei­tag. Bis zum Sonn­tag, dem 3. Sep­tem­ber, sprach über­haupt nie­mand von „Krieg“. Jeder­mann sah im deut­schen Vor­ge­hen gegen Polen eine Art Straf­ak­ti­on, ein zeit­lich und räum­lich begrenz­tes Unternehmen.

Alle glaub­ten an den Spruch „Der Füh­rer wird schon wis­sen, was er tut“ und sahen im Grun­de bereits die nächs­te Kon­fe­renz der Groß­mäch­te vor­aus, die das deutsch-pol­ni­sche Pro­blem eben­so fried­lich lösen wür­de, wie das deutsch-tsche­chi­sche. Erst als am Sonn­tag­nach­mit­tag über Rund­funk bekannt wur­de, Eng­land und Frank­reich hät­ten Deutsch­land den Krieg erklärt, war der all­ge­mei­ne Opti­mis­mus wie mit einem Schla­ge abgestellt.

Erns­tes­te Stim­mung senk­te sich über die Leu­te. Nir­gend­wo gab es Hur­ra-Patrio­tis­mus. Mit die­ser Ent­wick­lung hat­te nie­mand gerech­net. Die Gesich­ter der Men­schen wirk­ten ver­han­gen. Auf ein­mal war die Son­ne unter­ge­gan­gen, und alles erschien in einem düs­te­ren Licht.

Erin­ne­rung an eine Jugend, Mün­chen 1997

Manch­mal, wenn mir wie­der ein­mal vom Cover des Spie­gels die­ser hecheln­de, dümm­li­che, tat­sa­chen­wid­ri­ge Auto­fla­gel­la­ti­ons­fu­ror ent­ge­gen­kreischt, dann packt mich oft eine tie­fe Ver­zweif­lung und Resi­gna­ti­on.  Der Spie­gel ist die BILD-Zei­tung des Mit­tel­stan­des. Wer am lau­tes­ten schreit und dabei am wei­tes­ten Ver­brei­tung fin­det, bestimmt die Wahr­heit. Dage­gen hel­fen kei­ne Ver­nunft, kei­ne Auf­klä­rung, kei­ne Wis­sen­schaft, kei­ne Fak­ten. Gegen die­se Über­macht ist kein Kraut gewach­sen, und der Scha­den, den die­se empö­ren­de, auf­peit­schen­de Dem­ago­gie anrich­tet, ist wohl kaum zu unter­schät­zen. Umso depri­mie­ren­der, daß das Publi­kum gegen die­se Art von Zer­mür­bung und Indok­tri­na­ti­on kaum mehr Wider­stands­kräf­te besitzt.

Ich bin ange­sichts sol­cher Schuld­räu­sche völ­lig fas­sungs­los. Ich fra­ge mich dann oft: War­um? Was ist Sinn und Zweck sol­cher Leit­ar­ti­kel? Was für Teu­fel rei­ten eine Zeit­schrif­ten­re­dak­ti­on, die der­ar­ti­ges ver­ant­wor­tet? Das läßt sich kaum mehr allein poli­tisch erklären.

Als ich vor einem Monat im Zeug­haus-Kino saß, um den NS-Pro­pa­gan­da-Film “Heim­kehr” zu sehen, ergriff mich eine ähn­li­che hilf­lo­se Wut.  Über den Film und sei­nen his­to­ri­schen Hin­ter­grund habe ich aus­führ­lich in die­sem Blog geschrie­ben. Was mich so in Erre­gung ver­setzt hat­te, war die dreis­te Behaup­tung des Vor­tra­gen­den, die dar­in gezeig­ten Über­grif­fe auf Volks­deut­sche in Polen sei­en rei­ne Fiktion.

Auf­ge­wühlt rutsch­te ich in mei­nem Sitz hin und her, und spiel­te ner­vös mit dem Gedan­ken, auf­zu­ste­hen und zu wider­spre­chen. Der gan­ze Saal war voll. Ich spür­te mein Herz hef­tig klop­fen. Ver­mut­lich hät­te ich kei­nen gera­den Satz her­vor­ge­bracht, und wenn, dann hät­te ich ohne Zwei­fel die Wut und Empö­rung aller Anwe­sen­den auf mich gezo­gen, und wäre in der Fol­ge wahr­schein­lich aus dem Kino geschmis­sen worden.

Als der Vor­tra­gen­de am Ende sei­ner Rede um Fra­gen und Anmer­kun­gen bat, hat­te ich natür­lich nicht den Mut, mich zu Wort zu mel­den.  Ein etwa vier­zig­jäh­ri­ger Mann mit ver­mut­lich pol­ni­schem Akzent frag­te, was denn mit den Machern des Films nach dem Krieg gesche­hen sei. Sei­en die denn ein­fach davon­ge­kom­men, wur­den die nicht bestraft? Die Rach­sucht und der Zorn in sei­ner Stim­me waren unüber­hör­bar. Das ist also das Ergeb­nis die­ser Art von Geschichts­päd­ago­gik, eine ein­sei­ti­ge Per­p­etu­ie­rung der Res­sen­ti­ments. Ste­fan Scheil hat die­ses Vor­ge­hen ein­mal auf die­se For­mel gebracht:

Hier soll „Ver­söh­nung“ offen­bar in gemein­sa­mer Ableh­nung der Deut­schen von 1939 durch Polen und Deut­sche von 2009 stattfinden.

Es liegt auf der Hand, daß das so nicht funk­tio­nie­ren kann, und wenn, dann nur zum Nach­teil der Deutschen.

Zum Abschluß noch auf Nach­fra­ge eine klei­ne Lis­te von Büchern zur Lage der Volks­deut­schen in Polen zwi­schen 1919–1939, deren Kennt­nis ich größ­ten­teils Herrn Dr. Scheil ver­dan­ke. Es han­delt sich dabei um ein immer noch spär­lich erforsch­tes Gebiet, das wohl einem weit­aus grö­ße­ren Tabu unter­liegt als die Ver­trei­bun­gen nach 1945. Hier also die Bücher, in die ich Ein­sicht hatte:

* Hugo Ras­mus: Pom­me­rel­len, West­preu­ßen: 1919 – 1939, Mün­chen 1989
* Hugo Ras­mus: Schat­ten­jah­re in Potu­litz 1945. Schick­sal in pol­ni­schen Inter­nie­rungs­la­gern, Müns­ter 1995 (auch zur Lage vor 1939)
* Theo­dor Bier­schenk: Die deut­sche Volks­grup­pe in Polen, 1934 – 1939,  Kit­zin­gen 1954
* Der Tod sprach pol­nisch: Doku­men­te pol­ni­scher Grau­sam­kei­ten an Deut­schen 1919–1949, Arndt-Ver­lag 1999 (hat einen rei­ße­ri­schen Titel, ent­hält aber vor allem poli­zei­li­che Unter­su­chun­gen unmit­tel­bar nach 1939. Davon liegt noch eine Men­ge unbe­ar­bei­te­tes Mate­ri­al im Bundesarchiv.)
* Otto Hei­ke: Leben im deutsch-pol­ni­schen Span­nungs­feld : Erin­ne­run­gen und Ein­sich­ten eines deut­schen Jour­na­lis­ten aus Lodz, Mag­de­burg 1989/2002
* Otto Hei­ke: Das Deutsch­tum in Polen 1918–1939, Bonn 1955

und der “Klas­si­ker”:
* Carl J. Bur­ck­hardt: Mei­ne Dan­zi­ger Mis­si­on 1937–39

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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