Manfred Osten: Die Welt »ein großes Hospital«

von Jörg Seidel

 

Manfred Osten durchforstet seit Jahren das Werk Goethes nach Anknüpfungspunkten für die Jetztzeit.

Am Beginn stand das Goe­the­sche Zau­ber­wort »alles velo­zi­fe­risch«, mit des­sen Hil­fe er des Klas­si­kers wenig bekann­te Kri­tik der all­ge­mei­nen Akze­le­ra­ti­on und Goe­thes Ent­de­ckung der Lang­sam­keit (2013) reak­tua­li­siert hatte.

Dann wand­te er den Dich­ter an, um Das geraub­te Gedächt­nis (2018) durch die digi­ta­le »Zer­stö­rung der Erin­ne­rungs­kul­tur« offen­zu­le­gen. Zuletzt dien­te der Meis­ter dazu, moder­ne Glücks­the­ra­pien zu begrün­den. Nun legt er einen Band über Goe­thes Aktua­li­tät in Pan­de­mie­zei­ten vor, kun­dig, sach­lich und pedan­tisch wie immer.

Das Velo­zi­fe­ri­sche, das zu Schnel­le, das des Teu­fels ist, ist noch immer der Aus­gangs­punkt. Es wird mit der pro­phe­ti­schen Dia­gno­se kon­fron­tiert – aus einem Brief an Frau von Stein –, »daß die Welt ein gro­ßes Hos­pi­tal und einer des ande­ren huma­ner Kran­ken­wär­ter sein wird«. Die Seu­che ent­puppt sich damit als Parallel­aktion, wenn nicht als Ergeb­nis des Veloziferischen.

Die Men­schen – das alles steht bei ­Goe­the – sind durch »Erleich­te­run­gen« geschwächt und anfäl­lig, sie bedür­fen des Immu­ni­täts­trai­nings, sind ande­rer­seits aber auch aus »ein­fa­che­ren Tie­ren« zusam­men­ge­setzt, leben also qua­si­sym­bio­tisch mit Viren. Sie müß­ten den »Weg zur immu­ni­tä­ren Siche­rung des Lebens wäh­len«, vor allem durch Übung, Ver­sa­gen und intel­li­gen­te Mäßi­gung, durch »Selbst­ver­bes­se­rung«, »Selbst­dis­zi­pli­nie­rung« und das Besie­gen der Angst, die ein wesent­li­cher Trei­ber der fata­len habi­tu­el­len Immun­schwä­che und des Ver­lus­tes der Har­mo­nie des moder­nen Men­schen sei. Alles hochaktuell!

Aber Goe­the ist nicht nur The­ra­peut, er hat als Dia­gnos­ti­ker auch die wesent­li­chen Sym­pto­me unse­rer Krank­heit schon gese­hen. Bei Osten ist er eben­so »der ers­te Öko­lo­ge« wie der War­ner vor dem Ver­lust der Mut­ter­spra­che oder der Pro­phet des Medi­en­zeit­al­ters, der neu­en Gren­zen­lo­sig­keit, des Kli­ma­wan­dels, ja sogar neu­ro­wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se, der Infla­ti­ons­lo­gik und der »Schul­den­akro­ba­tik«. Und Osten hat recht – lest Goe­the! –, auch wenn sei­ne Kon­klu­sio­nen mit­un­ter etwas kon­stru­iert wirken.

Er führt im Grun­de das Pro­jekt Hans Chris­toph Bins­wan­gers (Geld und Magie) fort und wei­tet es the­ma­tisch aus, wenn auch kur­so­ri­scher, ris­kiert aber nicht den Wesens­blick, wie ihn etwa Hans Lei­se­gang (Goe­thes Den­ken), die bei­den Anthro­po­so­phen Ernst Lehrs (Mensch und Mate­rie) und Wolf­gang Schad (Goe­thes Welt­kul­tur) oder Hen­ri Bor­toft in sei­ner bahn­bre­chen­den Stu­die The Who­len­ess of Natu­re gewagt hat­ten; er führt die Beob­ach­tun­gen an, nicht das Beob­ach­ten, das Gese­he­ne, aber nicht Goe­thes ein­zig­ar­ti­ges Sehen. Daher scheint Slo­ter­di­jks Wür­di­gung – er schrieb das Nach­wort –, Osten sei der »Biblio­the­kar des Goe­the­schen savoir viv­re«, äußerst treffend.

Der Groß­den­ker geht dann den wei­te­ren, den abs­trak­te­ren Weg. Er spannt in sei­ner unnach­ahm­li­chen Art auf zehn dich­ten Sei­ten den Bogen vom »the­ra­peu­ti­schen Uto­pis­mus« als letz­ter kri­tik­re­sis­ten­ter Uto­pie­form über die Ent­de­ckung des Begrif­fes der »Ent­frem­dung« bei Fich­te und des­sen kata­stro­pha­len Fol­gen einer Rück­be­sin­nung auf stoi­sche Moti­ve einer »all­ge­mei­nen Aske­to­lo­gie« – nicht erst seit Fou­cault, son­dern eben seit Goe­the, der soge­nann­ten Goe­the-­Zeit, in der ein viel­fäl­ti­ger »anthro­po­lo­gi­scher Prag­ma­tis­mus« herrsch­te – bis hin zu den tra­gen­den his­to­ri­schen Welt­me­ta­phern (Welt als Buch, Schlacht­feld, Are­na, Schu­le), denen Goe­the die heu­te beson­ders evi­den­te, aber bis­lang kaum bemerk­te des »Hos­pi­tals« hin­zu­ge­fügt hat.

Es loh­ne sich, die »wenig besuch­te Biblio­thek« der dama­li­gen »Lebens­kunst­li­te­ra­tur« neu zu erschlie­ßen, und Man­fred Osten sei ihr »kun­digs­ter Bibliothekar«.

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Man­fred Osten: Die Welt »ein gro­ßes Hos­pi­tal«. Goe­the und die Erzie­hung des Men­schen zum »huma­nen Kran­ken­wär­ter«, Göt­tin­gen: Wall­stein 2021. 160 S., 18 €

 

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