Am Beginn stand das Goethesche Zauberwort »alles veloziferisch«, mit dessen Hilfe er des Klassikers wenig bekannte Kritik der allgemeinen Akzeleration und Goethes Entdeckung der Langsamkeit (2013) reaktualisiert hatte.
Dann wandte er den Dichter an, um Das geraubte Gedächtnis (2018) durch die digitale »Zerstörung der Erinnerungskultur« offenzulegen. Zuletzt diente der Meister dazu, moderne Glückstherapien zu begründen. Nun legt er einen Band über Goethes Aktualität in Pandemiezeiten vor, kundig, sachlich und pedantisch wie immer.
Das Veloziferische, das zu Schnelle, das des Teufels ist, ist noch immer der Ausgangspunkt. Es wird mit der prophetischen Diagnose konfrontiert – aus einem Brief an Frau von Stein –, »daß die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter sein wird«. Die Seuche entpuppt sich damit als Parallelaktion, wenn nicht als Ergebnis des Veloziferischen.
Die Menschen – das alles steht bei Goethe – sind durch »Erleichterungen« geschwächt und anfällig, sie bedürfen des Immunitätstrainings, sind andererseits aber auch aus »einfacheren Tieren« zusammengesetzt, leben also quasisymbiotisch mit Viren. Sie müßten den »Weg zur immunitären Sicherung des Lebens wählen«, vor allem durch Übung, Versagen und intelligente Mäßigung, durch »Selbstverbesserung«, »Selbstdisziplinierung« und das Besiegen der Angst, die ein wesentlicher Treiber der fatalen habituellen Immunschwäche und des Verlustes der Harmonie des modernen Menschen sei. Alles hochaktuell!
Aber Goethe ist nicht nur Therapeut, er hat als Diagnostiker auch die wesentlichen Symptome unserer Krankheit schon gesehen. Bei Osten ist er ebenso »der erste Ökologe« wie der Warner vor dem Verlust der Muttersprache oder der Prophet des Medienzeitalters, der neuen Grenzenlosigkeit, des Klimawandels, ja sogar neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, der Inflationslogik und der »Schuldenakrobatik«. Und Osten hat recht – lest Goethe! –, auch wenn seine Konklusionen mitunter etwas konstruiert wirken.
Er führt im Grunde das Projekt Hans Christoph Binswangers (Geld und Magie) fort und weitet es thematisch aus, wenn auch kursorischer, riskiert aber nicht den Wesensblick, wie ihn etwa Hans Leisegang (Goethes Denken), die beiden Anthroposophen Ernst Lehrs (Mensch und Materie) und Wolfgang Schad (Goethes Weltkultur) oder Henri Bortoft in seiner bahnbrechenden Studie The Wholeness of Nature gewagt hatten; er führt die Beobachtungen an, nicht das Beobachten, das Gesehene, aber nicht Goethes einzigartiges Sehen. Daher scheint Sloterdijks Würdigung – er schrieb das Nachwort –, Osten sei der »Bibliothekar des Goetheschen savoir vivre«, äußerst treffend.
Der Großdenker geht dann den weiteren, den abstrakteren Weg. Er spannt in seiner unnachahmlichen Art auf zehn dichten Seiten den Bogen vom »therapeutischen Utopismus« als letzter kritikresistenter Utopieform über die Entdeckung des Begriffes der »Entfremdung« bei Fichte und dessen katastrophalen Folgen einer Rückbesinnung auf stoische Motive einer »allgemeinen Asketologie« – nicht erst seit Foucault, sondern eben seit Goethe, der sogenannten Goethe-Zeit, in der ein vielfältiger »anthropologischer Pragmatismus« herrschte – bis hin zu den tragenden historischen Weltmetaphern (Welt als Buch, Schlachtfeld, Arena, Schule), denen Goethe die heute besonders evidente, aber bislang kaum bemerkte des »Hospitals« hinzugefügt hat.
Es lohne sich, die »wenig besuchte Bibliothek« der damaligen »Lebenskunstliteratur« neu zu erschließen, und Manfred Osten sei ihr »kundigster Bibliothekar«.
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Manfred Osten: Die Welt »ein großes Hospital«. Goethe und die Erziehung des Menschen zum »humanen Krankenwärter«, Göttingen: Wallstein 2021. 160 S., 18 €
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