Die Suche nach Kippfiguren führt zu Robert Gernhardt. Der hatte 1986 unter diesem Titel einen seitdem immer wieder aufgelegten Band mit Erzählungen herausgebracht.
Die Geschichten behandeln Beziehungskonstellationen, die plötzlich durch eine Kleinigkeit, ein Wort, eine Geste, eine hinzutretende Person kippen, so daß der ursprünglich als logisch angenommene Verlauf der Begebenheit unterbrochen wird und sich die Geschichte ganz anders weiterentwickelt als ursprünglich angenommen.
Hinzu kommt bei Gernhardts Geschichten der humorige Aspekt, da immer Alkohol im Spiel ist, also etwas »gekippt« wird. (1) Das ist naheliegend: Unter Alkoholeinfluß kippen Situationen leichter, denn Wahrnehmung und Auftreten, Stimmung und Logik verändern sich. Dieses »Kippen« hat meist negative Folgen: Wäre man nüchtern, blieben Dinge ungesagt, die eine Situation eskalieren lassen können. Der Rausch steht ja nicht ohne Grund in dem Ruf, den Berauschten die Wahrheit sagen zu lassen, weil er sich seiner Hemmungen und der Konventionen entledigt hat. »Im Wein ist Wahrheit« – was nach Ernst Jünger nicht bedeutet, daß er die Wahrheit enthalte. »Das Wort meint eher, daß er etwas gewahren läßt, das immer und außer ihm gegenwärtig ist. Der Wein ist ein Schlüssel – das Gegenwärtige wird zum Eintretenden.« (2)
Daß diese Wahrnehmungserweiterung auch ohne Rauschmittel funktioniert, kennen wir aus anderen literarischen Schilderungen. Die Erzählung »Benito Cereno« von Herman Melville spielt ebenfalls mit diesem Moment des Kippens. Der naiv-selbstbewußte Amerikaner, den Melville als Kapitän eines Walfängers auftreten läßt, ist davon überzeugt, daß die Menschen gut sind und daß man ihnen ansieht, was sie sind. Allein die Tatsache, so Melville, daß das fremde Schiff, das die Aufmerksamkeit des Kapitäns auf sich zieht, keine Flagge zeigt, »hätte sich bei Kapitän Delano leicht zu einem unbehaglichen Gefühl vertiefen können, wenn er nicht als ein von Natur gutartiger, allen Mißtrauens abholder Mensch, ganz außerstande gewesen wäre, sich persönlich beunruhigen zu lassen, was immer darauf hinausläuft, daß man bei seinen Mitmenschen Bosheit und Tücke voraussetzt«. (3)
Allerdings wird Delano in dieser Geschichte eines Besseren belehrt, nichts scheint, wie es ist. Das erwähnte Schiff, ein spanischer Sklavenhändler, ist in schlechtem Zustand und kann sich nur mit Delanos Hilfe in den Hafen retten. Der Kapitän macht einen depressiven Eindruck, sein Diener Babo weicht ihm nicht von der Seite, die Mannschaft geht sinnlosen Tätigkeiten nach. Der Amerikaner registriert diese und andere Merkwürdigkeiten, ordnet sie aber in sein Weltbild ein. Etwas anderes anzunehmen und aufgrund der Unstimmigkeiten sein Weltbild zu ändern, fällt ihm nicht ein. Erst als die Situation kippt, bemerkt er, daß alles ganz anders ist. »In diesem Augenblick zuckte durch Kapitän Delanos allzu lang verblendeten Geist der Blitz der Erkenntnis und ließ ihn in unvorhergesehener Klarheit das ganze geheimnisvolle Verhalten seines Gastfreunds durchschauen, samt allem Rätselhaften des Tages«. (4)
Der spanische Kapitän war die ganze Zeit Geisel der meuternden Sklaven und gezwungen, das Spiel mitzuspielen, wofür Babo, der bewaffnete Anführer der Sklaven, sorgte, indem er ihm nicht von der Seite wich. Die Kippfigur ist in der Geschichte der amerikanische Kapitän, der den Menschen besser kennengelernt hat und in Zukunft wohl etwas mißtrauischer durch die Welt gehen wird.
Diese Lektion, die in jeder wesentlichen Biographie einen Wendepunkt markiert, ist für das weitere Verständnis der Kippfigur wichtig, weil sie im Gegensatz zum alkoholisierten Kippen nachhaltig wirkt und das Verantwortungsbewußtsein weckt und stärkt, während es der Betrunkene verliert.
Kippen heißt, die gewohnte Annahme aufzugeben und die Dinge neu zu bewerten. In gesellschaftlichen und politischen Fragen heißt das nichts anderes, als die Seite zu wechseln. Die Betrachter, die jemanden kippen sehen, hoffen je nach ihrem eigenen Standpunkt auf ganz unterschiedliche Folgen. Das neue Umfeld wird alles daran setzen, daß der zu ihnen Herübergekippte endgültig dort bleiben möge, wo man sich auf der wacheren, der reiferen Seite wähnt. Das alte Umfeld hingegen dürfte hoffen, der Gekippte möge zurückkippen und wieder ganz der alte sein.
So geschieht es nicht selten: Die eingeschliffenen Wege der Weltbetrachtung sind eben oftmals zu glatt, als daß das eine Erlebnis genügen würde, sein Leben zu ändern. Hinzu kommt, daß die Umwelt genau registriert, wenn jemand vom Weg abweicht, und alles unternimmt, um ihn wieder in die Spur zu setzen. Die Mittel dazu lassen sich auf die zwei klassischen Instrumente der Erziehung zurückführen: Bestrafen und Belohnen. Angewandt werden sie nicht nur im jeweils in Frage kommenden Referenzrahmen, sondern oft auch darüber hinaus. Der Politiker, der gekippt ist, wird nicht nur öffentlich bearbeitet, sondern auch privat, was oftmals viel effektiver ist, weil wir dem privaten Leben nicht entgehen können, dem öffentlichen schon.
Robert Gernhardt hat seinen eingangs erwähnten Geschichten eine Definition vorangestellt, die aus einem Lexikon der Psychologie stammt. Demnach ist eine Kippfigur eine Figur, »die spontan oder je nach Zentrierung der perspektivischen Betrachtungsweise in ihrer wahrgenommenen raumbildlichen Gestalt oder in ihren Figur-Grund-Verhältnissen ›umschlagen‹ kann«. (5) Die bekannteste Form dieser Figur sind die Wechselbilder, die entweder mittels optischer Täuschung zwei Gesichter in einem verbergen (zum Beispiel eine alte und eine junge Frau) oder die, auf den Kopf gestellt, das Gegenteil von dem offenbaren, was man in der ersten Ansicht wahrnehmen konnte (Perspektivenwechsel).
Diese als Umkehrbilder oder Wendeköpfe bezeichneten Kunstwerke, meist Porträts, sind eigentlich zwei Bilder in einem, von denen jeweils eins auf dem Kopf steht, wie das bei einer Spielkarte der Fall ist. »Gerade für Zwecke der polemischen Bild-Propaganda, zur visuellen Artikulation einer politischen Aussage, bietet sich ein solches Wechselspiel an. Wendet sich das Blatt, so wird aus Garibaldi Stalin, aus John Bull ein Spanier, und der polnische General Jaruzelski kippt um zum sinistren Kollegen Pinochet. Die Polarisierung hat Methode: Aus Schein wird Sein, aus dem falschen wird das wahre oder vermeintlich wahre Bild, die Entlarvung.« (6) All das ist getreu dem Motto von Baltasar Gracián: »Die Dinge der Welt muß man sämtlich verkehrt herum betrachten, damit man sie richtig sieht.« (7)
Für die politische Sphäre liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Wer alle Dinge erst einmal auf den Kopf stellt, wird vielleicht ein guter Erkenntnistheoretiker, aber er wird praktisch nicht viel bewirken können, schon gar nicht einen Staat lenken. Dennoch bleibt auch in der Politik der Perspektivenwechsel eine Möglichkeit, sich auf eine neue Situation einzustellen oder neue Ansichten zu gewinnen. Als herausragendes Beispiel für eine solche Haltung, die man pragmatisch nennen könnte, gilt nicht ohne Grund Bismarck. Er mußte sich deshalb immer wieder der Prinzipienlosigkeit zeihen lassen.
1887 antwortete er im Reichstag folgendermaßen auf entsprechende Vorwürfe, die zuvor von Rudolf Virchow geäußert worden waren: »Der Herr Vorredner hat mir, wie so oft und so mancher, namentlich aus seiner Partei, Mangel an Konsequenz vorgeworfen. Ja, Konsequenz für einen Politiker, für einen Staatsmann ist um so leichter, je weniger politische Gedanken er hat. Wenn er nur einen hat, ist es Kinderspiel, und wenn er den immer wieder vorbringt, so ist er der Konsequenteste […]. Jemand, der die Situationen und die Fragen, mit denen er sich zu beschäftigen hat, an jedem Tage, in jedem Jahre wiederholt wechseln sieht, kann unmöglich unter verschiedenen Umständen immer dasselbe tun«. (8)
Die Argumentation Bismarcks ist zweischneidig. Zum einen ist klar, daß neue Situationen neue Lösungen erfordern. Das klingt einsichtig und ist gegen jede Art von Dogmatik gerichtet. Die Kehrseite ist aber die bereits erwähnte Prinzipienlosigkeit. In einer Situation alle hergebrachten Überzeugungen über Bord zu werfen läßt automatisch die Frage aufkommen, ob dieser Preis nicht zu hoch ist und wozu Überzeugungen dann überhaupt gut sind. Da über die Bewertung einer Situation nie Einigkeit herrschen wird, kann diese in der Regel auch nicht über das Resultat des Handelns hergestellt werden. Wer seine Überzeugungen über Bord wirft, muß gute Gründe haben. Meistens wird er auf den Erfolg der Maßnahme verweisen, um das Abweichen von der Generallinie zu rechtfertigen. Aber im staatlichen Handeln bleibt Erfolg umstritten, selbst wenn er die Sicherung der Existenz des Staates und des Volkes nach außen betrifft.
Um auf Bismarck zurückzukommen: Es ist nicht verwunderlich, daß dieser im rückblickenden Vergleich mit seinen Konkurrenten erfolgreichste Politiker auch derjenige ist, der am häufigsten als Kippfigur wahrgenommen wurde. Innenpolitisch wußte Bismarck durch seine Volten, sei es bei der Einführung der Zivilehe oder der Durchsetzung der Sozialversicherungsgesetzgebung, sowohl Gegner als auch Anhänger zu verblüffen. Sein langjähriger Förderer, der altkonservative Ernst Ludwig von Gerlach, zog bei der Zivilehe eine rote Linie, die nicht hätte überschritten werden dürfen, wenn man den Staat nicht an die Stelle Gottes setzen wollte. Noch beim frühen Bismarck findet sich diese Form der Gesinnungsethik in vielen Reden, in denen er vor der Beliebigkeit warnt, die folge, wenn man das sichere Fundament des Christentums verlasse.
Ernst Ludwig von Gerlach hatte aufgrund seiner Prinzipien bereits den Krieg gegen Österreich abgelehnt, den er als einen Verstoß gegen die verbürgten Rechte der von Gott herrschenden Fürsten betrachtete. In seiner Wahrnehmung war Bismarck ins Lager der Fortschrittler gekippt, die den Nationalstaat vergötterten und dafür sorgten, daß das Band zwischen König und Volk zerriß. Aus dieser öffentlich geführten Debatte hat sich bis in unsere Zeit das Argument hinübergerettet, daß Preußen mit der Reichseinigung von 1871 seine Prinzipien verraten habe. Auch wenn damit heute nur gemeint ist, daß es ein einiges Deutsches Reich nie hätte geben dürfen, weil man diesem das ganze Elend des 20. Jahrhunderts zurechnet, war schon damals klar, daß die Symbiose von Nationalstaat und Massenzeitalter Konsequenzen für die überlieferte Art zu leben haben würde.
Liegt es für die Phase der Reichseinigung nahe, der Kippfigur Bismarck den größten Anteil am Fortgang der Geschichte zuzubilligen, wird man in einer früheren Phase eher das Kippen der Lage selbst als den Beschleuniger wahrnehmen müssen. Die 1806 gegen Napoleon erlittene Niederlage Preußens führte bei zahlreichen Personen dazu, die Lage neu zu beurteilen, und schob andere, die schon lange zu einer anderen Lagebeurteilung gekommen waren, in Spitzenpositionen des preußischen Staates.
Die auch als Revolution bezeichneten Stein-Hardenbergschen Reformen führten zum Wiedererstarken Preußens, wurden aber auch als Entfesselung der Fliehkräfte des Fortschritts betrachtet. Friedrich August Ludwig von der Marwitz ist mit seiner Lebuser Denkschrift von 1811 als scharfer Kritiker der Reformen hervorgetreten. Marwitz konnte dem Kippen spätestens dann nichts mehr entgegensetzen, als sich sein König 1813 dazu entschied, das Volk gegen Napoleon zur Hilfe zu rufen (und sich damit den Forderungen der Zeit unterwarf).
Die Doppeldeutigkeit der Kippfigur schlägt sich noch in einer Begebenheit nieder, die ebenfalls im Zusammenhang mit dem erwähnten Marwitz steht. Dieser hatte seinem Onkel in der Kirche von Friedersdorf den Grabstein mit der bekannten Inschrift gesetzt: »Johann Friedrich Adolph / sah Friedrichs Heldenzeit / und kämpfte mit ihm / in allen seinen Kriegen / Wählte Ungnade / wo Gehorsam nicht Ehre brachte.« Der Satz bezieht sich auf eine Begebenheit aus dem Siebenjährigen Krieg, den Marwitz als Oberst mitmachte und dem Friedrich der Große das königlich-sächsische Jagdschloß Hubertusburg, verbunden mit dem Befehl, es auszuplündern, schenkte. Marwitz verweigerte die Ausführung mit der Begründung: »Weil sich dies allenfalls für Offiziere eines Freibataillons schicken würde, nicht aber für den Kommandeur Seiner Majestät Gensdarmes!« (9)
Auch wenn die Geschichte historisch nicht verbürgt ist, macht sie jedoch eine Voraussetzung für eine Kippfigur deutlich: eine Situation, eine Lage, die völlig unterschiedlich beurteilt wird und daher eine andere als die erwartete Handlung zur Folge hat. Niemand wäre überrascht gewesen, wenn Marwitz den Befehl ausgeführt hätte, so wie es ein anderer nach ihm tat. Der König war entsprechend überrascht, weil er nicht auf die Idee gekommen war, daß der Oberst aus der Rolle fallen würde. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Sicher ist aber, daß sich Marwitz einem höheren Prinzip verpflichtet fühlte, das er verletzt sah. Bis zu diesem Zeitpunkt scheint es diesen Konflikt in seinem Leben nicht gegeben zu haben, so daß dieser Widerspruch bislang nicht zum Tragen gekommen war.
Daraus läßt sich schlußfolgern, daß jede Kippfigur einen solchen Moment benötigt, in dem auf einmal gegen die Grundüberzeugungen so verstoßen wird, daß man es nicht mehr ignorieren kann. Es muß nicht immer ein Moment, es kann auch ein schleichender Prozeß sein, bei dem am Ende die Entfremdung und das Kippen stehen. Bei Marwitz wurde daraus keine Opposition, sondern es ging ihm nur um diesen einen Punkt; sobald er überstanden war, stellte er sich wieder ins Glied und hoffte, daß ihm der König wieder irgendwann gnädig sein würde.
Heute sind selbst solche lichten Momente selten geworden, da im Zweifel nicht nur keine Karriere mehr folgt, sondern der gesellschaftliche Tod. Das hat seinen Grund: »In den Aristokratien besitzen die Menschen oft eine ihnen eigentümliche Größe und Stärke. Stehen sie mit der Mehrzahl ihrer Mitmenschen in Widerspruch, so ziehen sie sich zurück, finden in sich selber Halt und Trost. In den demokratischen Völkern verhält es sich anders. Dort erscheint die öffentliche Gunst ebenso nötig, wie die Luft, die man atmet, und mit der Masse nicht im Einklang zu sein, heißt sozusagen nicht leben.« (10)
So kann es in Zeiten, die von manipulativen Massenmedien und politischen Beutegemeinschaften geprägt sind, nicht wie bei Marwitz beim momentanen Kippen bleiben, sondern man wird ab einem Punkt gezwungen, ganz zu kippen. Also überlegt man sich das lieber einmal mehr, zumal die Berufung auf abweichende persönliche Überzeugungen einen nicht retten wird, da diese in einer demokratischen Gesellschaft suspekt sind. Die öffentliche Resonanz macht zudem jede Konsequenz zu einer Frage der Gesichtswahrung für denjenigen, von dem weggekippt wurde. Wer sich heute aus der Deckung wagt, wird nicht nur von seinen Vorgesetzten gemaßregelt, sondern von allen möglichen Lautsprechern in Szene gesetzt, so daß es kaum ohne persönlichen Schaden abgeht. Die Sache wird also mit zunehmender Demokratisierung der Gesellschaft unwahrscheinlicher.
Dafür bietet das demokratische Zeitalter andere Möglichkeiten des Kippens, die sich diese Gegebenheiten zunutze machen. Der Zeitgeist, gepaart mit der Aussicht auf Macht, ist mittels Dominoeffekt in der Lage, den ganzen Staat zu einer Kippfigur zu machen. Das kann schleichend passieren oder schlagartig, am Ende finden wir eine neue Situation vor.
Dieses Kippen von Situationen hat es in Deutschland seither mehrfach gegeben. Wenn wir von den Umgestaltungen nach den verlorenen Weltkriegen absehen, die auf äußeren Druck geschahen und das ganze Land zum Kippen brachten, bleiben die inneren Umwälzungen von 1933 und 1968 interessant, weil sie letztlich einer Dynamik folgten, die auf der Entfesselung des Sozialen beruhte: »Das Soziale ist somit der Raum, der sowohl ›allgemein‹ als auch ›öffentlich‹ ist: der Raum, in dem die ›soziale Frage‹ aufgeworfen wird und die ›soziale Revolution‹ stattfindet, die Machtergreifung derer, die die soziale Frage propagieren und sich ihre Lösung vorbehalten.« (11)
Die Machtübernahme steht in beiden Fällen in Zusammenhang mit dem Bemühen, diese auf Dauer zu stellen, indem die Sicht der Dinge, die gewonnen hat oder sich anschickt, es zu tun, als die einzig mögliche etabliert wird. Was im Vorfeld, bevor es ernst wurde, als ein intellektueller Wettkampf erscheinen mochte, in dem es nicht darauf ankam, dauerhaft in ein Lager kippen zu müssen, das wurde mit zunehmender Verfestigung der Macht anders. Jünger, der mit seinem Arbeiter durchaus eine Apologie des Staates der totalen Mobilmachung geschrieben hatte, ging auf Distanz, als die Sache Wirklichkeit wurde und das Instrument in den falschen Händen lag. Die apodiktische Natur einer These, über die sich streiten läßt, wurde durch die Wirklichkeit überholt, in der diese These absolute Gültigkeit beanspruchte.
Die Niederlage von 1945 war total, die Besatzungsmächte bestimmten die politischen Gegebenheiten – wer wieder mitmachen wollte, mußte Kippen. Der Alliierten taten viel dafür, dieses Kippen nachhaltig zu gestalten, indem sie insbesondere den wissenschaftlichen und den politischen Nachwuchs entsprechend trainierten, was zur völligen Veränderung Deutschlands, zur eigentlichen geistig-moralischen Wende führte. Die Umgestaltung der 1960er Jahre konnte an die Reeducation anschließen, und weil sie ohne äußeren Druck geschah, ist sie für jede Umgestaltung Vorbild geblieben. Im Grunde ging es aber nur darum, das öffentliche Kippen von 1945 in ein inneres, wirkliches Kippen, eines ohne inneren Vorbehalt, umzuformen. Aufgrund des zweistufigen Verfahrens war das Unternehmen äußerst erfolgreich. Eine vergleichbare Verinnerlichung von gesellschaftlichen Normen hat es nie zuvor in einem so kurzen Zeitraum gegeben.
Auch der DDR ist das, aus unterschiedlichen Gründen, nicht gelungen. Deshalb kippte das Land in kürzester Zeit der attraktiven Möglichkeit des westlichen Weges entgegen, als es die Gelegenheit dazu hatte. Die Kippfiguren, die im Herbst 1989 auftraten, versuchten mit zerknirschten Zugeständnissen die Situation zu retten: »Von der in der nächsten Woche angesetzten Tagung des Zentralkomitees der SED werden nun eindeutige und mit Substanz erfüllte Aussagen erwartet. Auch ein Bekennen zur Verantwortung und zu den Ursachen des Geschehenen mit entsprechenden personellen Konsequenzen. […] Hunderttausende Kommunisten, die ehrlich und aktiv gearbeitet haben, erwarten einen klaren Kurs.« (12)
Das Ziel dieser Kippfiguren war eindeutig: Retten, was zu retten ist. Für eine andere Kippfigur offenbarte der Zusammenbruch der DDR die Möglichkeit, zur historischen Persönlichkeit zu werden. Helmut Kohl mußte dazu nur ins Lager derjenigen kippen, die den Gedanken an eine Wiedervereinigung der deutschen Reststaaten nicht aufgegeben hatten.
Der in der Bundesrepublik herrschende Zeitgeist hat sich von diesem Ereignis nicht beeindrucken lassen. Wer damals Morgenluft gewittert und seine Hoffnungen auf Kippfiguren aus dem Establishment gesetzt hatte, die den Menschen die Augen öffnen würden, sah sich bald enttäuscht. Als in der Folge die Lücke zwischen der Realität, in der die Deutschen leben müssen, und den Worten, in die ihre politischen Vertreter sie kleiden, immer größer wurde, fanden sich immer wieder neue Kippfiguren, die Hoffnungen weckten. Erfüllen konnten sie diese nie. Entweder, weil sie sich nicht mehr in der Position dazu befanden, oder weil die Konsequenzen sie zurückschrecken ließen. Alles Kippen blieb dem Ernst der Lage unangemessen, blieb Spiel der Befindlichkeiten – so wie bei Robert Gernhardt.
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(1) – Robert Gernhardt: Kippfigur. Erzählungen, Frankfurt a. M. 1986.
(2) – Ernst Jünger: Annäherungen. Drogen und Rausch, Stuttgart 1970, S. 120.
(3) – Herman Melville: »Benito Cereno«, in: ders.: Billy Budd und andere Geschichten, Hamburg 1948, S. 266.
(4) – Melville: »Benito Cereno«, S. 334.
(5) – Gernhardt: Kippfigur, S. 5.
(6) – Herbert Pfeiffer: Wende-Köpfe. Von der Kunst der drehbaren Bilder, Frankfurt a. M. / Leipzig 1993, S. 7.
(8) – Bismarck.Reden und Gespräche, hrsg. von Fritz Weißkirchen, Paderborn 1957, S. 64
(7) – Pfeiffer: Wende-Köpfe, S. XI.
(9) – Edgar Meyer-Karutz: »Ein Grabstein in der Mark«, in: Die Mark Brandenburg, Heft 119, S. 2 – 5.
(10) – Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, München 1976, S. 790.
(11) – Hanno Kesting: Herrschaft und Knechtschaft. Die »soziale Frage“ und ihre Lösungen, Freiburg i. Br. 1973, S. 19.
(12) – Markus Wolf: Rede am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, unter: www.dhm.