Guérot ist Politikwissenschaftlerin und lehrt seit 2021 als Professorin in Bonn. Hauke Ritz ist promovierter Philosoph und beschäftigt sich vor allem mit Außen- und Friedenspolitik. Wer seine Texte aus den letzten Jahren gelesen hat, erkennt in den die Ukraine und Rußland betreffenden Kapiteln seine Handschrift.
Von Guérot werden die naiv-idealistischen und dringlich verfaßten Passagen über ein entnationalisiertes, auf Regionen gestütztes Europa stammen. Sie trat als Europa-Aktivistin auf und befürwortete das Prinzip der offenen Grenzen von 2015, das eine seither anhaltende Masseneinwanderung vor allem nach Deutschland ermöglicht. Aufgrund solcher Positionierungen durfte sie noch vor wenigen Jahren alle Register der großen zivilgesellschaftlichen Orgel ziehen – etwa, als sie 2018 das “European Balcony Project” mitinitiierte und auf dutzenden Theaterbühnen ein “Manifest für die europäische Republik” verlesen ließ, das sie gemeinsam mit dem Schriftsteller Robert Menasse verfaßt hatte.
Aber daß der vermeintliche Kampf gegen Corona den rigiden Maßnahmenstaat ermöglichte, versetzte Guérot einen Schock. Ihr Buch Wer schweigt, stimmt zu zeugt davon. Es wurde, getragen vom verblüffenden Umstand eines Seitenwechsels Guérots, ein Bestseller. Seither gilt sie den Medieneliten als nicht mehr zuverlässig und wird in Debatten kritisch umstellt.
Guérot und Ritz schrieben Endspiel Europa nicht mehr aus der Sicherheit derjenigen heraus, denen man mit Wohlwollen begegnet. Daß sie sich dessen bewußt sind und daß sie den medialen und zivilgesellschaftlichen Mechanismus der Cancel Culture begriffen haben, machen sie bereits im Vorwort deutlich. Dort heißt es auf Seite 13:
Da es heute in Zeiten sichtlich eingeschränkter Diskurskorridore für viele fast schon unerträglich ist, eine ganz andere Sichtweise überhaupt zuzulassen oder anzuhören, möchten wir Folgendes klarstellen: …
Sie stellen im Folgenden klar, daß sie Putins Einmarsch in die Ukraine nicht goutieren und die “wehrhafte Reaktion der ukrainischen Bevölkerung ohne Frage nachvollziehen” können. Im nächsten Absatz erklären sie jedoch, es sei
wichtig und richtig, Putins beziehungsweise Rußlands Motivation und Interessen zu verstehen.
Dieses Verstehen mündet in deutliche Thesen. Sie sind weit vorn im Buch zu finden – die Seiten 34 und 35 bieten eine Quintessenz. Dort heißt es:
Wir leiten aus amerikanischen Quellen her, daß der russisch-ukrainische Krieg ein lang vorbereiteter amerikanischer Stellvertreterkrieg ist, eine Apotheose jahrzehntelanger amerikanischer Geostrategie, deren eigentliches Ziel die Verfestigung der amerikanischen Dominanz in Europa ist. Europa soll von seinen wirtschaftlichen Adern im Osten abgeschnitten werden.
Und weiter:
Es ist eine Politik der “restricted dammage”, der kontrollierten, aber bewußten wirtschaftlichen Schädigung, die vor allem die Kappung des deutschen Handelsüberschusses, der im Osten erwirtschaftet wird, zum Ziel hat.
Diese in aller Deutlichkeit formulierten Schlußfolgerungen müssen für jeden, der die Denkbewegung Guérots in der Corona-Frage für einen Ausrutscher hielt und den noch nicht breit wahrgenommenen Hauke Ritz bisher übersehen hatte, schockierend und atemberaubend sein:
War das Ziel der NATO im 20. Jahrhundert in den berühmten Worten von Lord Ismay, “to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down”, so müßte es im 21. Jahrhundert vielleicht heißen: Keep the Americans out, the Russians in and left Europe up?
Solches zu zitieren und mit der Forderung zu verbinden, man müsse in Zukunft besser denjenigen “draußen” halten, der auf dem europäischen Kontinent und der eurasischen Landmasse nichts verloren habe, ist eine dramatischer Gegenvorschlag zu allem, was gerade propagiert wird. Guérot und Ritz machen ihn, weil es ihnen letztlich um die Emanzipation Europas geht, um die Rettung des Guérotschen Herzensanliegens einer europäischen Selbstermächtigung hin zu einer europäischen Republik, deren Entstehung zugleich die Überwindung der Nationalstaaten sein müsse.
An dieser Stelle beginnt die fundamentale Revision eines vermeintlich festgeschriebenen Geschichtsbildes. Diese Revision wird in ihren Umrissen sichtbar, wenn man zusammenträgt, was dem Essay an historischen Annahmen zugrundeliegt. Immer geht es dabei um historische Lehren, die Europa als ein Ganzes zu ziehen habe und die es zu einem staatsbildenden Konsens jenseits nationalstaatlicher Befindlichkeiten führen sollten.
So sprechen Guérot und Ritz an mehreren Stellen von einem zweiten Dreißigjährigen Krieg, der von 1914 bis 1945 gedauert habe und in dem “wir” eine grundlegende gemeinsame Erfahrung gemacht hätten:
Was wir teilen, ist, daß wir alle zugleich Schlächter und Opfer waren.
Dieser schuld- und leidverteilende Satz zitiert den Schriftsteller Laurent Gaudé. Er steht auf Seite 20 und wird bereits im nächsten Absatz auf den Ukrainekonflikt übertragen:
Der ganze Wahnsinn der ahistorischen Betrachtungsweise dieses Krieges zeigt sich allein in der fast gebetsmühlenartigen Betonung des “russischen Angriffskrieges” vom 24. Februar, als sei dieser Krieg punktgenau an diesem Tag plötzlich vom Himmel gefallen.
So argumentieren und werten kann nur, wer davon ausgeht, daß jeder Krieg viele Väter habe und daß die Abwesenheit scharfer Schüsse nicht gleichbedeutend mit “Frieden” sei. Vielmehr gebe es Nachkriegsordnungen, in denen bereits der Keim des nächsten Krieges stecke.
In exakt diesem Sinn argumentieren Guérot und Ritz in ihrem Kapitel über die Wendezeit und die große europäische Chance nach 1990. Europa und die USA hätten diesen historischen Moment damals von Anfang unterschiedlich wahrgenommen: Europa als Wiedervereinigung des Kontinents, Amerika als Sieg über den ideologischen Konkurrenten um die Weltmacht.
Wo Europa die Möglichkeit zu einer kontinentalen Friedensordnung abgeleitet hätte, habe Amerika eine unipolare Weltordnung abgeleitet und konzipiert, eine Weltordnung mit nur einer einzigen Weltmacht, die an kein Interventionsverbot mehr gebunden sein dürfe und deren legitimer Anspruch es sei, die eigene Mischung aus liberaldemokratischem System und unreguliertem Kapitalismus auf der ganzen Welt zu verbreiten.
Partner seien in dieser Weltsicht ebensowenig vorgesehen wie der Respekt vor dem Eigeninteresse anderer Staaten und Großräume, schreiben Guérot und Ritz, und sie werten auf Seite 46/47 erneut mit Verweis auf historische Parallelen:
Die Art und Weise, wie man Rußland jede Partnerschaft verweigerte, erinnert an den Versailler-Vertrag, mit dem nach dem Ersten Weltkrieg vor allem Frankreich die dauerhafte Schwächung Deutschlands anstrebte. Heute sind sich Historiker einig, daß in diesem Friedensvertrag, der Deutschland keine Entwicklungsperspektive bot, bereits der Weg zum Zweiten Weltkrieg beschlossen lag.
Und sie schlußfolgern:
Europa hat diese Lektion schon 1945 gelernt; die Amerikaner anscheinend bis heute nicht.
Diese Ansicht rührt aus der Notwendigkeit, der Guérot und Ritz unterworfen sind: nämlich den eigentlichen Wunsch Europas in einen schroffen Gegensatz zu dem zu stellen, was Amerika auf “unserem” Kontinent anrichtet. Der Essay geht so weit, die Anwesenheit der USA in Europa als “Anomalie” zu bezeichnen und ihr die Normalität guter deutsch-russischer Beziehungen gegenüberzustellen, die von Peter dem Großen bis zu Bismarck auf Handelsbeziehungen, deutschen Siedlungsbewegungen, adliger Versippung und gegenseitiger kultureller Befruchtung beruhten. Guérot und Ritz kommen auf Seite 101 zu dem Schluß:
Der Informationskrieg, den die USA gegen Rußland führen, hat also vor allem den Zweck, die Europäer ihre Geschichte vergessen zu lassen, damit die historische Anomalie als neue Norm – und geradezu als alternativlose Notwendigkeit – empfunden werden kann.
Der Begriff “Informationskrieg” öffnet eine weitere Türe. Er steht im Endspiel Europa synonym für Propaganda, also für eine zielgerichtete Kommunikation, mit deren Hilfe um Deutungsmacht gekämpft wird. Es geht um planmäßiges kommunikatives Vorgehen, das den Gegner desavouieren, ihn zum moralischen Feind machen und ihm die Legitimität im Rahmen der Auseinandersetzung absprechen soll. Es geht um den Krieg der Bilder, um die Besetzung von Begriffen und um die Mobilisierung der Weltpresse.
Auch an dieser Stelle ist die Argumentation des Essays verblüffend, wenn man sich vergegenwärtigt, aus welchen Zusammenhängen die Autoren stammen und wie vor allem Guérot bisher argumentierte. Man kann ihren medienkritischen Blick wohl darauf zurückführen, daß sie im Rahmen ihrer Recherchen zum Corona-Maßnahmenstaat und mehr noch an der dann einsetzenden Berichterstattung über ihre Fragestellungen eine Ahnung davon bekam, was es bedeutet, einem Medienblock gegenüberzustehen, der sich nicht nur punktuell selbst gleichschaltet (und wohl nicht immer nur “sich selbst”).
Guérot und Ritz verwerfen auf Seite 97 also die bundesdeutsche Medienlandschaft in Bausch und Bogen und empfehlen, daß jeder sein eigener Reporter sei.
Daß dieser Informationskrieg in den Köpfen der Menschen funktionieren kann, hängt mit den fehlenden Austauschprogrammen zusammen. … Wer nicht selbst reist und Dinge mithin aus eigener Anschauung heraus beurteilen kann, ist von medialer Berichterstattung abhängig.
Worüber sie nur implizit sprechen, ist der Aufbau alternativer, vielleicht sogar freier Medien, denen Glauben zu schenken wäre und die wenigstens als Korrektiv wirken könnten. Denn wenn man sich anschaue, wie einseitig Geschichten über russische Vergehen aus den vergangenen Jahren erzählt würden, wären es (Seite 98)
wahrscheinlich der Westen und seine Medien, die sich zu rechtfertigen hätten.
Daß es dazu nicht kommen werde, wissen Guérot und Ritz und ordnen diese Absicherung gegen Kritik der Entwicklung eines Umgekehrten Totalitarismus zu, den unter anderem der us-amerikanische Politikwissenschaftler Sheldon Wolin in einem Buch mit diesem Titel beschrieb. Die USA und Europa glitten, so Guérot und Ritz, in diesen umgekehrten Totalitarismus,
in dem das System zwar formal demokratisch bleibt, aber zum Beispiel über eine freiwillige Gleichschaltung der Medien die Meinungskorridore eingeengt oder über (kapitalgesteuerte) Gesetzesänderungen der Grundrechtsbestand entkernt werden.
Die These von Wolins umgekehrtem Totalitarismus sei, daß “die autoritären Prozesse im Westen nur in disguise, also sublimierter” passierten, während “Rußland mehr oder weniger offen autoritär” (und damit ehrlicher) agiere. Verschleierung und Verlogenheit? Camouflage und Strategien von Euphemismus und Nudging? Jedenfalls habe Moskau, so steht es auf Seite 127,
die Erfahrung gemacht, daß sich der Westen an Verträge und Abkommen nur solange hält, solange sie ihm nutzen.
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Soweit der erste Überblick und die erste Einordnung des Buchs in die Debattensituation Anfang November 2022. Um die Position des Essays in der Frage nach den Ursachen des Ukrainekonflikts wird es im zweiten Teil gehen.
Aber was machen wir insgesamt mit diesem Buch? Wir begrüßen es. Natürlich ist für uns vieles nicht neu. Außerdem haben wir es feiner gegliedert und gründlicher formuliert, und zwar schon vor Jahren. Und natürlich hätten wir uns gewünscht, es wäre mal eine Ulrike Guérot auf Klassenfahrt hier abgestiegen, um sich selbst ein Bild von unserer Lage und unserem Denken zu machen. Aber damals war sie nicht medienkritisch, sondern eine der Betreiberinnen des Informationskriegs gegen diejenigen, die schon etwas länger warnten.
Schwamm drüber. Wir danken für ein tatsächlich an vielen Stellen atemberaubendes Leseereignis, denn das Buch muß eingebettet in den Zustand unserer Debattenkultur gelesen werden. Und wir wissen, daß Bewegung in die Sache nur bringen kann, wer zum Mainstream gehört und ihn herausfordert.
Für uns Tretminenexperten ist es eine spannende Sache, wenn sich zwei Leute in Gedankensprüngen quer durch den historischen und geopolitischen Minengürtel bewegen und der Annahme aufsitzen, diejenigen auf den Wachtürmen würden genauso gern debattieren wie man selbst…
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Unbedingt lesen: Ulrike Guérot und Hauke Ritz – Endspiel Europa – hier einsehen und bestellen.
Erwähnt wurde: Sheldon Wolin – Umgekehrter Totalitarismus – hier einsehen und bestellen.
Und das Corona-Buch: Ulrike Guerot – Wer schweigt, stimmt zu – hier einsehen und bestellen.
kikl
"Heute sind sich Historiker einig, daß in diesem Friedensvertrag, der Deutschland keine Entwicklungsperspektive bot, bereits der Weg zum Zweiten Weltkrieg beschlossen lag."
Gerade in Frankreich wird auch die gegenteilige These vertreten, dass man Deutschland nicht ausreichend geknechtet habe mit dem Vertrag von Versailles. Der rechte Politiker Éric Zémmour steht beispielsweise für diese Interpretation der Geschichte und er ist nicht der einzige in Frankreich.
"Europa hat diese Lektion schon 1945 gelernt; die Amerikaner anscheinend bis heute nicht."
Die Amerikaner haben es nicht gelernt, aber die Europäer auch nicht. Eine ehrliche und offene Debatte über die Geschichte der Weltkriege steht noch aus. Diese Debatte ist conditio sine qua non für echten und dauerhaften Frieden in Europa.