Solitäre, Kippfiguren, Masse

PDF der Druckfassung aus Sezession 106/ Februar 2022

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Für eine nüch­ter­ne Betrach­tung der Figu­ren, die im Lau­fe der ver­gan­ge­nen zwei Jah­re die soge­nann­ten Coro­na­de­mos bevöl­kert haben, braucht man kla­re Linsen.

Alfred North Whit­ehead (1861 – 1947) hat in Wie ent­steht Reli­gi­on? (1926) geschrie­ben: »Ein Groß­teil aller Psy­cho­lo­gie ist Her­den­psy­cho­lo­gie. Aber alle kol­lek­ti­ven Gefüh­le las­sen die schreck­li­che ele­men­ta­re Tat­sa­che unbe­rührt, das mensch­li­che Wesen näm­lich, das bewußt um sei­ner selbst wil­len mit sich allein ist. Reli­gi­on ist das, was das Indi­vi­du­um aus sei­nem eige­nen Soli­tär­sein macht. […] Und wer nie­mals soli­tär ist, ist nie­mals reli­gi­ös. Kol­lek­ti­ve Begeis­te­run­gen, Erwe­ckungs­be­we­gun­gen, Kir­chen, Bibeln, Ver­hal­tens­nor­men sind die äuße­ren Zei­chen von Reli­gi­on, ihre ver­gäng­li­chen For­men. Sie kön­nen nütz­lich oder schäd­lich, sie kön­nen auto­ri­ta­tiv ver­ord­net oder bloß vor­über­ge­hen­de Not­be­hel­fe sein. Aber das Ziel von Reli­gi­on liegt jen­seits von alledem.«

Was soll die­se Defi­ni­ti­on von Reli­gi­on mit poli­ti­schen Demons­tra­tio­nen zu tun haben? Das läßt sich im fol­gen­den klären.

Soli­tär­sein also – eine Exis­tenz­form, die mit Her­den­psy­cho­lo­gie nicht zu erfas­sen ist. Nun ist die Demons­tra­ti­on als sol­che eine der lupen­rei­nen Erschei­nungs­for­men von her­den­psy­cho­lo­gi­schen Antrie­ben. Noch ein­mal Whit­ehead: »Ritu­al ist das pri­mi­ti­ve Pro­dukt aus über­schüs­si­ger Ener­gie und Müßig­gang. Es exem­pli­fi­ziert die Ten­denz leben­der Kör­per, ihre eige­nen Hand­lun­gen zu wie­der­ho­len. […] Das Ritu­al ist ein­drucks­vol­ler, das Gefühl kräf­ti­ger, wenn eine gan­ze Gesell­schaft in das­sel­be Ritu­al und das­sel­be Gefühl ver­tieft ist.«

Auf die­sen Demons­tra­tio­nen, Exem­pli­fi­ka­tio­nen kol­lek­ti­ver Gefüh­le, fand ich lau­ter Soli­tä­re, Käu­ze, »dio­ny­si­sche Indi­vi­du­en« (Rolf Peter ­Sie­fer­le) und Typen vom Ran­de der Gesell­schaft. Ich neh­me mit Whit­ehead an, daß ein mög­li­cher Grund dafür reli­giö­ser Art ist.

Das heißt natür­lich nicht, daß es sich um, äußer­lich betrach­tet, reli­giö­se Ver­an­stal­tun­gen han­del­te (nur ein sehr klei­ner Teil ent­stamm­te bei­spiels­wei­se dem tra­di­tio­na­lis­ti­schen »Katho­li­schen Wider­stand« oder bestand aus pfingst­le­ri­schen »Chris­ten im Wider­stand«). Der Begriff des »Gro­ßen Erwa­chens« ist hier vor­läu­fig ver­wend­bar – aber er klärt das Ver­hält­nis von Soli­tä­ren zu einer kol­lek­ti­ven Bewe­gung nicht, son­dern ver­dun­kelt es, weil er selbst sug­ges­ti­ve Erwe­ckungs­bot­schaf­ten transportiert.

Die soge­nann­ten Coro­na­de­mos hat­ten von Anfang an eine spi­ri­tu­el­le Dimen­si­on. Das hängt damit zusam­men, daß das »Erwa­chen« nicht bloß ein poli­ti­sches oder sozia­les Erken­nen von kri­tik­wür­di­gen Maß­nah­men und Macht­ver­hält­nis­sen war, son­dern in der »Wahr­heits­be­we­gung« (a con­to derer die­se Ver­an­stal­tun­gen im wesent­li­chen gehen, auch wenn das vie­le Rech­te schlecht ver­knu­sen kön­nen) die polit­me­dia­le Herr­schaft der Lügen stets zusam­men­ge­dacht wird mit dem täu­schen­den Urhe­ber der Lügen: Der täu­schen­de Urhe­ber der Lüge ist der »alt­bö­se Feind« (Mar­tin Luther). Nicht weni­ge Demo-Reden, Pla­ka­te, Songs und in den alter­na­ti­ven Medi­en kol­por­tier­te Hin­ter­grün­de bezo­gen sich auf theo­lo­gi­sche Topoi: die Apo­ka­lyp­se, das gro­ße Tier, Licht und Fins­ter­nis, Micha­el und Satan.

Sozi­al­psy­cho­lo­gen mühen sich seit Beginn der Herr­schaft unter dem Zei­chen des glo­ba­lis­ti­schen Virus mit Erklä­run­gen, wie das gleich­ge­schal­te­te Ver­hal­ten der Mas­se zustan­de­kommt: von »Coro­na-Angst« (Hans-Joa­chim Maaz) über »die trau­ma­ti­sier­te Gesell­schaft« (Raik Gar­ve) bis zur »Mas­sen­for­mie­rungs­psy­cho­se« (Mat­ti­as Des­met) rei­chen ihre Erklä­rungs­an­sät­ze. Alle machen deut­lich, daß Mas­sen­wahn ein anthro­po­lo­gisch gese­hen alt­be­kann­tes Phä­no­men ist. Eben­so alt­be­kann­ter­wei­se ist Patho­lo­gi­sie­rung ein Zuschrei­bungs­spiel: irre ist immer der ande­re. Wenn im »Coro­nis­mus« nun von kol­lek­tiv­psy­cho­lo­gi­schen Dia­gno­sen die Rede ist, dann des­halb, weil wir hier eine neue Qua­li­täts­stu­fe betreten:

Eine nie gese­he­ne glo­ba­le Steue­rung und Uni­for­mie­rung durch das »Sprach­re­gime« (Micha­el Esders) in der Alli­anz von Big Tech, Big Phar­ma und Regie­run­gen führt gewis­ser­ma­ßen an den eige­nen Leu­ten das durch, was man im mili­tä­ri­schen Sprach­ge­brauch eine psy­cho­lo­gi­cal ope­ra­ti­on (PsyOp) am Feind nennt.

Ein äußer­lich erkenn­ba­res Merk­mal der gegen­wär­tig lau­fen­den PsyOp ist das polit­re­li­giö­se Ritu­al, wel­ches »über­schüs­si­ge Ener­gie und Müßig­gang« der Mas­se bin­det und sie dazu bringt, »ihre eige­nen Hand­lun­gen zu wie­der­ho­len«. Wie ent­zie­hen sich nun kon­kre­te Leu­te die­sem Zugriff? Wie kommt es, daß man­che Men­schen einer PsyOp unzu­gäng­lich zu sein schei­nen? Was sind das für Figuren?

Bei einer der ers­ten Demos in Wien appel­lier­te eine hen­na­ge­färb­te drah­ti­ge Oma, die mit einem Rol­ler ange­fah­ren kam, an dem ein Stoff­pla­kat mit einem bun­ten Rei­gen von Kin­dern aller Ras­sen befes­tigt war, hän­de­rin­gend an den grü­nen öster­rei­chi­schen Prä­si­den­ten Alex­an­der Van der Bel­len, er möge kraft sei­nes Amtes die­se Regie­rung abset­zen. Eine Red­ne­rin mit Zöp­fen und Bom­mel­hau­be sprach ohne Punkt und Kom­ma von ihrem gro­ßen Vor­bild, dem öster­rei­chi­schen Urge­stein der Öko­lo­gie­be­we­gung, Fre­da ­Meiss­ner-Blau. Spä­ter sah ich ein Pla­kat, auf dem geschrie­ben stand: »Grün im Her­zen und trotz­dem hier«.

Als Grü­ner gegen eine Grü­nen-Regie­rung demons­trie­ren – der Grund dafür dürf­te dar­in lie­gen, daß die­se Leu­te zu spät bemerkt haben, daß längst nicht mehr die alten Umwelt- und Lebens­schutz­idea­le von die­ser einst­mals »alter­na­ti­ven« Par­tei ver­tre­ten wer­den. Daß die Grü­nen längst die Glo­ba­lis­ten­eli­te ver­kör­pern und in einem Boot mit Big Tech, Big Phar­ma und Big Media sit­zen, fällt alten Grü­nen wesent­lich eher auf als jun­gen. Denn der Ursprung der Grü­nen hat nicht zu ver­nach­läs­si­gen­de spi­ri­tu­el­le Wur­zeln. Zwi­schen Anthro­po­so­phie, Yoga und New Age spros­sen die dama­li­gen »Alter­na­ti­ven« in die Höhe. Das Motiv des »neu­en Zeit­al­ters« und des »Bewußt-Seins« gehört zu ihrer Sozia­li­sa­ti­on, damit aber auch der Ver­dacht gegen das Sys­tem, gegen »ver­krus­te­te Struk­tu­ren«, gegen die Mas­sen­ge­sell­schaft. Die schwie­ri­ge Gemenge­la­ge von »dio­ny­si­schen Indi­vi­du­en« und »kri­ti­scher Mas­se«, die sich in den aktu­el­len Pro­tes­ten zeigt, hat – zumin­dest in Wien – eini­ge Ursprün­ge in eben­die­ser Alter­na­tiv­be­we­gung der vori­gen Generation.

Der Wie­ner Aka­de­mi­ker­bund (ich hielt dort schon Vor­trä­ge vor gebil­de­ten alten Kon­ser­va­ti­ven) hat­te sei­nen Abend­vor­trag im Novem­ber 2021 ins »Demo­camp« ver­legt. Dort hock­ten ein­ge­mum­mel­te Men­schen zwi­schen den Zel­ten um zwei Lager­feu­er – wie­der die mir schon ver­trau­te Mischung: lin­ke Enga­gier­te (ein jun­ger Mann mit Regen­bo­gen-Indio­s­trick­ja­cke brach­te mir einen Hüt­ten­zau­ber-Tee), Pen­sio­nis­ten (Grei­sin mit Hüt­chen und Schüh­chen, die muß gefro­ren haben!), hoch­be­gabt wir­ken­de Nerds, ech­te Ver­rück­te, ganz bie­de­re Eltern, wär­me­su­chen­de Sand­ler, ich sah auch einen Pech­schwar­zen und eine Chi­ne­sin. Im Baum saß ein grin­di­ger rosa Stoff­af­fe, auf den jemand mit Filz­stift geschrie­ben hat­te: »Kei­ne Menschenversuche!«

Der Aka­de­mi­ker­bund­vor­sit­zen­de Chris­ti­an Zeitz faß­te die Lage zusam­men und beschrieb, daß das alles nicht plötz­lich gekom­men, son­dern seit min­des­tens 30 Jah­ren vor­be­rei­tet wor­den sei: Vom Euro über die Lis­sa­bon­ver­trä­ge bis zur Migra­ti­ons­kri­se steu­er­ten wir auf das seit zwei Jah­ren an Fahrt auf­neh­men­de Kon­troll­sys­tem zu. Er war übri­gens der aller­ers­te hier­zu­lan­de, von dem ich per E‑Mail-News­let­ter »Coro­na­kri­ti­sches« las im Früh­jahr 2020.

Man könn­te mei­nen, so jemand braucht nicht zu »kip­pen«, der ist schon sys­tem­kri­tisch, seit er den­ken kann, ein ech­ter Rech­ter. Doch was treibt ihn in den Stadt­park? Auch hier wie­der: die spi­ri­tu­el­le Dimen­si­on. Der Aka­de­mi­ker­bund ruft all­jähr­lich zum »Marsch für das Leben« gegen Abtrei­bung auf und ist tief im tra­di­tio­nal-katho­li­schen Milieu ver­an­kert, das mit der NGO-Amts­kir­che gebro­chen hat. Alter­na­ti­ve Rech­te? Manch­mal schlägt das ideo­lo­gi­sche Metro­nom weit aus. Ich hat­te kurz den Gedan­ken: »Men­schen­lie­be« ver­eint erns­te Chris­ten und traum­tän­ze­ri­sche Alter­na­ti­ve gegen das »stahl­har­te Gehäu­se der Hörig­keit« (Max Weber). Doch bei nähe­rer Betrach­tung wür­de kein Ein­ver­neh­men über die Pra­xis die­ser Men­schen­lie­be her­ge­stellt wer­den kön­nen. Das »Demo­camp« wur­de ein paar Tage spä­ter in aller Herr­gotts­frü­he von der Poli­zei geräumt.

2018 war ich samt Kin­dern aus der Wal­dorf­schu­le ent­fernt wor­den wegen mei­ner poli­ti­schen Gesin­nung. Einer der dama­li­gen Vor­stands­mit­glie­der begeg­ne­te mir im ver­gan­ge­nen Jahr wie­der als Betrei­ber eines kri­ti­schen Tele­gram-Kanals. Unver­hofft befand sich die­ser Mann mit mir auf der­sel­ben Sei­te des Kipp­bil­des. Hier dürf­te ein gut­gläu­bi­ges Ver­trau­en in »unse­re Demo­kra­tie« und »unse­re Men­schen­wür­de« dazu geführt haben, daß er sich gegen den Maß­nah­men­staat, der eben­die­se gefähr­det, ein­setzt, um sie wie­der in ihr Recht zu ver­set­zen. Er wür­de wohl an einer fra­ter­ni­sie­ren­den Dem­obe­geg­nung kaum Freu­de haben, denn auch ich dürf­te in sei­nen Augen als »Rechts­extre­mis­tin« wei­ter­hin danach trach­ten, »unse­re Demo­kra­tie« und »unse­re Men­schen­wür­de« abzuschaffen.

So jemand denkt in poli­ti­schen Kol­lek­ti­ven und hat wahr­schein­lich – obschon er sich damals in der Waldorf­lehrerausbildung befand, also spi­ri­tu­el­le Grund­la­gen erwor­ben hat – wenig Bedarf an Whit­eheads geis­ti­ger Ein­sam­keit. Aller­dings: Auch er ist aus der Schlin­ge der PsyOp geschlüpft.

Bleibt noch der Typus Mar­tin Rut­ter. Der war als Kärnt­ner Patri­ot erst Grü­nen-Poli­ti­ker, dann bei Frank Stro­nachs Liber­tä­ren, dann bei ­Hai­ders BZÖ, inzwi­schen ist er einer der füh­ren­den ­Demons­tra­ti­ons­or­ga­ni­sa­to­ren gegen die »Coro­na-Maß­nah­men« Öster­reichs. Sein Antrieb: Basis­demokratie statt Eli­ten­sumpf. Han­delt es sich bei ihm um eine Kipp­figur? Eines unse­rer Kri­te­ri­en für poli­ti­sche Rech­te war in Mit Lin­ken leben (2017) die Bruch­li­nie »glo­ba­lis­tisch vs. identitär«.

Dar­an gemes­sen, befand sich ­Rut­ter immer klar auf der iden­ti­tä­ren Sei­te, auf sei­ten »des Vol­kes«. Kann ein Rech­ter Basis­de­mo­krat sein? Die neu­ent­stan­de­ne maß­nah­men­kri­ti­sche Par­tei Die Basis ist alles ande­re als rechts­las­tig. »Basis­de­mo­kra­tie« geht auf lin­ke Gras­wur­zel­be­we­gun­gen, Bür­ger­initia­ti­ven und letzt­lich auf Rosa Luxem­burgs Aus­füh­run­gen zur Spon­ta­nei­tät der Mas­sen zurück.

Kipp­fi­gu­ren sind grund­ver­schie­den von Quer­front­fi­gu­ren. Ähn­lich wie Chris­ti­an Zeitz vom Aka­de­mi­ker­bund ver­tritt Rut­ter ein »iden­ti­tä­res Chris­ten­tum«, das in den ver­gan­ge­nen Jah­ren vor allem islam­kri­tisch aus­ge­rich­tet war und aktu­ell kon­den­siert in einem »Gott mit uns«-Patriotismus. Poli­ti­sier­te Reli­gio­si­tät ist grund­ver­schie­den vom reli­gi­ons­er­mög­li­chen­den Solitärsein.

Was kön­nen Grün­de dafür sein, daß bestimm­te Leu­te kaum for­mier­bar sind durch Mas­sen­psy­cho­sen? Ich neh­me vier Mög­lich­kei­ten an, gewiß gibt es mehr:

 

Im Netz kur­siert das Mid­wit-Mem: es stellt die Gauß­sche Nor­mal­ver­tei­lungs­kur­ve der Intel­li­genz dar, ganz links ein paar Leut­chen ohne Mas­ke im min­der­be­mit­tel­ten Bereich, in der Mit­te die Mas­ke der Mas­ken­trä­ger, ganz rechts ein paar hyper­in­tel­li­gen­te Leut­chen ohne Mas­ke. Es gibt auch Ver­sio­nen mit »Ich laß mich doch nicht ver­ar­schen!« links und epi­de­mio­lo­gi­schen Beweis­füh­run­gen rechts usw.

Rein sozio­öko­no­mi­sche Grün­de, die berühm­ten »Abstiegs­ängs­te« also, füh­ren noch nicht zu inner­li­chem Los­sa­gen von einer über­mäch­ti­gen Erzäh­lung. Gera­de die unte­re Mit­tel­schicht ist erpreß­bar. Es kom­men, respek­ti­ve im Osten der BRD und bei ost­eu­ro­päi­schen Ein­wan­de­rern, bio­gra­phi­sche Brü­che hin­zu: Kommt jeman­dem gera­de all­zu vie­les sehr, sehr bekannt vor, dann fürch­tet er plötz­lich auch die­sen Staat.

Wer aus den aller­un­ter­schied­lichs­ten Grün­den »anders ist« als die Mehr­heit, hat mit grö­ße­rer Wahr­schein­lich­keit kei­ne Nei­gung, bei Grup­pen­spie­len der Mehr­heit mit­zu­ma­chen. Wer also schon vor 2020 dem »fal­schen Leben« (Hans-Joa­chim Maaz) den Rücken gekehrt hat, der ist gebrann­tes Kind und scheut das Dau­er­feu­er aus allen Medienrohren.

Und eine beson­de­re Form des Anders­seins, das Nicht-ganz-von-die­ser-Welt-Sein, dürf­te einen beson­ders effek­ti­ven Schutz vor dem NWO-Virus gewähr­leis­ten. Die For­mel vom »Gro­ßen Erwa­chen« trifft inso­fern einen rich­ti­gen Punkt, als es um eine geis­ti­ge Ebe­ne geht, die da in die poli­ti­sche Sphä­re hin­ein­spielt. Unse­re Bruch­li­ni­en aus Mit Lin­ken leben (glo­ba­lis­tisch vs. iden­ti­tär, rea­lis­tisch vs. uto­pis­tisch, miß­trau­isch vs. den Mas­sen­me­di­en ver­trau­end) gewin­nen eine meta­phy­si­sche Dimen­si­on, wenn der Alli­anz aus Glo­ba­lis­mus, Uto­pie und Medi­en eine Täu­schungs­ab­sicht zuge­schrie­ben wird. Vie­le Pro­test­ler kri­ti­sie­ren nicht nur die Regie­rung, also bestimm­te Poli­ti­ker und Par­tei­en und die von ihnen ver­häng­ten Maß­nah­men, son­dern erken­nen dahin­ter ein veri­ta­bles Lügen­werk. Die »Wahr­heits­be­we­gung« for­dert nicht bloß Auf­de­ckungs­ar­beit von Inves­ti­ga­ti­v­jour­na­lis­ten, son­dern ihr Wahr­heits­be­griff trägt auch reli­giö­sen Offenbarungscharakter.

 

Es gibt das Hin und Her­kip­pen, die Bewe­gung zwi­schen poli­ti­schen Kol­lek­ti­ven: von rechts nach links oder von links nach rechts. Man­cher ver­meint­lich »Erwach­te« lan­det nach sozi­al durch­aus fol­gen­schwe­rem Ver­rat an sei­ner Her­kunfts­grup­pe unver­se­hens im nächs­ten Grup­pen­tau­mel. Es gibt das Weg­kip­pen, die fal­len­de Bewe­gung in unter­schied­li­che For­men von Wahn, sei es kol­lek­ti­ver oder idio­syn­kra­ti­scher. Doch wer defi­niert des ande­ren Wahn? Es gibt fer­ner, und die ist die sel­tens­te, die Bewe­gung, die das eige­ne Kip­pen auf­zu­hal­ten versucht.

Steh­auf­männ­chen haben unten im Leib einen Schwer­punkt und kom­men nach hef­ti­gem Kip­pen stets wie­der in auf­rech­te Stel­lung. Das liegt an der Schwer­kraft. Das Steh­auf­männ­chen ver­hält sich wie der »Glie­der­mann« in Hein­rich von Kleists Über das Mario­net­ten­thea­ter.

Uns ist kein sol­cher Auto­ma­tis­mus ein­ge­baut wor­den – was dazu führt, daß Men­schen, bringt sie die anstö­ßi­ge Gesell­schaft ins Kip­pen, nicht von selbst in auf­rech­te Stel­lung kom­men. Wir sind der Auf­rich­tung bedürf­tig. Die­se allein ist jene Bewe­gung, die das Kip­pen auf­hält. Peter Slo­ter­di­jk schrieb von der »Ver­ti­kal­span­nung«. Es han­delt sich um eine Bewe­gung von oben nach unten und dann wie­der hin­auf: Ohne das, was die Mys­ti­ker die »Her­ab­las­sung Got­tes« nann­ten, ist der Mensch nicht in der Lage, zu bemer­ken, wohin er sich rich­ten soll.

Erst wenn er die­se bemerkt, kann sich sein Herz nach oben rich­ten (»Sursum corda« heißt es in der Lit­ur­gie: »Erhe­bet die Her­zen!«). Auch wenn sich der Appell an die Gemein­de rich­tet, die eine Grup­pe dar­stellt, die wie­der­um ein Ritu­al aus­übt, kann doch nur der Soli­tär sein eige­nes Herz erhe­ben. Noch ein­mal: »Reli­gi­on ist das, was das Indi­vi­du­um aus sei­nem eige­nen Soli­tär­sein macht.«

Anfangs ist die Her­zens­er­he­bung noch insta­bil, die Bewe­gung kip­pe­lig, die Ver­füh­rung der Grup­pe groß (denn auch kri­ti­sche Mas­sen unter­lie­gen der Gefahr der Mas­sen­for­mie­rungs­psy­cho­se). Und doch sieht man para­do­xer­wei­se gera­de unter den Zehn­tau­sen­den auf den »Coro­na­de­mos« bestimm­te Figu­ren, in deren Gesich­tern man lesen kann, daß sie nicht mehr schwan­ken. Sie sind weder beson­ders erleuch­tet, fromm, erwählt noch erwacht in einem end­gül­ti­gen und Anlaß zu Hoch­mut geben­den Sin­ne, son­dern das, was mei­ne Mut­ter als alte Grü­ne »bewußt« nen­nen würde.

Ohne die Ver­ti­kal­span­nung, ohne die stren­ge Kon­zen­tra­ti­on aufs eige­ne Wachs­tum wächst aber die Gefahr, daß die Leu­te sich beim Spa­zie­ren­ge­hen ver­ren­nen. Die Ener­gie droht zu ver­puf­fen, die Angst, umsonst zu demons­trie­ren, wächst und damit die Nei­gung, sich in Wahn­vor­stel­lun­gen ein­zu­mau­ern. Das Soli­tär­sein ist eine wesent­lich schwe­re­re Auf­ga­be als das Kip­pen, als das poli­ti­sche Sei­ten­wech­seln, weil es eine dau­er­haf­te, lebens­läng­li­che Auf­ga­be ist.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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