Querdenker: Barbara Stiegler

von Ivor Claire -- PDF der Druckfassung aus Sezession 106/ Februar 2022

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Die Lage hat sich ver­flüs­sigt. Mit dem Kol­laps des Ost­blocks Ende der 1980er Jah­re wur­de eine blei­er­ne Ära in den deut­schen Teil­re­pu­bli­ken been­det, doch ver­fiel das ver­ein­te Land bald wie­der in eine natio­na­le Läh­mung, der »Kohls Mäd­chen« das pas­sen­de Gesicht gab.

Durch die soge­nann­te Flücht­lings­kri­se seit 2015 ist dann jedoch sicht­bar gewor­den, was klar­sich­ti­ge Intel­lek­tu­el­le nicht erst in der schein­bar so glück­li­chen BRD bemerkt hat­ten: Der sprich­wört­li­che Wan­del durch Han­del hin zu einer dicht ver­floch­te­nen Welt­wirt­schaft führt zu kei­ner Idyl­le, son­dern zieht erheb­li­che Kol­la­te­ral­schä­den nach sich. Sie betref­fen längst nicht mehr nur die »Drit­te Welt«, son­dern schla­gen sich nun mit vol­ler Wucht in Euro­pa nieder.

Die viel­be­schwo­re­ne »Pan­de­mie«, vom Früh­jahr 2020 an Anlaß für einen per­ma­nent-fle­xi­blen Aus­nah­me­zu­stand, führt uns die nega­ti­ven Fol­gen der Glo­ba­li­sie­rung dras­ti­scher vor Augen: Jetzt bekom­men sie Hinz und Kunz in ihrem poli­tik­fer­nen All­tags­le­ben zu spü­ren. Die Brü­chig­keit der eige­nen Exis­tenz däm­mert daher all­mäh­lich auch manch Voll­ver­si­cher­tem; man beginnt sich zu weh­ren, die herr­schafts­tech­nisch wich­ti­ge Mar­kie­rung der Leu­te als »rechts« ver­sus »links« oder »libe­ral« ver­liert ihre domes­ti­zie­ren­de Wir­kung auf den Stra­ßen. Kri­sen set­zen Kräf­te frei, deren Wir­kungs­vek­to­ren nicht leicht zu berech­nen sind.

Will die poli­ti­sche Füh­rung unse­res Lan­des eine sol­che Lage­ent­wick­lung ernst­haft beur­tei­len, um dar­aus im Sin­ne des hie­si­gen Gemein­we­sens adäqua­te Fol­ge­run­gen und Hand­lungs­op­tio­nen abzu­lei­ten, wäre zunächst eine metho­disch sau­be­re Lage­fest­stel­lung mit Blick nicht nur auf das Bedro­hungs­po­ten­ti­al des Virus nötig. Ob jemals – jen­seits von »Inzi­den­zen« und ande­ren Zah­len­spie­le­rei­en – ein rea­lis­ti­sches Lage­bild erstellt wur­de, wis­sen wir als schlich­te Bür­ger die­ses Staa­tes nicht.

Daß sich aber der Ein­druck ver­brei­tet, es sei »etwas faul im Staa­te Däne­mark«, ver­wun­dert kaum ange­sichts poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen in den letz­ten zehn Jah­ren, die offen­sicht­lich weder dem Woh­le des deut­schen Vol­kes gewid­met waren noch sei­nen Nut­zen mehr­ten oder Scha­den von ihm wand­ten – von der »Grie­chen­land­ret­tung« über die Migra­ti­ons- und Ener­gie­po­li­tik bis hin zur Hand­ha­bung der Coro­na-Kri­se: All dies war und ist nicht nur recht­lich höchst bedenk­lich, es wur­de auch durch die vor­geb­lich staats­fer­ne »Vier­te Macht« auf eine Art und Wei­se als Public Opi­ni­on kom­mu­ni­ziert und flan­kiert, die nur als Selbst­gleich­schal­tung der Medi­en unter Aus­schluß ech­ter Debat­ten zu beschrei­ben ist. Genau dort muß nun die Kri­tik all jener anset­zen, die sich fern der Macht deren Beschlüs­sen, Maß­nah­men und Hand­lan­gern aus­ge­setzt sehen.

Es gibt in Deutsch­land Ver­tre­ter einer »frei­schwe­ben­den Intel­li­genz«, die zu sol­cher Kri­tik in der Lage wären; selbst an Uni­ver­si­tä­ten gilt for­mal noch die Frei­heit von For­schung und Leh­re, bei Hoch­schul­leh­rern nur an das Gebot der Mäßi­gung in öffent­li­chen Äuße­run­gen gekop­pelt. Prü­fen wir, wie sich sol­che hoch­do­tier­ten und ‑geschätz­ten aka­de­mi­schen Beam­ten aus gege­be­nem Anlaß äußern, sei es ein Poli­to­lo­ge à la Her­fried ­Mün­k­ler, sei es ein welt­be­rühm­ter Phi­lo­soph wie Jür­gen Haber­mas, will der eine erst Deutsch­land und dann die gan­ze Welt imp­fen, sodann das Kli­ma ret­ten, wäh­rend der grei­se Dis­kurs­ethi­ker in Coro­na-Zei­ten prin­zi­pi­en­treu eine »bru­ta­le Apo­loge­tik der real exis­tie­ren­den Macht« (Tors­ten Hinz) betreibt und die Schutz­rech­te des Indi­vi­du­ums gegen die Ver­fü­gungs­ge­walt des Staa­tes eskamotiert.

Es sind hier allen­falls Außen­sei­ter wie der Münch­ner Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft­ler Micha­el Mey­en, des­sen Stu­die Die Pro­pa­gan­da-Matrix (2021) beleuch­tet, wel­che Mecha­nis­men der Abhän­gig­keit unse­re domi­nan­ten Medi­en auf Ver­laut­ba­rungs­or­ga­ne der Regie­rung und ihrer Exper­ten redu­ziert haben. Sol­che fin­den sich dann, gebrand­markt und mar­gi­na­li­siert, in einem »Saum der Mond­süch­ti­gen« auch auf der vor­mals ent­ge­gen­ge­setz­ten poli­ti­schen Sei­te wie­der (­www.rubikon.news).

Bli­cken wir aus unse­rer rest­ger­ma­ni­schen Nebel­welt in den lich­ten ­Süden, erhob dort anders und früh der höchst renom­mier­te Phi­lo­soph ­Gior­gio Agam­ben das Wort unmiß­ver­ständ­lich gegen ein Maßnahmen­regime, das er als Zivi­li­sa­ti­ons­bruch bewer­tet – in der Fixie­rung auf die Risi­ken eines Virus implo­die­re ein gan­zes Land, eine gan­ze Kul­tur: »Denn die­sel­ben Behör­den, die den Not­stand aus­ge­ru­fen haben, erin­nern uns stän­dig dar­an, daß die­sel­ben Wei­sun­gen auch nach dem Ende des Not­stands zu befol­gen sei­en und daß das Social Distancing – wie man es in einem viel­sa­gen­den Euphe­mis­mus nennt – das neue Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zip der Gesell­schaft dar­stel­le.« (1)

Daß die Debat­te in Frank­reich nicht weni­ger leben­dig ist und auch in »Leit­me­di­en« aus­ge­tra­gen wird, über­rascht bei der Tra­di­ti­on die­ses Vol­kes kaum: Jüngst waren es die »Gilets jau­nes«, die Gelb­wes­ten, die den Wider­spruchs­geist und das Selbst­be­wußt­sein der »ein­fa­chen Leu­te« auf der Stra­ße demons­trier­ten, jetzt die gro­ßen Pro­tes­te gegen die schlecht begrün­de­ten Pan­de­mie-Maß­nah­men der »Répu­bli­que en Mar­che«. Anders als in Deutsch­land, wo es selbst im Wes­ten bemer­kens­wert vie­le Demons­tra­tio­nen gegen das Coro­na-Regime gibt, soli­da­ri­sie­ren sich dort auch nam­haf­te Intel­lek­tu­el­le mit den auf­müp­fi­gen Tei­len ihres Vol­kes, ohne erst »kip­pen« zu müssen.

Eine sol­che in der BRD kaum, in Frank­reich aber öffent­lich ­prä­sen­te Intel­lek­tu­el­le ist Bar­ba­ra Stiegler, Toch­ter des 2020 ver­stor­be­nen ­Den­kers Ber­nard Stiegler, selbst Phi­lo­so­phin an der Uni­ver­si­tät Bordeaux-Montaigne.

Ihre Ein­las­sun­gen zur Coro­na-Kri­se sind auf­schluß­reich, weil sie aus einer phi­lo­so­phisch-ideen­ge­schicht­li­chen Gegen­warts­ana­ly­se her­aus ent­wi­ckelt wer­den. So faßt Stiegler das im glo­ba­len Trans­fer impor­tier­te Virus und die dar­auf­hin in Frank­reich exe­ku­tier­ten poli­ti­schen Maß­nah­men als eine »öko­lo­gi­sche Kri­se im wei­ten Sinn« auf, (2) die sie über den Begriff des »Neo­li­be­ra­lis­mus« zu erschlie­ßen versucht.

Aus ihrer Sicht eska­liert der­zeit ein »poli­ti­scher Impe­ra­tiv«, der die moder­nen Gesell­schaf­ten mit ihrer umfas­sen­den »Indus­tria­li­sie­rung der Lebens­wei­sen« domi­niert: Es ist der aus einem »patho­lo­gi­schen Gefühl des Rück­stands« (3) abge­lei­te­te pseu­do­dar­wi­nis­ti­sche Zwang zur per­ma­nen­ten Adap­ti­on an eine immer rasan­ter tech­no­lo­gisch ver­än­der­te Umwelt, der sich auf das Gesund­heits­we­sen eben­so aus­wirkt wie auf Päd­ago­gik und Wis­sen­schaft, mit denen sich Stiegler inten­siv befaßt. Ihre Ana­ly­sen dre­hen sich nun vor allem dar­um, die­sen patho­lo­gi­schen Befund genea­lo­gisch zu unterfüttern.

Stiegler schöpft dabei aus der jün­ge­ren geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Tra­di­ti­on Frank­reichs, die über Michel Fou­cault und ähn­li­che Intel­lek­tu­el­le eine Ver­an­ke­rung auch im deut­schen Den­ken hat. Aus­ge­hend von ihrer Lek­tü­re Nietz­sches, den sie im Dis­kurs der sich im 19. Jahr­hun­dert eta­blie­ren­den Bio­lo­gie ver­or­tet und des­sen kom­ple­xe Posi­ti­on zum Dar­wi­nis­mus sie her­aus­ar­bei­tet, (4) ver­weist sie auf die Durch­säue­rung des frü­hen 20. Jahr­hun­derts mit popu­la­ri­sier­ten bio­lo­gi­schen Denkmustern.

Im Ver­such einer begriff­li­chen Klä­rung beschreibt Stiegler dabei unter ande­rem die klas­si­schen Ultra­li­be­ra­len des lan­gen 19. Jahr­hun­derts, bei denen sie eine »natu­ra­lis­ti­sche« Auf­fas­sung des Sozi­al­le­bens erkennt. Die­se gehe von der sozi­al­dar­wi­nis­ti­schen Idee aus, daß sich die am bes­ten ihren Umwelt­be­din­gun­gen ange­paß­ten Lebe­we­sen durch­setz­ten und sich von die­sen Dis­po­si­tio­nen aus alles von selbst reg­le – ein Lais­ser-fai­re: »Auf dem poli­ti­schen Feld reicht es also, der Natur frei­en Lauf zu las­sen, und damit auch den natür­li­chen Ten­den­zen des Kapi­ta­lis­mus, was impli­ziert, jede künst­li­che Stö­rung durch den Staat kate­go­risch zurückzuweisen.«(5)

Im Anschluß an Fou­caults Vor­le­sung über die Geburt der Bio­po­li­tik (1978 / 79) grenzt Stiegler dage­gen den Neo­li­be­ra­lis­mus als tech­no­kra­ti­sche und zugleich teleo­lo­gi­sche Welt­auf­fas­sung ab, die im US-Jour­na­lis­ten und Poli­tik­be­ra­ter Wal­ter Lipp­mann einen pro­non­cier­ten, wirk­mäch­ti­gen Ver­tre­ter habe.

In des­sen zen­tra­len Schrif­ten Public Opi­ni­on (1922), Phan­tom Public (1925) und The Good Socie­ty (1938) paart sich der anthro­po­lo­gi­sche Befund, der evo­lu­tio­när auf eher gemäch­li­che Über­gän­ge ange­leg­te Mensch sei durch die tech­no­lo­gi­sche Beschleu­ni­gung des Wan­dels über­for­dert, mit Über­le­gun­gen, wie er sich denn »read­ap­tie­ren« las­se. Die­se lau­fen auf eine durch fach­li­che Exper­ti­se gestütz­te Ermitt­lung von Ori­en­tie­rungs­punk­ten (»caps«) hin­aus, auf die hin eine poli­ti­sche und wis­sen­schaft­li­che Eli­te das tum­be Volk mit allen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln zu trim­men hat. Die Medi­en sind hier auf eine Ein­mas­sie­rung poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen in die Bevöl­ke­rungs­mas­se fest­ge­legt, auf Pro­pa­gan­da also.

Aus einem sol­chen »neo­li­be­ra­lis­ti­schen« und auto­ri­tä­ren Impe­ra­tiv der per­ma­nen­ten Adap­ti­on an den tech­no­lo­gi­schen Wan­del der Lebens­welt auf ima­gi­nä­re Richt­punk­te hin sind auch die trans­hu­ma­nis­ti­schen Ideo­lo­ge­me der letz­ten 50 Jah­re ver­ständ­lich, als Opti­mie­rung die­ser Anpas­sung, um den Men­schen mor­pho­lo­gisch, phar­ma­ko­lo­gisch und tech­no­lo­gisch umzu­bau­en und fit für die Zukunft zu machen: »future machi­nes will be human, even if they are not bio­lo­gi­cal« (6) – Ray Kurz­weils Hoff­nung auf einen evo­lu­tio­nä­ren Umschlag im Jahr 2045.

Stieglers Posi­ti­on knüpft an den ame­ri­ka­ni­schen Prag­ma­ti­ker John ­Dew­ey an, der Lipp­mann in einer berühm­ten Debat­te wider­spro­chen und auf Par­ti­zi­pa­ti­on des Volks gepocht hat­te. Ihre Hoff­nung Ende 2020 auf die Wie­der­eröff­nung der Uni­ver­si­tä­ten, an denen es »der Jugend noch erlaubt ist, mit der Hil­fe von Älte­ren zu ler­nen, wie man zwei­felt, forscht und den eige­nen Fra­gen bis zum Ende nach­geht«, (7) mag ange­sichts des Zustands der aka­de­mi­schen Intel­li­genz naiv, manch ande­res auch absei­tig erscheinen.

Sie ver­dient jedoch Beach­tung, zumal ihre zen­tra­le Fra­ge nach der Aus­ta­rie­rung von »Flux und Sta­sis«, von Wan­del und Bestand, auf eine gro­ße Bruch­li­nie der heu­ti­gen Zeit zielt. Ihre Genea­lo­gie des Neo­li­be­ra­lis­mus, die auf des­sen Ver­an­ke­rung im dar­wi­nis­ti­schen Duk­tus der Zeit abhebt, ist anschluß­fä­hig an kri­ti­sche Über­le­gun­gen zum evo­lu­ti­ons­theo­re­ti­schen Para­dig­ma, wie sie schon Fried­rich Georg Jün­ger 1969 (Die voll­kom­me­ne Schöp­fung), Micha­el Belei­tes 2014 (Umwelt­re­so­nanz) oder auch Tho­mas Nagel 2013 (Mind and Cos­mos) vornahmen.

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(1) – Gior­gio Agam­ben zum Umgang der libe­ra­len Demo­kra­tien mit dem Coro­na­vi­rus: »Ich hät­te da eine Fra­ge«, in: Neue Zür­cher Zei­tung vom 15. April 2020.

(2) – Bar­ba­ra Stiegler: De la démo­cra­tie en pan­dé­mie. San­té, recher­che, édu­ca­ti­on, Paris 2021, S. 3 f.

(3) – Vgl. Bar­ba­ra Stiegler: »Il faut s’adapter«. Sur un nou­vel impé­ra­tif poli­tique, Paris 2019, S. 272.

(4) – Bar­ba­ra Stiegler: Nietz­sche et la bio­lo­gie, Paris 2001; Nietz­sche et la cri­tique de la chair. Dio­ny­sos, Aria­ne, le Christ, Paris 2005; Nietz­sche et la vie. Une nou­vel­le his­toire de la phi­lo­so­phie, Paris 2021.

(5) – Stiegler: »Il faut s’adapter«, S. 15.

(6) – Ray Kurz­weil: The Sin­gu­la­ri­ty Is Near. When Humans Tran­s­cend Bio­lo­gy, New York 2005, S. 30 (hfg-resources.googlecode.com, Abruf: 15. Janu­ar 2022).

(7) – Stiegler: De la démo­cra­tie en pan­dé­mie, S. 54.

 

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