In ihrem Essay Endspiel Europa geben sie eine prinzipielle Antwort. Diese Haltung einer grundsätzlich offenen Herangehensweise gipfelt in einem Satz, der die Revision des Eingehämmerten, des sicher Geglaubten fordert (und damit die Arbeitsweise der Wissenschaft, wie sie sein sollte an sich beschreibt):
Zu den häufigsten semantischen Setzungen seit Kriegsbeginn zählt die Rede vom “russischen Überfall” oder dem “russischen Angriffskrieg” auf die Ukraine. (…) Damit wird insinuiert, daß sowohl die Ukraine als auch der Westen vom Krieg überrascht worden seien und ihn nicht haben kommen sehen, geschweige denn vorbereitet haben. (…) Im Grunde genommen müßte die Frage, wer diesen Krieg wirklich begonnen hat, neu erforscht werden.
Diese Forderung ist ein guter Anlaß, einmal grundsätzlich über den Standpunkt zu sprechen, von dem aus man auf den Ukrainekrieg blicken könnte und wohl auch sollte. Wir müssen auch dann über diesen Standpunkt sprechen, wenn es kein deutscher Standpunkt mehr ist, auf den wir gestellt worden sind. Denn wenn es wieder einer sein sollte, müssen wir bestimmen, von wo aus wir zu ihm aufbrechen müssen.
Ivor Claire hatte in der 110. Sezession, die das Thema “Geopolitik” behandelt, Grundsätzliches zur Lagevergessenheit der deutschen politischen Klasse gesagt. Zu jeder Zeit liefere die Ideologie der Sieger den Besiegten einen Rahmen zur Interpretation der Wirklichkeit. Deutschland habe als das Land der Besiegten von 1945 die Übernahme der Siegerstandpunkte so vollkommen internalisiert, daß es zu einer eigenen Interessensbekundung kaum mehr in der Lage sei.
Die meisten Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Unternehmer und akademisch ausgebildeten Durchschnittsmenschen hierzulande richten ihre Weltsicht an scheinbar universellen Idealen aus – worüber sie den reellen Standpunkt vergessen haben, von dem aus der Rahmen für ihre Interpretation der Wirklichkeit gesteckt wird. Diese Normen werden von den Mächten festgesetzt, die planetarische Politik in dieser oder jener Intensität treiben können, also von Subjekten und nicht von Objekten planetarischer Politik.
Das ist der springende Punkt, der von Guérot und Ritz so explizit nicht angesprochen, aber implizit auf Europa ausgeweitet wird: Weder Deutschland noch Europa sind zum jetzigen Zeitpunkt Subjekte, also souveräne Akteure im planetarischen Maßstab. Claire drückt diese Feststellung am Ende seines Beitrags so aus:
Nehmen wir probeweise etwa die Sicht einer global agierenden Supermacht ein, der es um die Beherrschung aller Räume weltweit geht, erscheint unsere Lage in Europa und der deutschen Provinz schlagartig in einem anderen, fahleren, für den fernen Hegemon unbedeutenden Licht – das kann weg.
Was ist aus dieser verheerenden Bestandsaufnahme abzuleiten? Wir müssen den deutschen Standort, so wir ihn auf seine außenpolitischen Optionen ausleuchten, als fundamental machtlos beschreiben – und den europäischen gleich mit. Alles andere ist Augenwischerei.
Wir waren und sind als Nationalstaat und als politische Union nicht in der Lage, Konflikte und Kriege, die uns betreffen, in unserem Sinne zu lösen, Handelsströme und wirtschaftliche Verflechtungen so aufzubauen und zu sichern, daß wir uns auf sie verlassen können und die zwingend notwendige Energiezufuhr so zu organisieren, daß wir über ihre Nutzung entscheiden und kein Dritter.
Ein Beispiel? Ein Akt wie die Sabotage an unseren Energie-Arterien Nordstream 1 und 2 ist ein feindlicher Akt. Er ist in seinen Auswirkungen für unsere Nation gravierender als es die Zerstörung des World-Trade-Centers für die USA war. Aber wer unter uns Deutschen kann das Datum der Sabotage nennen, ohne nachzuschlagen?
Sind wir dabei, aus dieser Zerstörung eines nicht militärischen, sondern nur ökonomischen Souveränitätsprojekts ein Mahnmal zu errichten, eine nationale Mobilisierungserzählung, wie es “Ground Zero” und “9/11” nicht nur für die USA, sondern weltweit geworden sind? Prägen wir irgendetwas von dem, was vor Bornholm mit uns gemacht worden ist, in unser nationales Gedächtnis ein?
Natürlich: Aufsteigende Blasen sind keine einschlagenden Flugzeuge, Löcher unter Wasser keine aufragenden Bauskelette, seismographische Ausschläge keine springenden, brennenden und erstickenden Menschen. Aber die Vereinigten Staaten von Amerika haben als das mächtigste Subjekt planetarischer Politik ihre eingestürzten Türme zum Anlaß genommen, zwei Nationen zu überfallen, sie in Bürgerkriege zu treiben, ihre Staatlichkeit zu zerstören und politische Erdbeben auszulösen, deren Flutwellen seither nicht über den Atlantik, sondern über Mittelmeer und Landbrücken nach Europa branden.
Von einstürzenden Türmen jenseits des Atlantiks zu einstürzenden Staatsgebäuden in Europas Nachbarschaft, von den Toten eines Tages zu den Toten zweier Jahrzehnte, von der Macht, so etwas zu tun, zur Machtlosigkeit, die Deutschland und Europa an ihre jeweils nächste Regierung zu verteilen haben: Das ist die Lage.
Diese Lage wird durch den Ukraine-Krieg fortgeschrieben und verfestigt. Dieser Krieg ist vom machtlosen deutschen und europäischen Standpunkt aus verheerend, vom kriegsmächtigen russischen aus ebenso, vom übermächtigen us-amerikanischen aus nicht.
Machtlosigkeit als deutsche und europäische Lage: Was also könnte eine andere Politik, eine alternative Politik weiter erlangen als wieder nur Machtlosigkeit? Geht es innerhalb Deutschlands noch um die Übernahme der Regierungsmacht zum Zwecke einer anderen Außenpolitik oder nur um die Übernahme der machtlosen Position einer Regierung in einem unsouveränen Land? Letzteres.
Welche Handlungsoptionen erwachsen aus dieser nüchternen und ernüchternden Lagefeststellung für diejenigen, die es im Sinne Deutschlands und Europas besser machen wollten? Die Antwort darauf berührt die Absicht, aus der heraus Guérot und Ritz ihren Essay wohl (und hoffentlich) geschrieben haben:
Die Handlungsoption aus der Machtlosigkeit heraus könnte für eine nicht lagevergessene, sondern lagebewußte Regierung nur sein, dem Volk – den Deutschen, den Europäern – ebendiese eigene Machtlosigkeit auf dem entscheidenden politischen Feld – dem außenpolitischen Feld – einzugestehen. Der europäische Friedensvorsatz, die kontinentale Politik, die Energiesicherung, letztlich die Beteiligung am multipolaren Spiel – das alles ist krachend gescheitert und das alles muß dargelegt und in seiner Dramatik beschrieben und bewertet werden.
Guérots und Ritz’ Essay über das Endspiel Europa ist in dieser Hinsicht ein publizistisches Maximum. Die Autoren erzählen die Vorgeschichte des Ukrainekrieges als Geschichte der Platzierung einer Stellvertreternation, die von einer raumfremden Macht – den USA – gegen das allmähliche und naheliegende ökonomische Zusammenwachsen der eurasischen Landmasse über Jahre in Stellung und im Februar dieses Jahres dann in den Einsatz gebracht worden ist.
Von den Etappen der NATO-Osterweiterung über die Militärabkommen mit der Ukraine und Georgien zum Regime Change 2014 (Maidan) und einer international aufgesattelten anti-russischen PR vor allem in den vergangenen Jahren:
Dies alles ist nicht weit hergeholt und kein anti-amerikanischer Affekt, sondern unverzichtbarer Anteil jener Realismus-Theorie der internationalen Beziehungen, auf deren Analysebesteck auch Professor Hans Neuhoff in seinem mittlerweile vielbeachteten Vortrag zurückgriff, den er im Rahmen der Geopolitik-Akademie des Instituts für Staatspolitik hielt.
Rechnen wir den Essay von Guérot und Ritz also zu dem hinzu, was Ivor Claire in seinem oben erwähnten Text fordert: zu einem grundsätzlichen Curriculum,
das darauf zielt, ein lageadäquates Denken im Sinne des Gemeinwohls und eine stete intellektuelle Neugier zu erzeugen.
Wenigstens das: Sinn für das Gemeinwohl und das Bewußtsein, daß dort, wo alle einer Meinung sind, meistens gelogen wird. Aber weil das, wie gesagt, bereits das intellektuelle Maximum in einem Land ist, dessen führende Klasse die Rolle des lagevergessenen Vasallen zu seiner ersten Haut gemacht hat, dürfen sich auch Guérot und Ritz am Ende des Tages nicht darüber wundern, daß es nun pfeift.
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Lesen! Ulrike Guérot und Hauke Ritz – Endspiel Europa – hier einsehen und bestellen.
Ivor Claires Text “Standort, Blickpunkt, Strategie” findet sich im Heft “Geopolitik” der Zeitschrift Sezession – hier einsehen und bestellen.
Hans Neuhoffs Vortrag “Ukraine – eine Lehrstunde der Geopolitik” ist auf youtube im Kanal Schnellroda zu sehen und sollte weit verbreitet werden.
Dieter Rose
Dann reden wir doch von
NINE/TWOSIX