Wichtigstes Anliegen scheint es dem Autor zu sein, darauf aufmerksam zu machen, wie »Verschwörungstheoretiker«, »Populisten« und »Rechtsradikale« den immer stärker zutage tretenden digitalen Strukturwandel für ihren eigenen Opportunismus nutzen und als Trittbrettfahrer des »Informationskapitalismus« unaufhörlich »Fake News« produzieren.
Vor allem an Donald Trump (»Bullshitter«) arbeitet er sich mit einer Inbrunst ab, die an Besessenheit grenzt. Geradezu mustergültig für kognitive Verzerrung ist seine penetrante Beschwörung des »Anderen«, welcher, wie Han meint, aufgrund der »Atomisierung und Narzifizierung der Gesellschaft« zunehmend abhanden komme und politischen Diskurs unmöglich mache – um im gleichen Atemzug sämtliche Andersdenkenden als Gespenster zu diffamieren und so erst recht zu ihrem Verschwinden beizutragen. »Ohne die Gegenwart des Anderen ist meine Meinung nicht diskursiv, nicht repräsentativ, sondern autistisch, doktrinär und dogmatisch«, schreibt Han – was eine perfekte Selbstbeschreibung ist.
Überzeugend war der Heidegger-Adept und Moderne-Kritiker mit koreanischen Wurzeln in seinen frühen Publikationen Transparenzgesellschaft (2012) und Müdigkeitsgesellschaft (2010), in denen er die neoliberalen Selbstvermarktungsstrategien als trügerische Freiheitsversprechungen entlarvte. Auch in seinem neuen Buch finden sich fesselnde Beobachtungen, so seine scharfsinnigen Ausführungen zum Smartphone als »Unterwerfungsmedium der Infokratie«, über den »Dataismus« als neue »psychopolitische Herrschaftsform, die auf datenbasierte Verhaltenskontrolle abziele« und das Politische, letztlich den Staat durch ein »datengetriebenes Systemmanagement« ersetze.
Ärgerlich hingegen sind Aussagen wie jene, daß in dieser Art anonymer Machtausübung kein Platz für Ideologien und andere gesamtgesellschaftliche Erzählungen sei. Was ist mit der Gender-Erzählung?, möchte man ihm zurufen, mit der Klima- und Anti-Rassismus-Ideologie? Auch der Corona-Kult scheint noch nicht zu ihm vorgedrungen zu sein.
So stellt er der Biopolitik des Foucaultschen Disziplinarregimes das neue Informationsregime gegenüber, das »Disziplinartechniken wie räumliche Isolierung obsolet« mache. »Das Informationsregime verfolgt keine Biopolitik«, unterstreicht er, »sein Interesse gilt nicht dem Körper«. Es scheint, als hätte er diese Zeilen vor Jahren geschrieben und sei danach in Tiefschlaf gefallen. Nicht nur in Sachen Corona hat Han den Anschluß verpaßt, für überholt hält er auch Orwells totalitären Überwachungsstaat: Gedankenpolizei und Wahrheitsministerium würden heute überflüssig, erklärt er, man beuge sich vielmehr freiwillig einer »strukturellen Ambivalenz«, die den »Trieb zur Wahrheit« auslösche.
Der Unwille zur Wahrheit bringe einen neuen Nihilismus hervor, ein »geschwächtes Realitätsbewußtsein«, das »Verschwörungstheoretikern und neurechten Verführern Tür und Tor öffne. Diese ersetzen eine gesamtgesellschaftliche identitätsstiftende Erzählung mit eigenen Narrativen«. Einlassungen wie diese lassen darauf schließen, daß Han genau dieselbe Wirklichkeitsvermeidung praktiziert, die er anprangert.
Lächerlich wird es, wenn er ausgerechnet fürs Fernsehen eine Lanze bricht: »Das Fernsehen mag ein Reich des Scheins sein, aber es ist keine Fabrik von Fake News.« Man fragt sich, in welcher Welt er lebt. Am Ende betont er paradoxerweise, daß eine intakte Lebenswelt »nur in einer relativ homogenen Gesellschaft möglich« sei, die »gleiche Werte und kulturelle Überlieferungen teilt«.
Bereits die Globalisierung habe »Überlieferungszusammenhänge« aufgelöst und »konventionelle Identitätsangebote« vernichtet. Was will er uns damit sagen? Ist Byung-Chul Han womöglich neurechten Verführern ins Netz gegangen? Es ist ein Bilderbuchbeispiel für die Befangenheit eines im Berliner Bobo-Milieu zu Ruhm gekommenen Denkers, der im Theoretischen durchaus richtig liegen mag, im Konkreten indes so daneben.
Der Abspann des Buches ist ein ebenso pathetischer Appell an den widerständigen Geist: »Der wahren Demokratie wohnt etwas Heroisches inne. Sie bedarf jener Personen, die es wagen, trotz allem Risiko das Wahre auszusprechen.«
Bleibt zu hoffen, daß die sich nicht von überschätzten Philosophen einschüchtern lassen.
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Byung-Chul Han: Infokratie, Digitalisierung und die Krise der Demokratie, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2021. 100 S., 10 €
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