Hegel von rechts, Hegel von links

von Georg Nachtmann -- PDF der Druckfassung aus Sezesssion 106/ Februar 2022

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Georg Wil­helm Fried­rich Hegel (1770 – 1831) ist einer jener weni­gen Geistes­titanen, an denen kaum jemand vor­bei­kommt, der sich ernst­haft fürs Den­ken inter­es­siert. Das gilt auch für alle, die in einem grund­le­gen­den Sin­ne poli­tisch den­ken, das heißt begrei­fen wol­len, was Gesell­schaft und Staat eigent­lich sind. Bemer­kens­wert an der Rezep­ti­on Hegels ist, daß sich sowohl Lin­ke als auch Rech­te affir­ma­tiv auf ihn beru­fen haben und es bis heu­te tun.

Die­se Eigen­tüm­lich­keit im Umgang mit der Hegel­schen Phi­lo­so­phie begann bereits kurz nach dem Tod des gebür­ti­gen Schwa­ben und aka­de­mi­schen Spät­zün­ders, der schließ­lich als Pro­fes­sor in Ber­lin zu einer der bekann­tes­te intel­lek­tu­el­len Per­sön­lich­kei­ten Euro­pas wur­de. Nach dem Able­ben des Meis­ters spal­te­te sich die Schü­ler­schaft in »Links-« und »Rechts­he­ge­lia­ner«.

Zwar ging es bei die­sen Eti­ket­ten in ers­ter Linie um die reli­gi­ons­phi­lo­so­phi­sche Fra­ge, ob und wie sich die Hegel­sche Phi­lo­so­phie mit einem ernst­haf­ten christ­li­chen Glau­ben ver­tra­ge. Der reli­gi­ons­phi­lo­so­phi­sche Streit hat­te aber auch eine poli­ti­sche Dimen­si­on. Die Reli­gi­ons­kri­tik der Links­he­ge­lia­ner, in deren Dunst­kreis sich auch der jun­ge Karl Marx beweg­te, ver­schmolz mit der radi­ka­len Kri­tik am poli­ti­schen Sta­tus quo.(1)

Statt uns aber in die Rezep­ti­ons­ge­schich­te zu ver­tie­fen, wol­len wir hier eine sach- und gegen­warts­be­zo­ge­ne Per­spek­ti­ve auf Hegels Poli­ti­sche ­Phi­lo­so­phie ein­neh­men. Auch wenn wir auf­grund der Reich­hal­tig­keit von Hegels Den­ken nicht alles anspre­chen kön­nen, was Erwäh­nung ver­dient hät­te, so wol­len wir die Anschluß­fä­hig­keit sei­ner Phi­lo­so­phie zumin­dest mit Blick auf ein paar zen­tra­le The­men der heu­ti­gen Lin­ken und Rech­ten untersuchen.

Um das leis­ten zu kön­nen, bedarf es zunächst einer Skiz­ze von Hegels Grund­li­ni­en der Phi­lo­so­phie des Rechts oder Natur­recht und Staats­wis­sen­schaft im Grund­ris­se (1821). Die Grund­li­ni­en ver­ei­nen nicht nur Natur­rechts­leh­re, Ethik, Sozi­al- und Staats­phi­lo­so­phie, son­dern war­ten am Ende sogar mit einem geschichts­phi­lo­so­phi­schen Aus­blick auf. Zusam­men­ge­hal­ten wird die­se immense Brei­te an The­men durch den Begriff des Rechts. Die­ser meint bei Hegel näm­lich nicht nur das posi­ti­ve Recht, son­dern ist in einem mög­lichst wei­ten Sin­ne als das Rich­ti­ge oder Rech­te zu verstehen.

Wie alle Begrif­fe sei­nes Sys­tems, so will Hegel auch den Begriff des Rechts nicht ein­fach von außen auf­neh­men oder ihn in einer bestimm­ten Bedeu­tung vor­aus­set­zen. Statt des­sen soll der Begriff des Rechts das Resul­tat eines dia­lek­ti­schen Denk­pro­zes­ses sein. Läßt man allen über­schüs­si­gen Dunst aus die­sem Nebel­wort, so heißt »Dia­lek­tik« bei Hegel aber im Grun­de nur: eine Sache der­art kon­se­quent zu Ende den­ken, daß sie im Zusam­men­hang mit ihrem Gegen­teil erkenn­bar wird.

Der Begriff des Rechts ergibt sich bei Hegel auf dia­lek­ti­sche Wei­se aus dem Begriff der Frei­heit. Die Bezie­hung die­ser bei­den Begrif­fe ist von höchs­ter Innig­keit: Das Recht ist nach Hegel letzt­lich nichts ande­res als das »Dasein der Frei­heit«, also die eigent­li­che Exis­ten­z­wei­se von Frei­heit. (2) Wie kommt es zu die­ser These?

Frei­heit heißt für Hegel weder tota­le Unge­bun­den­heit noch blo­ße Wahl­frei­heit, son­dern ratio­na­le Selbst­be­stim­mung. Damit wan­delt Hegel zunächst noch durch­aus auf den von Imma­nu­el Kant berei­te­ten Pfa­den, für den Frei­heit eben­falls nicht Belie­big­keit, son­dern Auto­no­mie, also Selbst­ge­setz­ge­bung, bedeu­tet. Mit dem Recht haben wir es nach Hegel also immer dort zu tun, wo sich der Mensch aus sich her­aus einer all­ge­mein­ver­bind­li­chen Hand­lungs- und Lebens­wei­se unterwirft.

Wie sich im Lau­fe der Grund­li­ni­en zeigt, kann das Recht als ver­wirk­lich­te Selbst­be­stim­mung auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne nicht gewähr­leis­tet wer­den. Letzt­lich bedarf es nach Hegel einer poli­ti­schen Gemein­schaft, um die all­ge­mei­ne Ver­bind­lich­keit des Rechts und damit der Frei­heit sicher­zu­stel­len. Auch wenn Hegel mit Blick auf die Meta­phy­sik als »abso­lu­ter Idea­list« bezeich­net wer­den darf, so zeigt er sich im Rah­men sei­ner Rechts­phi­lo­so­phie immer wie­der als Rea­list: Der Rechts­an­spruch auf Eigen­tum und Leben gehört Hegel zufol­ge einem fra­gi­len, bloß »abs­trak­ten Recht« an, solan­ge er kei­ne insti­tu­tio­nel­le Ver­an­ke­rung in einem rea­len poli­ti­schen Gemein­we­sen findet.

Auch die Beru­fung auf den »kate­go­ri­schen Impe­ra­tiv« oder das Gewis­sen hilft nach Hegel nicht wei­ter. Denn sol­che Grö­ßen, die Hegel der »Mora­li­tät« zurech­net, schaf­fen nur eine Schein­ver­bind­lich­keit, die nicht über den je Ein­zel­nen hin­aus­reicht. Statt einer indi­vi­du­el­len »Mora­li­tät« bedarf es nach Hegel daher eines gemein­schaft­li­chen Ethos, einer »Sitt­lich­keit«.

Der Begriff der Sitt­lich­keit ver­weist nicht auf ein theo­re­ti­sches Kon­strukt, son­dern auf eine leben­di­ge Wirk­lich­keit. Die Sitt­lich­keit ist näm­lich letzt­lich nichts ande­res als die Gesamt­heit der Sit­ten und der Bräu­che eines Vol­kes. Die Grund­li­ni­en sind aber natür­lich kein eth­no­lo­gi­sches Werk, in dem es um eine blo­ße Beschrei­bung des Fak­ti­schen gin­ge – bei Hegel etwa des real exis­tie­ren­den Preu­ßen um 1820. Statt des­sen besteht das Pro­jekt der Grund­li­ni­en dar­in, die idea­len Momen­te von Sitt­lich­keit als sol­cher auf den Begriff zu bringen.

Aus­gangs­punkt ist das sitt­li­che Ver­hält­nis von Ein­zel­nem und All­ge­mei­nem. Einer­seits trifft das Indi­vi­du­um in der Sitt­lich­keit auf Geset­ze und Vor­ga­ben, an denen sei­ne Will­kür nicht zu rüt­teln ver­mag. Ande­rer­seits emp­fin­det es – es sei erin­nert, wir spre­chen von der idea­len Sitt­lich­keit – die sitt­li­che Ord­nung als die sei­ne, das heißt als Aus­druck sei­ner eige­nen Frei­heit. Die Insti­tu­tio­nen der Sitt­lich­keit – ins­be­son­de­re die Fami­lie, Berufs­ver­bän­de, Gerich­te, Wohl­fahrts­ein­rich­tun­gen und der Staat selbst – sind, wie Hegel schreibt, »dem Sub­jekt nicht ein Frem­des, son­dern es gibt das Zeug­nis des Geis­tes von ihnen als von sei­nem eige­nen Wesen« (§ 147, S. 295).

Umge­kehrt hängt aber auch das Bestehen der sitt­li­chen Ord­nung von jener Zu- und Ein­stim­mung der Indi­vi­du­en ab. Wo das geleb­te Ver­trau­en in die Insti­tu­tio­nen nicht mehr gege­ben ist, zer­fällt das Gemein­wesen. Oder aber es muß auf äußer­li­che Wei­se, mit Gewalt­maß­nah­men, zusam­men­ge­hal­ten wer­den. Unter sol­chen Umstän­den wäre aber aus Hegel­scher Sicht nur noch von einer Schein­sitt­lich­keit zu sprechen.

Die Sitt­lich­keit erhält ihre inne­re Struk­tur durch drei insti­tu­tio­nel­le Groß­be­rei­che, die ein­an­der wie kon­zen­tri­sche Krei­se umfas­sen: ers­tens die Fami­lie als Keim­zel­le des Staa­tes, zwei­tens die bür­ger­li­che Gesell­schaft als Bereich der Ver­ein­ze­lung, und drit­tens der Staat, in dem sich die Gemein­schaft ihrer selbst als einer sitt­li­chen Ein­heit bewußt wird. Der Staat ist des­halb »die Wirk­lich­keit der sitt­li­chen Idee« (§ 257, S. 398). Das heißt, im Staat ver­wirk­licht sich, was Sitt­lich­keit eigent­lich, von ihrem Wesen her, ist. Auf der Ebe­ne des Staa­tes geht es nicht um die Beför­de­rung von Partikular­interessen, son­dern um das »all­ge­mei­ne Inter­es­se« (§ 278, S. 415).

All­ge­mei­nes und par­ti­ku­la­res Inter­es­se las­sen sich bei Hegel aber nicht gegen­ein­an­der aus­spie­len. Denn das all­ge­mei­ne Inter­es­se besteht in nichts ande­rem als der Inte­gra­ti­on des man­nig­fa­chen Par­ti­ku­lar­in­ter­es­ses in ein gedei­hen­des Gemein­we­sen. Der Zweck des Staa­tes ist also letzt­lich nur die Sitt­lich­keit selbst, ver­stan­den als das ver­trau­ens­vol­le Zusam­men­spiel von Ein­zel­nem und All­ge­mei­nem. Patrio­tis­mus besteht dem­entspre­chend für Hegel im »Bewußt­sein, daß mein sub­stan­ti­el­les und beson­de­res Inter­es­se im Inter­es­se und Zwe­cke eines Ande­ren (hier des Staats) als im Ver­hält­nis zu mir als Ein­zel­nem bewahrt und ent­hal­ten ist« (§ 268, S. 413).

Die eigen­tüm­li­che Logik des Hegel­schen Staats­be­griffs tritt in aller Schär­fe her­vor, wenn man ihn mit dem Begriff der bür­ger­li­chen Gesell­schaft kon­tras­tiert, die Hegel auch als einen »Not- und Ver­stan­des­staat« (§ 183, S. 340) bezeich­net. Wer den Staat nach Maß­ga­be der bür­ger­li­chen Gesell­schaft denkt, für den ist er ein Übel, wenn auch ein not­wen­di­ges. Man brau­che den Staat, damit sich die Indi­vi­du­en bei der Befrie­di­gung ihrer Inter­es­sen nicht in die Que­re kom­men. Bes­ser wäre es aber, es gin­ge ohne. Im schrof­fen Gegen­satz dazu ist der Hegel­sche Staat als sitt­li­che Grö­ße über­haupt kein Mit­tel, son­dern »End­zweck« (§ 260, S. 407).

Spä­tes­tens an die­sem Punkt dürf­te über­deut­lich wer­den, daß Hegels Staats­phi­lo­so­phie gänz­lich inkom­pa­ti­bel ist mit dem Libe­ra­lis­mus, dem sich auch der lin­ke Main­stream zu gro­ßen Tei­len ver­schrie­ben hat. Die Grund­an­nah­me des Libe­ra­lis­mus ist, daß es den frei­en Ein­zel­men­schen gibt, der sich nur aus Klug­heit oder der Not her­aus mit ande­ren Indi­vi­du­en zu einer Gesell­schaft zusam­men­schließt. Eine sol­che Gesell­schaft ist dann aber nie Gemein­schaft, son­dern nur eine Kol­lek­ti­on von Einzelnen.

Die­sen libe­ra­len Ato­mis­mus lehnt Hegel radi­kal ab, weil er Ernst macht mit der Aris­to­te­li­schen Bestim­mung des Men­schen als eines Zoon poli­ti­kon, oder wie es Ber­nard Will­ms in sei­ner Phi­lo­so­phie der ­Selbst­be­haup­tung gut aris­to­te­lisch-hege­lia­nisch auf den Punkt gebracht hat: »Mensch­li­che Exis­tenz ist poli­ti­sche Existenz.«(3) Erst als gemein­schaft­li­cher Rol­len­trä­ger, als Mit­glied einer Fami­lie und einer Nati­on, gewinnt der Ein­zel­ne eine selbst­be­stimm­te, sinn­haf­te Iden­ti­tät, für die es zu leben und im Extrem­fall sogar zu ster­ben lohnt.

Natur­ge­mäß haben die Libe­ra­len in die­sen Über­le­gun­gen immer nur den ver­derb­ten »Mythos der Hor­de« sehen kön­nen, wie es Karl Pop­per, der wohl berühm­tes­te Hegel­kri­ti­ker des 20. Jahr­hun­derts, for­mu­liert hat. (4) Dem­entspre­chend wur­de Hegel von libe­ra­ler Sei­te auch als Vor­den­ker des lin­ken wie rech­ten Tota­li­ta­ris­mus denun­ziert. (5) Hegel ist in der Tat meta­physisch wie poli­tisch ein Den­ker der Tota­li­tät. Tota­li­tät ist aber nicht Tota­li­ta­ris­mus. Hegels Tota­li­täts­den­ken zielt nicht dar­auf, das Indi­vi­du­el­le zuguns­ten eines ver­göt­ter­ten Kol­lek­tivs zum Ver­schwin­den zu brin­gen, son­dern auf die Ein­sicht, daß freie Indi­vi­dua­li­tät nur in und aus Gemein­schaft, und zwar letzt­lich poli­ti­scher Gemein­schaft, her­aus erwach­sen kann.

Eine anti­li­be­ra­le Staats­phi­lo­so­phie wie die Hegel­sche kann selbst­re­dend auch kein wohl­wol­len­des Urteil über das Kon­zept der demo­kra­ti­schen Par­tei­en­herr­schaft fäl­len. In der reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie, moniert Hegel, ist jede Par­tei immer nur Ver­tre­ter eines »beson­de­ren, zufäl­li­gen Inter­es­ses« (§ 311, S. 481). Denn sie reprä­sen­tiert kei­ne genu­in sitt­li­chen Ein­hei­ten wie Fami­li­en­bün­de oder Berufs­stän­de, son­dern steht immer nur für eine Anhäu­fung der Stim­men Ein­zel­ner. Par­tei­en kön­nen nach ­Hegel des­halb nie adäqua­te Ver­tre­ter des Gan­zen sein.

Hegels Kri­tik des auf Ver­ein­ze­lung beru­hen­den Libe­ra­lis­mus und der Par­tei­en­de­mo­kra­tie dürf­ten von andau­ern­dem Inter­es­se für die Rech­te sein. Ob aber Hegels Ein­ste­hen für eine exper­to­kra­tisch unter­füt­ter­te Mon­ar­chie mit Ele­men­ten stän­di­scher Reprä­sen­ta­ti­on eine aus­sichts­rei­che Alter­na­ti­ve dar­stellt, dürf­te weni­ger klar sein. Hät­te sie uns vor der Herr­schaft der Viro­lo­gen bewahrt? Fest steht auf jeden Fall, daß Hegels Staats­phi­lo­so­phie nicht mit einem Siche­rungs­me­cha­nis­mus auf­war­ten kann oder will, der vor poli­ti­schem Ver­fall und Deka­denz schüt­zen wür­de. Bei ihm kommt es letzt­lich auf den Geist einer Gemein­schaft, das tat­säch­lich geleb­te Ethos, eben die kon­kre­te Sitt­lich­keit an. Wo es so etwas nicht mehr gibt, kann kein for­ma­les Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zip, geschwei­ge denn ein Verfassungs­dokument, den Staat retten.

Ange­sichts unse­rer Schil­de­rung könn­te man sich ver­wun­dert die Augen rei­ben, daß sich über­haupt noch Lin­ke auf Hegel beru­fen. Daß sie es tun, dürf­te vor allem an einem Zug der Hegel­schen Phi­lo­so­phie lie­gen, über den wir uns bis­her aus­ge­schwie­gen haben, näm­lich an ihrem eman­zi­pa­to­ri­schen Fort­schritts­den­ken und Ver­nunft­uni­ver­sa­lis­mus. Wir erwähn­ten bereits, daß Hegel am Ende der Grund­li­ni­en in die Geschichts­phi­lo­so­phie über­lei­tet. Das ist kein Zufall. Denn Hegel erkennt, daß jeder Staat ein beson­de­rer Staat ist, der im Ver­hält­nis zu ande­ren Staa­ten ste­hen muß.

Wenn nun aber Frei­heit, Recht und Sitt­lich­keit sich letzt­lich nur im Statt ver­wirk­li­chen, wie ist dann mit der Plu­ra­li­tät von Staa­ten zu ver­fah­ren? Im Kon­flikt­fall ist, wie Hegel sagt, »kein Prä­tor vor­han­den, der da schlich­tet« (§ 340 Zusatz, S. 503) – zumin­dest nicht in Gestalt eines Staa­tes. Der ein­zi­ge Prä­tor, den es laut Hegel gibt, ist die Welt­ge­schich­te. Sie ist aber – so lau­tet Hegels gro­ße geschichts­phi­lo­so­phi­sche The­se – kein blin­der Pro­zeß, son­dern ein »Fort­schritt im Bewußt­sein der Frei­heit« und dadurch ver­nünf­tig. (6)

Ver­führt von die­ser Fort­schritts­rhe­to­rik, die auf einen glo­ba­len Sie­ges­zug von Ver­nunft und Frei­heit hin­aus­zu­lau­fen scheint, gilt Hegel man­chen – der frü­he Fran­cis Fuku­ya­ma läßt grü­ßen – sogar als Vor­kämp­fer einer kul­tu­rell wie poli­tisch ein­heit­li­chen glo­ba­len Welt­ord­nung jen­seits des Natio­nal­staats­prin­zips. (7) In einer sol­chen lin­ken Les­art wird aus Hegels sitt­li­cher Tugend des Patrio­tis­mus zwangs­läu­fig ein blo­ßer »Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus« (Dolf Stern­ber­ger) und aus dem Volk eine Bevölkerung.

Die Grund­li­ni­en wider­spre­chen dem: Trä­ger einer Sitt­lich­keit sind immer Völ­ker oder »Volks­geis­ter« (§ 340, S. 503). Bei einer Bevöl­ke­rung han­delt es sich dage­gen schon vom Begriff her um eine bloß zufäl­li­ge Ansamm­lung Ein­zel­ner. »Bevöl­ke­rung« kann daher nur das Prin­zip einer libe­ra­len Staats­leh­re sein, nie­mals aber einer Hegel­schen. Auch in punc­to Ver­ein­heit­li­chung der Welt spre­chen die Grund­li­ni­en eine kla­re Spra­che, die sich teil­wei­se wie ein vor­weg­ge­nom­me­ner Carl Schmitt liest. So hält Hegel es aus logisch-begriff­li­chen Grün­den, deren Erläu­te­rung hier zu weit füh­ren wür­de, für not­wen­dig, daß sich jedes staat­li­che Gebil­de »einen Gegen­satz kre­ieren und einen Feind erzeu­gen« muß (§ 324 Zusatz, S. 494). Einen Welt­ein­heits­staat kann es nach Hegel nicht geben.

Den­noch läßt sich an Hegels Staats­phi­lo­so­phie ein uni­ver­sa­lis­ti­scher Zug nicht weg­re­den, der vie­len Rech­ten, vor allem den Eth­no­plu­ra­lis­ten unter ihnen, nicht schme­cken dürf­te – der glo­ba­lis­ti­schen Lin­ken dafür aber um so mehr. So hat Mar­tin Licht­mesz den nahe­lie­gen­den Ver­dacht geäu­ßert, »ob sich nicht auch hin­ter Hegels Phi­lo­so­phie ein Eth­no­zen­tris­mus ver­steckt, der sich selbst zum Welt­maß gemacht hat.«(8)

Dar­auf ange­spro­chen, hät­te Hegel wohl frei­mü­tig zuge­stan­den, daß das Den­ken, eben­so wie die Frei­heit, tat­säch­lich erst in Euro­pa zu sich gekom­men sei. (9)

– – –

(1) – Vgl. Karl Marx: »Zur Kri­tik der Hegel­schen Rechts­phi­lo­so­phie«, in: Man­fred Rie­del (Hrsg.): Mate­ria­li­en zu Hegels Rechts­phi­lo­so­phie, Bd. 1, Frank­furt a. M. 1975, S. 350 – 364.

(2) – G. W. F. Hegel: Grund­li­ni­en der Phi­lo­so­phie des Rechts (= Wer­ke 12), Frank­furt a. M. 1986, § 30 Anmer­kung, S. 83.

(3) – Ber­nard Will­ms: Phi­lo­so­phie der Selbst­be­haup­tung (= rei­he kapla­ken 4), Schnell­ro­da 2007, S. 18.

(4) – Karl Pop­per: Die offe­ne Gesell­schaft und ihre Fein­de, Bd. 2, Tübin­gen 71992, S. 35 ff.

(5) – Vgl. Ernst Topitsch: Die Sozi­al­phi­lo­so­phie Hegels als Heils­leh­re und Herr­schafts­ideo­lo­gie, Mün­chen 21981.

(6) – G. W. F. Hegel: Vor­le­sun­gen über die Phi­lo­so­phie der Geschich­te (= Wer­ke 12), Frank­furt a. M. 1986, S. 32.

(7) – Vgl. Fran­cis Fuku­ya­ma: The End of Histo­ry and the Last Man, New York 1992.

(8) – Mar­tin Licht­mesz: Ethno­pluralismus. Kri­tik und Ver­tei­di­gung, Schnell­ro­da 2020, S. 128.

(9) – Vgl. Hegel: Phi­lo­so­phie der Geschich­te, S. 134: »Die Welt­ge­schich­te geht von Osten nach Wes­ten, denn Euro­pa ist schlecht­hin das Ende der Weltgeschichte«.

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