Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) ist einer jener wenigen Geistestitanen, an denen kaum jemand vorbeikommt, der sich ernsthaft fürs Denken interessiert. Das gilt auch für alle, die in einem grundlegenden Sinne politisch denken, das heißt begreifen wollen, was Gesellschaft und Staat eigentlich sind. Bemerkenswert an der Rezeption Hegels ist, daß sich sowohl Linke als auch Rechte affirmativ auf ihn berufen haben und es bis heute tun.
Diese Eigentümlichkeit im Umgang mit der Hegelschen Philosophie begann bereits kurz nach dem Tod des gebürtigen Schwaben und akademischen Spätzünders, der schließlich als Professor in Berlin zu einer der bekannteste intellektuellen Persönlichkeiten Europas wurde. Nach dem Ableben des Meisters spaltete sich die Schülerschaft in »Links-« und »Rechtshegelianer«.
Zwar ging es bei diesen Etiketten in erster Linie um die religionsphilosophische Frage, ob und wie sich die Hegelsche Philosophie mit einem ernsthaften christlichen Glauben vertrage. Der religionsphilosophische Streit hatte aber auch eine politische Dimension. Die Religionskritik der Linkshegelianer, in deren Dunstkreis sich auch der junge Karl Marx bewegte, verschmolz mit der radikalen Kritik am politischen Status quo.(1)
Statt uns aber in die Rezeptionsgeschichte zu vertiefen, wollen wir hier eine sach- und gegenwartsbezogene Perspektive auf Hegels Politische Philosophie einnehmen. Auch wenn wir aufgrund der Reichhaltigkeit von Hegels Denken nicht alles ansprechen können, was Erwähnung verdient hätte, so wollen wir die Anschlußfähigkeit seiner Philosophie zumindest mit Blick auf ein paar zentrale Themen der heutigen Linken und Rechten untersuchen.
Um das leisten zu können, bedarf es zunächst einer Skizze von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821). Die Grundlinien vereinen nicht nur Naturrechtslehre, Ethik, Sozial- und Staatsphilosophie, sondern warten am Ende sogar mit einem geschichtsphilosophischen Ausblick auf. Zusammengehalten wird diese immense Breite an Themen durch den Begriff des Rechts. Dieser meint bei Hegel nämlich nicht nur das positive Recht, sondern ist in einem möglichst weiten Sinne als das Richtige oder Rechte zu verstehen.
Wie alle Begriffe seines Systems, so will Hegel auch den Begriff des Rechts nicht einfach von außen aufnehmen oder ihn in einer bestimmten Bedeutung voraussetzen. Statt dessen soll der Begriff des Rechts das Resultat eines dialektischen Denkprozesses sein. Läßt man allen überschüssigen Dunst aus diesem Nebelwort, so heißt »Dialektik« bei Hegel aber im Grunde nur: eine Sache derart konsequent zu Ende denken, daß sie im Zusammenhang mit ihrem Gegenteil erkennbar wird.
Der Begriff des Rechts ergibt sich bei Hegel auf dialektische Weise aus dem Begriff der Freiheit. Die Beziehung dieser beiden Begriffe ist von höchster Innigkeit: Das Recht ist nach Hegel letztlich nichts anderes als das »Dasein der Freiheit«, also die eigentliche Existenzweise von Freiheit. (2) Wie kommt es zu dieser These?
Freiheit heißt für Hegel weder totale Ungebundenheit noch bloße Wahlfreiheit, sondern rationale Selbstbestimmung. Damit wandelt Hegel zunächst noch durchaus auf den von Immanuel Kant bereiteten Pfaden, für den Freiheit ebenfalls nicht Beliebigkeit, sondern Autonomie, also Selbstgesetzgebung, bedeutet. Mit dem Recht haben wir es nach Hegel also immer dort zu tun, wo sich der Mensch aus sich heraus einer allgemeinverbindlichen Handlungs- und Lebensweise unterwirft.
Wie sich im Laufe der Grundlinien zeigt, kann das Recht als verwirklichte Selbstbestimmung auf individueller Ebene nicht gewährleistet werden. Letztlich bedarf es nach Hegel einer politischen Gemeinschaft, um die allgemeine Verbindlichkeit des Rechts und damit der Freiheit sicherzustellen. Auch wenn Hegel mit Blick auf die Metaphysik als »absoluter Idealist« bezeichnet werden darf, so zeigt er sich im Rahmen seiner Rechtsphilosophie immer wieder als Realist: Der Rechtsanspruch auf Eigentum und Leben gehört Hegel zufolge einem fragilen, bloß »abstrakten Recht« an, solange er keine institutionelle Verankerung in einem realen politischen Gemeinwesen findet.
Auch die Berufung auf den »kategorischen Imperativ« oder das Gewissen hilft nach Hegel nicht weiter. Denn solche Größen, die Hegel der »Moralität« zurechnet, schaffen nur eine Scheinverbindlichkeit, die nicht über den je Einzelnen hinausreicht. Statt einer individuellen »Moralität« bedarf es nach Hegel daher eines gemeinschaftlichen Ethos, einer »Sittlichkeit«.
Der Begriff der Sittlichkeit verweist nicht auf ein theoretisches Konstrukt, sondern auf eine lebendige Wirklichkeit. Die Sittlichkeit ist nämlich letztlich nichts anderes als die Gesamtheit der Sitten und der Bräuche eines Volkes. Die Grundlinien sind aber natürlich kein ethnologisches Werk, in dem es um eine bloße Beschreibung des Faktischen ginge – bei Hegel etwa des real existierenden Preußen um 1820. Statt dessen besteht das Projekt der Grundlinien darin, die idealen Momente von Sittlichkeit als solcher auf den Begriff zu bringen.
Ausgangspunkt ist das sittliche Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem. Einerseits trifft das Individuum in der Sittlichkeit auf Gesetze und Vorgaben, an denen seine Willkür nicht zu rütteln vermag. Andererseits empfindet es – es sei erinnert, wir sprechen von der idealen Sittlichkeit – die sittliche Ordnung als die seine, das heißt als Ausdruck seiner eigenen Freiheit. Die Institutionen der Sittlichkeit – insbesondere die Familie, Berufsverbände, Gerichte, Wohlfahrtseinrichtungen und der Staat selbst – sind, wie Hegel schreibt, »dem Subjekt nicht ein Fremdes, sondern es gibt das Zeugnis des Geistes von ihnen als von seinem eigenen Wesen« (§ 147, S. 295).
Umgekehrt hängt aber auch das Bestehen der sittlichen Ordnung von jener Zu- und Einstimmung der Individuen ab. Wo das gelebte Vertrauen in die Institutionen nicht mehr gegeben ist, zerfällt das Gemeinwesen. Oder aber es muß auf äußerliche Weise, mit Gewaltmaßnahmen, zusammengehalten werden. Unter solchen Umständen wäre aber aus Hegelscher Sicht nur noch von einer Scheinsittlichkeit zu sprechen.
Die Sittlichkeit erhält ihre innere Struktur durch drei institutionelle Großbereiche, die einander wie konzentrische Kreise umfassen: erstens die Familie als Keimzelle des Staates, zweitens die bürgerliche Gesellschaft als Bereich der Vereinzelung, und drittens der Staat, in dem sich die Gemeinschaft ihrer selbst als einer sittlichen Einheit bewußt wird. Der Staat ist deshalb »die Wirklichkeit der sittlichen Idee« (§ 257, S. 398). Das heißt, im Staat verwirklicht sich, was Sittlichkeit eigentlich, von ihrem Wesen her, ist. Auf der Ebene des Staates geht es nicht um die Beförderung von Partikularinteressen, sondern um das »allgemeine Interesse« (§ 278, S. 415).
Allgemeines und partikulares Interesse lassen sich bei Hegel aber nicht gegeneinander ausspielen. Denn das allgemeine Interesse besteht in nichts anderem als der Integration des mannigfachen Partikularinteresses in ein gedeihendes Gemeinwesen. Der Zweck des Staates ist also letztlich nur die Sittlichkeit selbst, verstanden als das vertrauensvolle Zusammenspiel von Einzelnem und Allgemeinem. Patriotismus besteht dementsprechend für Hegel im »Bewußtsein, daß mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des Staats) als im Verhältnis zu mir als Einzelnem bewahrt und enthalten ist« (§ 268, S. 413).
Die eigentümliche Logik des Hegelschen Staatsbegriffs tritt in aller Schärfe hervor, wenn man ihn mit dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft kontrastiert, die Hegel auch als einen »Not- und Verstandesstaat« (§ 183, S. 340) bezeichnet. Wer den Staat nach Maßgabe der bürgerlichen Gesellschaft denkt, für den ist er ein Übel, wenn auch ein notwendiges. Man brauche den Staat, damit sich die Individuen bei der Befriedigung ihrer Interessen nicht in die Quere kommen. Besser wäre es aber, es ginge ohne. Im schroffen Gegensatz dazu ist der Hegelsche Staat als sittliche Größe überhaupt kein Mittel, sondern »Endzweck« (§ 260, S. 407).
Spätestens an diesem Punkt dürfte überdeutlich werden, daß Hegels Staatsphilosophie gänzlich inkompatibel ist mit dem Liberalismus, dem sich auch der linke Mainstream zu großen Teilen verschrieben hat. Die Grundannahme des Liberalismus ist, daß es den freien Einzelmenschen gibt, der sich nur aus Klugheit oder der Not heraus mit anderen Individuen zu einer Gesellschaft zusammenschließt. Eine solche Gesellschaft ist dann aber nie Gemeinschaft, sondern nur eine Kollektion von Einzelnen.
Diesen liberalen Atomismus lehnt Hegel radikal ab, weil er Ernst macht mit der Aristotelischen Bestimmung des Menschen als eines Zoon politikon, oder wie es Bernard Willms in seiner Philosophie der Selbstbehauptung gut aristotelisch-hegelianisch auf den Punkt gebracht hat: »Menschliche Existenz ist politische Existenz.«(3) Erst als gemeinschaftlicher Rollenträger, als Mitglied einer Familie und einer Nation, gewinnt der Einzelne eine selbstbestimmte, sinnhafte Identität, für die es zu leben und im Extremfall sogar zu sterben lohnt.
Naturgemäß haben die Liberalen in diesen Überlegungen immer nur den verderbten »Mythos der Horde« sehen können, wie es Karl Popper, der wohl berühmteste Hegelkritiker des 20. Jahrhunderts, formuliert hat. (4) Dementsprechend wurde Hegel von liberaler Seite auch als Vordenker des linken wie rechten Totalitarismus denunziert. (5) Hegel ist in der Tat metaphysisch wie politisch ein Denker der Totalität. Totalität ist aber nicht Totalitarismus. Hegels Totalitätsdenken zielt nicht darauf, das Individuelle zugunsten eines vergötterten Kollektivs zum Verschwinden zu bringen, sondern auf die Einsicht, daß freie Individualität nur in und aus Gemeinschaft, und zwar letztlich politischer Gemeinschaft, heraus erwachsen kann.
Eine antiliberale Staatsphilosophie wie die Hegelsche kann selbstredend auch kein wohlwollendes Urteil über das Konzept der demokratischen Parteienherrschaft fällen. In der repräsentativen Demokratie, moniert Hegel, ist jede Partei immer nur Vertreter eines »besonderen, zufälligen Interesses« (§ 311, S. 481). Denn sie repräsentiert keine genuin sittlichen Einheiten wie Familienbünde oder Berufsstände, sondern steht immer nur für eine Anhäufung der Stimmen Einzelner. Parteien können nach Hegel deshalb nie adäquate Vertreter des Ganzen sein.
Hegels Kritik des auf Vereinzelung beruhenden Liberalismus und der Parteiendemokratie dürften von andauerndem Interesse für die Rechte sein. Ob aber Hegels Einstehen für eine expertokratisch unterfütterte Monarchie mit Elementen ständischer Repräsentation eine aussichtsreiche Alternative darstellt, dürfte weniger klar sein. Hätte sie uns vor der Herrschaft der Virologen bewahrt? Fest steht auf jeden Fall, daß Hegels Staatsphilosophie nicht mit einem Sicherungsmechanismus aufwarten kann oder will, der vor politischem Verfall und Dekadenz schützen würde. Bei ihm kommt es letztlich auf den Geist einer Gemeinschaft, das tatsächlich gelebte Ethos, eben die konkrete Sittlichkeit an. Wo es so etwas nicht mehr gibt, kann kein formales Organisationsprinzip, geschweige denn ein Verfassungsdokument, den Staat retten.
Angesichts unserer Schilderung könnte man sich verwundert die Augen reiben, daß sich überhaupt noch Linke auf Hegel berufen. Daß sie es tun, dürfte vor allem an einem Zug der Hegelschen Philosophie liegen, über den wir uns bisher ausgeschwiegen haben, nämlich an ihrem emanzipatorischen Fortschrittsdenken und Vernunftuniversalismus. Wir erwähnten bereits, daß Hegel am Ende der Grundlinien in die Geschichtsphilosophie überleitet. Das ist kein Zufall. Denn Hegel erkennt, daß jeder Staat ein besonderer Staat ist, der im Verhältnis zu anderen Staaten stehen muß.
Wenn nun aber Freiheit, Recht und Sittlichkeit sich letztlich nur im Statt verwirklichen, wie ist dann mit der Pluralität von Staaten zu verfahren? Im Konfliktfall ist, wie Hegel sagt, »kein Prätor vorhanden, der da schlichtet« (§ 340 Zusatz, S. 503) – zumindest nicht in Gestalt eines Staates. Der einzige Prätor, den es laut Hegel gibt, ist die Weltgeschichte. Sie ist aber – so lautet Hegels große geschichtsphilosophische These – kein blinder Prozeß, sondern ein »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« und dadurch vernünftig. (6)
Verführt von dieser Fortschrittsrhetorik, die auf einen globalen Siegeszug von Vernunft und Freiheit hinauszulaufen scheint, gilt Hegel manchen – der frühe Francis Fukuyama läßt grüßen – sogar als Vorkämpfer einer kulturell wie politisch einheitlichen globalen Weltordnung jenseits des Nationalstaatsprinzips. (7) In einer solchen linken Lesart wird aus Hegels sittlicher Tugend des Patriotismus zwangsläufig ein bloßer »Verfassungspatriotismus« (Dolf Sternberger) und aus dem Volk eine Bevölkerung.
Die Grundlinien widersprechen dem: Träger einer Sittlichkeit sind immer Völker oder »Volksgeister« (§ 340, S. 503). Bei einer Bevölkerung handelt es sich dagegen schon vom Begriff her um eine bloß zufällige Ansammlung Einzelner. »Bevölkerung« kann daher nur das Prinzip einer liberalen Staatslehre sein, niemals aber einer Hegelschen. Auch in puncto Vereinheitlichung der Welt sprechen die Grundlinien eine klare Sprache, die sich teilweise wie ein vorweggenommener Carl Schmitt liest. So hält Hegel es aus logisch-begrifflichen Gründen, deren Erläuterung hier zu weit führen würde, für notwendig, daß sich jedes staatliche Gebilde »einen Gegensatz kreieren und einen Feind erzeugen« muß (§ 324 Zusatz, S. 494). Einen Welteinheitsstaat kann es nach Hegel nicht geben.
Dennoch läßt sich an Hegels Staatsphilosophie ein universalistischer Zug nicht wegreden, der vielen Rechten, vor allem den Ethnopluralisten unter ihnen, nicht schmecken dürfte – der globalistischen Linken dafür aber um so mehr. So hat Martin Lichtmesz den naheliegenden Verdacht geäußert, »ob sich nicht auch hinter Hegels Philosophie ein Ethnozentrismus versteckt, der sich selbst zum Weltmaß gemacht hat.«(8)
Darauf angesprochen, hätte Hegel wohl freimütig zugestanden, daß das Denken, ebenso wie die Freiheit, tatsächlich erst in Europa zu sich gekommen sei. (9)
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(1) – Vgl. Karl Marx: »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in: Manfred Riedel (Hrsg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1975, S. 350 – 364.
(2) – G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (= Werke 12), Frankfurt a. M. 1986, § 30 Anmerkung, S. 83.
(3) – Bernard Willms: Philosophie der Selbstbehauptung (= reihe kaplaken 4), Schnellroda 2007, S. 18.
(4) – Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, Tübingen 71992, S. 35 ff.
(5) – Vgl. Ernst Topitsch: Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, München 21981.
(6) – G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (= Werke 12), Frankfurt a. M. 1986, S. 32.
(7) – Vgl. Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York 1992.
(8) – Martin Lichtmesz: Ethnopluralismus. Kritik und Verteidigung, Schnellroda 2020, S. 128.
(9) – Vgl. Hegel: Philosophie der Geschichte, S. 134: »Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte«.