Ein Dreivierteljahrhundert liegt der Hungerwinter von 1946 / 47 zurück, und angesichts der in der Bundesrepublik Deutschland betriebenen Geschichtspolitik hütet sich der angepaßte Historiker, der sich nicht ins publizistische Abseits stellen will, davor, die alliierten Sieger dafür zumindest mitverantwortlich zu machen.
Statt dessen werden euphemistische Termini wie »Deutschlands humanitäre Katastrophe« verwendet – so im Untertitel des Buches von Alexander Häusser und Gordian Maugg (Erstveröffentlichung im Jahr 2009, im April 2021 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung nachgedruckt und dort gegen Schutzgebühr zu beziehen), das als Begleitband des ARD-Dokudramas Hungerwinter – Überleben nach dem Krieg von 2009 konzipiert wurde. Diese Doku-Soap widmet sich in einer »Kombination von Interviews und filmischer Rekonstruktion« dem vier Monate andauernden Hungerwinter, der einer der kältesten seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen war. Auf den Zeitraum 1881 bis 2020 bezogen, war jener Winter der viertkälteste.
Bereits im Frühjahr 1946 war abzusehen, daß es im besiegten und besetzten Deutschland zu großen Engpässen in der Versorgung kommen und daß die zunächst geplante Zuteilung von 1550 Kalorien pro Tag verfehlt werden würde. Von diesem Maximalziel (immerhin der Bedarf eines Erwachsenen) mußten immer weitere Abstriche gemacht werden, so daß in der französischen Besatzungszone letztlich bloß 800 Kalorien täglich übrigblieben. Und auch in der späteren amerikanisch-britischen Zone, der Bizone, wurden regional und zeitlich schwankend nur 700 bis 1200 Kalorien täglich zugeteilt. Der normale Tagesbedarf liegt – ohne körperliche Arbeit – bei etwa 2500 Kalorien. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und den abgetrennten Ostgebieten war die Lage noch schlimmer.
Nur die auf dem Land lebenden Deutschen – und dies waren in den westlichen Besatzungszonen circa 15 Prozent der Bevölkerung – konnten ihren Bedarf selbst decken und standen somit besser da als der Rest. Die Masse der »Normalverbraucher« mußte hungern, falls sie kein Anrecht auf Sonderrationen besaß, in einer Großstadt lebte, nicht »hamstern« oder auf dem florierenden Schwarzmarkt im Tausch für eigene Gegenstände Lebensmittel erlangen konnte. Noch viel stärker galt dies für die Alten und die Kranken sowie für die etwa acht Millionen Heimatvertriebenen, die bis Ende 1947 in die Besatzungszonen der USA und Großbritanniens strömten (Frankreich hatte in seiner Zone erst gar keine Vertriebenen zugelassen).
In ganz Europa herrschte eine allgemeine Notlage, fast überall mußten Lebensmittel rationiert werden. Für Deutschland kam erschwerend hinzu, daß Produktionsstätten und Infrastruktur von den Alliierten ebenso systematisch zerstört worden waren wie Wohngebiete und Versorgungszentren. Die alliierten Militäradministrationen übten einen zum Teil ganz massiven Druck aus, damit die Deutschen die Reparationen ablieferten und die Demontage von Teilen der deutschen Industrie auch in die Tat umgesetzt wurde. Durch das alles gab es Mitte 1947 in den Westzonen fast kein Saatgut, keinen Dünger und auch keine landwirtschaftlichen Maschinen mehr. In Hamburg gab es im Winter 1946 / 47 keine Kohle und keine Briketts, seit Eis und Schnee die Bahnstrecken blockierten und keine Güterzüge mehr durchkommen konnten. In manchen Städten halfen sich Einwohner selbst und plünderten die Kohlenzüge – so in Köln die Brikett-Transporte aus dem benachbarten Braunkohlegebiet.
Schon im ersten auf das Kriegsende folgenden Winter, dem von 1945 / 46, wiesen zahlreiche Deutsche Hungerödeme auf, was Ärzte mit Besorgnis registrierten und weswegen sie die zuständigen Stellen vor einer Eskalation warnten. Doch als im November 1946 das Unheil einsetzte, waren die alliierten Militärverwaltungen auf nichts vorbereitet.
»Eine Hungersnot im üblichen Sinne besteht nicht«, zitierte der Spiegel im März 1947 den englischen Minister John Hynd als verantwortlichen Mann für die britische Besatzungszone. Der Spiegel weiter: »Die Statistiken sagen etwas anderes. Die Ärztekammer Hamburg teilt mit, daß 60 000 Personen wegen Hungerödemen Zusatzkost erhalten. In Berlin begingen von 333 Selbstmördern 168 die Tat aus Nahrungssorgen.«
Innerhalb sehr kurzer Zeit kam es durch den eisigen Winter zum Zusammenbruch der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Brennstoff sowie zum Chaos in Sachen Wohnraum. Die Westalliierten handelten nicht wie Befreier und Freunde, sondern wie Besatzer – ihnen fiel zur Behebung dieser Nöte nichts anderes ein als Zwang und Androhung von Strafen. Das »Hamstern« wurde zwar auch bereits während des Krieges bestraft, allerdings verschärften die Alliierten die Strafen drastisch. Wer beim Kartoffelnlesen erwischt wurde, kam in der britische Zone drei Monate ins Gefängnis.
Die notleidenden Deutschen halfen sich dagegen mit dem berühmt gewordenen »Fringsen«: In seiner Silvesterpredigt 1946 rechtfertigte der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Frings moralisch den Mundraub von Lebensmitteln sowie das »Organisieren« von Kohle für den eigenen Bedarf und ermunterte damit immer mehr Deutsche zu dieser Form von Selbsthilfe. Auch der Schmuggel florierte, insbesondere im Grenzgebiet (wie in der Nähe von Aachen, in Nachbarschaft zu Belgien und den Niederlanden). Schätzungen besagen, daß sich etwa die Hälfte des gewerblichen Umsatzes durch Tausch und durch Schwarzmarkt außerhalb der Bewirtschaftung vollzog.
Wie an Nahrungsmitteln, so fehlte es den Deutschen an den notwendigsten Gütern des täglichen Bedarfs und an Kleidern. Was fehlte, suchten sich die Gepeinigten auf dem schwarzen Markt zu beschaffen, und parallel dazu verlor das Geld immer mehr an Wert. Die Neue Zeitung vom 21. April 1947 nannte die Schwarzmarktpreise in der britischen Zone: »Butter 240 – 250 Mark das Pfund, Speck 200 Mark, Fleisch 60 – 80 Mark, Zucker 70 – 90 Mark, Mehl 30 Mark, drei Pfund Brot 25 Mark, ein Bückling 5 Mark.« Der Lohn eines Facharbeiters betrug zu dieser Zeit gerade einmal 230 Mark monatlich.
Eine durchgreifende Lösung der Probleme konnten jedoch nur die Westalliierten ins Werk setzen, aber sie machten dies erst, als die Hungerdemonstrationen der ihnen auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Deutschen immer größere Dimensionen annahmen. Bald war nicht mehr zu übersehen, daß zwischen dem Hunger und dem Einbruch der Arbeitsleistung ebenso ein Zusammenhang bestand wie zwischen westalliierter Kommandowirtschaft und der Existenz von Versorgungslücken. Allein zwischen März und Juni 1947 demonstrierten speziell im Ruhrgebiet mehr als eine Million Deutsche oder legten die Arbeit nieder.
Was US-Amerikaner, Briten und Franzosen daraufhin unternahmen, war bescheiden. Zum 1. Januar 1947 fusionierten die beiden Erstgenannten ihre Besatzungszonen zur Bizone. Frankreich schloß sich mit seiner Zone – allerdings ohne das Saarland – erst im April 1948 an: Das (unter anderem in einem damaligen Karnevalslied) selbstironisch so genannte »Trizonesien« war entstanden. In der Zwischenzeit stürzte die deutsche Pro-Kopf-Produktion auf den Stand des Jahres 1865 (!) ab. Selbst, als im Frühjahr 1947 die Krise größtenteils überwunden schien, empfing der deutsche »Normalverbraucher« gerade einmal umgerechnet 335 Gramm Brot, 270 Gramm Kartoffeln, zehn Gramm Fleisch, acht Gramm Fett, zwei Gramm Käse, 100 Milliliter Milch sowie 17 Gramm Zucker täglich. In manchen Gegenden war es noch weniger so wurden im Landkreis Wasserburg am Inn im Mai 1947 nur 167 Gramm Brot pro Tag verteilt.
Unter derartigen Verhältnissen grassierten selbstverständlich Krankheiten, besonders die Tuberkulose. So standen im Sommer 1947 für 40 000 Fälle von offener Tuberkulose in der Bizone keine Krankenhausbetten zur Verfügung. Die Todesrate stieg an: auf 28,5 Prozent von 1000 erkrankten Personen in den ersten drei Monaten des Jahres 1947. Im Vergleich dazu lag sie in New York im Jahr 1946 bei 10,1 Prozent von 1000 erkrankten Personen. Es ist bis heute nicht bekannt, wie viele Deutsche an Hunger und durch Hunger ausgelöste Krankheiten starben, doch muß von einigen hunderttausend Opfern ausgegangen werden, in der Mehrzahl Kinder, Alte und Schwache. Und auch derjenige, der überlebte, hatte oft an mittel- und langfristigen Folgen zu leiden, ausgelöst durch einen übermäßigen Verbrauch physischer wie psychischer Reserven, der teilweise bereits in den so strapaziösen Jahren des Zweiten Weltkriegs begonnen hatte.
Die Menschen, die kaum noch Sinn im Dasein zu erkennen vermochten, verfielen in Apathie. Was ihnen an Lebenskraft verblieben war, wurde im täglichen Überlebenskampf aufgezehrt. Ganz zutreffend urteilte der österreichische und deutsche Wirtschaftspublizist Gustav Stolper, der von 1930 bis 1932 für die Deutsche Staatspartei im Deutschen Reichstag gesessen hatte: »Vieles, was im Jahre 1945 an materiellen Hilfsmitteln und an moralischer Kraft tatsächlich verschont blieb, wurde in den folgenden zwei Jahren alliierter Politik verschleudert. Im Sommer und Herbst 1947 war das deutsche Volk in vieler Beziehung nicht besser, sondern schlechter daran als je zuvor nach dem Zusammenbruch.«
In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es auf alliierter Seite hier und da einige Stimmen, die den Siegern Doppelmoral vorwarfen. In diesem Kontext wäre etwa der britisch-jüdische Verleger und Sozialist Victor Gollancz zu nennen. Ihn hatten die Eindrücke, die er während eines Besuchs im zerstörten Nachkriegsdeutschland gewonnen hatte, zumindest nachdenklich gestimmt. Deshalb äußerte er in seinem 1946 in London erschienenen Buch Our Threatened Values, das 1947 in Zürich in deutscher Sprache erschien: »Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Maß von Brutalität.«
Und über das vom Hunger ausgelöste Sterben in Deutschland sowie über dessen Wirkung auf die von den Anglo-Amerikanern angestrebte Reeducation meinte Victor Gollancz: »Es gibt wirklich nur eine Methode der Umerziehung von Menschen, nämlich das Beispiel, das man selber vorlebt.« Doch in dieser Beziehung gaben die Alliierten ein denkbar schlechtes Vorbild ab.
Der »weiße Tod« aufgrund der eisigen Kälte und der »schwarze Hunger« mittels der vorsätzlichen Dezimierung der nicht im Krieg umgekommenen Deutschen durch die Sieger ließen verständlicherweise viele »Trizonesier« annehmen, daß die Verfechter eines rigorosen, eines »karthagischen« Straffriedens im Lager der Alliierten weiter den Ton angeben würden. Daß sich in der Folge daran einiges zugunsten der unterworfenen Deutschen änderte, hatte nicht unbedingt etwas damit zu tun, daß US-Amerikaner und Briten die Unmenschlichkeit ihrer Politik eingesehen hätten.
Es waren außenpolitische Erwägungen, die zur milderen Behandlung der Deutschen führten: In dem ab 1947 verstärkt auftretenden Gegensatz zu Josef Stalins UdSSR samt ihren Trabanten und dem sich daraus entwickelnden Kalten Krieg benötigten die westliche Führungsmacht USA und ihr britischer Juniorpartner jeden Mitstreiter. Daß nun die (West-)Deutschen dabei mitziehen würden, wenn die ihnen »geschenkte« Demokratie doch nur gleichbedeutend mit Hunger und Elend wäre, nahmen nicht einmal die Strategen in Washington und London an.
So trat denn der Wandel im Umgang der Sieger mit den Besiegten ein, und es entstand jenes bis heute gepflegte Erfolgsnarrativ, wonach die vormaligen Feinde des Menschengeschlechts zu Musterschülern der Demokratie wurden.