Stefan Kurt Treiber: Helden oder Feiglinge?

Am 27. Juli 2002 trat in Deutschland ein Gesetz in Kraft, das die »Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege« auch für den Straftatbestand der Desertation vorsah.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Die Initia­ti­ve zu die­ser Aus­wei­tung kam von der rot-grü­nen Koali­ti­on und wur­de von der PDS unter­stützt, FDP und CDU / CSU beton­ten in der Debat­te hin­ge­gen, daß durch die­se Rege­lung sowohl die Sol­da­ten, die nicht deser­tiert waren, als auch die Rich­ter, die sol­che Urtei­le gefällt hat­ten, pau­schal als Unter­stüt­zer und Voll­stre­cker des Unrechts dis­qua­li­fi­ziert wür­den. Inter­es­sant ist im Rück­blick nicht nur, daß eine sol­che Posi­ti­on bei den »bür­ger­li­chen« Par­tei­en heu­te undenk­bar wäre, son­dern auch, daß die­se Rege­lung ohne eine ein­ge­hen­de Prü­fung die­ser Urtei­le erfolgt ist.

Auch wenn der Titel des Buches etwas ande­res ver­mu­ten läßt, ist Ste­fan Kurt Trei­ber dar­um bemüht, die­se Prü­fung nach­zu­ho­len und ein dif­fe­ren­zier­tes Bild des »Deser­teurs« zu ent­wer­fen. Das Buch ist die über­ar­bei­te­te Fas­sung sei­ner Dis­ser­ta­ti­on, die den pas­sen­de­ren Titel Deser­teu­re der Wehr­macht – Ein Sozi­al­pro­fil trug. Trei­ber will die ideo­lo­gi­sche Debat­te dadurch ent­schär­fen, daß er sich auf kon­kre­te Quel­len bezieht und die dort doku­men­tier­ten Urtei­le in den Kon­text der Zeit setzt. Das heißt: in die Situa­ti­on, in der die Deser­ti­on pas­sier­te; zudem unter­nimmt er Ver­glei­che mit ande­ren Armeen.

Bei Deser­ti­on han­delt es sich um die uner­laub­te Ent­fer­nung von der Trup­pe, die ent­we­der zeit­lich begrenzt oder auf Dau­er ange­legt sein kann. Letz­te­res wird auch als Fah­nen­flucht bezeich­net, die in der Wehr­macht mit der Todes­stra­fe geahn­det wer­den konn­te. Den Rah­men dafür gab das Mili­tär­straf­ge­setz vor, das durch eine »Füh­rer­richt­li­nie« ver­schärft wurde.

In der Wehr­macht ruh­te die Recht­spre­chung in den Hän­den pro­fes­sio­nel­ler Rich­ter, bei den von Trei­ber als Ver­gleich her­an­ge­zo­ge­nen Bri­ten und Ame­ri­ka­nern spra­chen Offi­zie­re Recht. Aller­dings gab es in der bri­ti­schen Armee kei­ne Todes­stra­fe für Fah­nen­flucht, und in der US-Armee wur­de im Zwei­ten Welt­krieg nur ein sol­ches Urteil vollstreckt.

Die Quel­len­la­ge ist dadurch pro­ble­ma­tisch, daß vie­le Akten im Zwei­ten Welt­krieg ver­nich­tet wur­den, was dazu geführt hat, daß die Zahl der Stra­fen wegen Fah­nen­flucht in der Wehr­macht nur geschätzt wer­den kann. Den so zustan­de gekom­me­nen Zah­len von 30 000 bis 40 000 Todes­ur­tei­len setzt Trei­ber eine an kon­kre­ten Akten des Feld­hee­res ori­en­tier­te Hoch­rech­nung ent­ge­gen. Er kommt auf ca. 23 500 Urtei­le bis Ende 1944, von denen ca. 17 000 voll­streckt wur­den (bei 17,3 Mil­lio­nen zur Wehr­macht ein­be­ru­fe­nen Soldaten).

Neben den rei­nen Zah­len ermög­li­chen es dem Autor zudem die Akten, sich genau­er über die Grün­de zu ori­en­tie­ren, die zur Deser­ti­on führ­ten. Wider­stand spielt dabei so gut wie kei­ne Rol­le. Der häu­figs­te Flucht­grund war Angst vor Stra­fe, vor allem bei Eigen­tums­de­lik­ten. Inter­es­sant ist zudem, was Trei­ber den Urtei­len hin­sicht­lich des Geis­tes der Mili­tär­ge­richts­bar­keit ent­neh­men kann. Kei­nes­wegs waren alle Rich­ter dar­auf erpicht, so schnell wie mög­lich Todes­ur­tei­le aus­zu­spre­chen. Trei­ber kon­sta­tiert im Gegen­teil ein erstaun­li­ches Maß an Gerech­tig­keits­emp­fin­den, was sich in sehr genau­en Ermitt­lun­gen und dem häu­fi­gen Plä­doy­er für mil­de­re Urtei­le ausdrückt.

Trei­ber ist mit sei­ner Stu­die – bei allen dar­in auch vor­kom­men­den Ver­beu­gun­gen vor dem Zeit­geist – eine wich­ti­ge Dif­fe­ren­zie­rung in einer völ­lig ideo­lo­gi­sier­ten Debat­te gelun­gen. Daß sich die­ses dif­fe­ren­zier­te Bild in einer Novel­lie­rung des ein­gangs erwähn­ten Geset­zes nie­der­schla­gen wird, ist unwahr­schein­lich, weil es schwer vor­stell­bar ist, daß sich eine poli­ti­sche Par­tei ohne Not noch ein­mal die­ser Debat­te anneh­men wird.

Trei­bers Emp­feh­lung zur Nutz­an­wen­dung sei­ner Stu­die ist daher auch etwas dop­pel­deu­tig. Er spricht sich gegen pau­scha­le Deser­teur­denk­mä­ler aus, will die­se aber mit Stol­per­stei­nen ehren, weil dem eine indi­vi­du­el­le Prü­fung zugrun­de lie­gen wür­de. Wenn er sei­ne eige­ne Stu­die ernst nimmt, gab es zumin­dest bis Ende 1944 nicht beson­ders vie­le Grün­de für Stol­per­stei­ne, weil kaum Unrechts­ur­tei­le durch Rechts­beu­gung ergingen.

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Ste­fan Kurt Trei­ber: Hel­den oder Feig­lin­ge? Deser­teu­re der Wehr­macht im Zwei­ten Welt­krieg, Frank­furt a.M.: Cam­pus 2021. 343 S., 43 €

 

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Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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