Die Initiative zu dieser Ausweitung kam von der rot-grünen Koalition und wurde von der PDS unterstützt, FDP und CDU / CSU betonten in der Debatte hingegen, daß durch diese Regelung sowohl die Soldaten, die nicht desertiert waren, als auch die Richter, die solche Urteile gefällt hatten, pauschal als Unterstützer und Vollstrecker des Unrechts disqualifiziert würden. Interessant ist im Rückblick nicht nur, daß eine solche Position bei den »bürgerlichen« Parteien heute undenkbar wäre, sondern auch, daß diese Regelung ohne eine eingehende Prüfung dieser Urteile erfolgt ist.
Auch wenn der Titel des Buches etwas anderes vermuten läßt, ist Stefan Kurt Treiber darum bemüht, diese Prüfung nachzuholen und ein differenziertes Bild des »Deserteurs« zu entwerfen. Das Buch ist die überarbeitete Fassung seiner Dissertation, die den passenderen Titel Deserteure der Wehrmacht – Ein Sozialprofil trug. Treiber will die ideologische Debatte dadurch entschärfen, daß er sich auf konkrete Quellen bezieht und die dort dokumentierten Urteile in den Kontext der Zeit setzt. Das heißt: in die Situation, in der die Desertion passierte; zudem unternimmt er Vergleiche mit anderen Armeen.
Bei Desertion handelt es sich um die unerlaubte Entfernung von der Truppe, die entweder zeitlich begrenzt oder auf Dauer angelegt sein kann. Letzteres wird auch als Fahnenflucht bezeichnet, die in der Wehrmacht mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Den Rahmen dafür gab das Militärstrafgesetz vor, das durch eine »Führerrichtlinie« verschärft wurde.
In der Wehrmacht ruhte die Rechtsprechung in den Händen professioneller Richter, bei den von Treiber als Vergleich herangezogenen Briten und Amerikanern sprachen Offiziere Recht. Allerdings gab es in der britischen Armee keine Todesstrafe für Fahnenflucht, und in der US-Armee wurde im Zweiten Weltkrieg nur ein solches Urteil vollstreckt.
Die Quellenlage ist dadurch problematisch, daß viele Akten im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden, was dazu geführt hat, daß die Zahl der Strafen wegen Fahnenflucht in der Wehrmacht nur geschätzt werden kann. Den so zustande gekommenen Zahlen von 30 000 bis 40 000 Todesurteilen setzt Treiber eine an konkreten Akten des Feldheeres orientierte Hochrechnung entgegen. Er kommt auf ca. 23 500 Urteile bis Ende 1944, von denen ca. 17 000 vollstreckt wurden (bei 17,3 Millionen zur Wehrmacht einberufenen Soldaten).
Neben den reinen Zahlen ermöglichen es dem Autor zudem die Akten, sich genauer über die Gründe zu orientieren, die zur Desertion führten. Widerstand spielt dabei so gut wie keine Rolle. Der häufigste Fluchtgrund war Angst vor Strafe, vor allem bei Eigentumsdelikten. Interessant ist zudem, was Treiber den Urteilen hinsichtlich des Geistes der Militärgerichtsbarkeit entnehmen kann. Keineswegs waren alle Richter darauf erpicht, so schnell wie möglich Todesurteile auszusprechen. Treiber konstatiert im Gegenteil ein erstaunliches Maß an Gerechtigkeitsempfinden, was sich in sehr genauen Ermittlungen und dem häufigen Plädoyer für mildere Urteile ausdrückt.
Treiber ist mit seiner Studie – bei allen darin auch vorkommenden Verbeugungen vor dem Zeitgeist – eine wichtige Differenzierung in einer völlig ideologisierten Debatte gelungen. Daß sich dieses differenzierte Bild in einer Novellierung des eingangs erwähnten Gesetzes niederschlagen wird, ist unwahrscheinlich, weil es schwer vorstellbar ist, daß sich eine politische Partei ohne Not noch einmal dieser Debatte annehmen wird.
Treibers Empfehlung zur Nutzanwendung seiner Studie ist daher auch etwas doppeldeutig. Er spricht sich gegen pauschale Deserteurdenkmäler aus, will diese aber mit Stolpersteinen ehren, weil dem eine individuelle Prüfung zugrunde liegen würde. Wenn er seine eigene Studie ernst nimmt, gab es zumindest bis Ende 1944 nicht besonders viele Gründe für Stolpersteine, weil kaum Unrechtsurteile durch Rechtsbeugung ergingen.
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Stefan Kurt Treiber: Helden oder Feiglinge? Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M.: Campus 2021. 343 S., 43 €
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