James Suzman: Sie nannten es Arbeit

In der Volksrepublik China setzt sich, jedenfalls in Boom-Branchen wie dem High-Tech-Sektor, zunehmend das durch, was man bei Baidu und Alibaba, Tencent und Huawei die »996«-Formel nennt.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Die bei­den Neu­nen ste­hen für die Kern­ar­beits­zeit von 9 Uhr mor­gens bis 9 Uhr abends. Die Sechs steht für die Anzahl der Arbeits­ta­ge eines durch­schnitt­li­chen Kon­zern­mit­ar­bei­ters pro Woche. Es ver­wun­dert nicht, daß vor allem die Anzahl von Erschöp­fungs­er­kran­kun­gen und Depres­sio­nen zunimmt. Den­noch sind die über­durch­schnitt­lich bezahl­ten Anstel­lun­gen begehrt; sie gel­ten vie­len Chi­ne­sen als gute Arbeit. Arbeit, das weiß ein in Cam­bridge leh­ren­der Sozial­anthropologe wie James Suz­man, ist eine mensch­li­che Konstante.

Doch haben die Defi­ni­tio­nen und die Vor­stel­lun­gen von ihr in der Geschich­te mensch­li­chen Daseins man­nig­fal­tig vari­iert. Eben­die­se Ent­wick­lungs­ge­schich­te der Arbeit nach­zu­zeich­nen (»Leben ist arbei­ten«) kann als Leit­mo­tiv des glo­ba­len Best­sel­lers Sie nann­ten es Arbeit. Eine ande­re Geschich­te der Mensch­heit (im Ori­gi­nal heißt es noch tref­fen­der: Work. A Histo­ry of how we spend our time) betrach­tet werden.

300 000 Jah­re Homo sapi­ens, 300 000 Jah­re Arbeit. Suz­man hat sich etwas Ambi­tio­nier­tes vor­ge­nom­men, weckt Erwar­tun­gen – und erfüllt sie. Sein 400 Sei­ten lan­ger Par­force­ritt von der Alt­stein­zeit (Ära der Jäger und Samm­ler) über die Jung­stein­zeit (Neo­li­thi­kum, Ära der ers­ten Acker­bau­kul­tu­ren) bis zu den vier indus­tri­el­len Revo­lu­tio­nen der Moder­ne (ver­kürzt: Dampf­kraft, Elek­trik, Com­pu­ter, Digi­ta­li­sie­rung) erfolgt zwar chro­no­lo­gisch, lebt aber von Zeit­sprün­gen und ein­gän­gi­gen Analogien.

Im Hier und Jetzt ange­kom­men, kann Suz­man dar­le­gen, daß wir auch heu­te noch »zum Arbei­ten gebo­re­ne Geschöp­fe« sind, die »im Lau­fe unse­res indi­vi­du­el­len Lebens fort­schrei­tend von den unter­schied­li­chen Arbei­ten, denen wir uns wid­men, geprägt« blei­ben. Aber wo beginnt Arbeit und wo endet sie? Ist eine ener­gie­auf­wen­di­ge Beschäf­ti­gung auto­ma­tisch Arbeit? Ist erbrach­te Arbeit, die von Fleiß und Anstren­gun­gen getra­gen wird, in der Geschich­te der Men­schen tat­säch­lich ein Garant für Wohl­stand? Wenn nein, wann hat sich dies geändert?

Erst bei letzt­ge­nann­ten Fra­gen, die etwa ein Fünf­tel des Buches aus­ma­chen, wird der vor­her wohl­tu­end deskrip­ti­ve Autor dezi­diert poli­tisch: Daß eine Arbeits­ord­nung ver­nünf­ti­ge, leis­tungs­be­zo­ge­ne Ergeb­nis­se erzielt, kön­ne bezwei­felt wer­den, wenn dem reichs­ten ein Pro­zent der Welt­be­völ­ke­rung 45 Pro­zent der welt­weit vor­han­de­nen Ver­mö­gens­wer­te gehö­ren. Nimmt man die reichs­ten zehn Pro­zent der Men­schen als Para­me­ter, sind es beacht­li­che 85 Prozent.

Suz­man besorgt die­se welt­wei­te gro­ße Ent­kopp­lung von Arbeits­an­stren­gung und Ver­mö­gen vor allem des­halb, weil die fort­schrei­ten­de Auto­ma­ti­sie­rung und Digi­ta­li­sie­rung samt Über­flüs­sig­ma­chung gan­zer Berufs­wel­ten die ekla­tan­te Wohl­stands­kluft wei­ter ver­grö­ßern wer­den. Sozia­le Kon­flik­te und Ver­tei­lungs­kämp­fe, gesell­schaft­li­che Frik­tio­nen und Block­bil­dun­gen dro­hen neue Dimen­sio­nen anzu­neh­men, wenn nicht end­lich die Fra­ge in den Fokus genom­men wer­de, »wel­che Jobs wirk­lich sinn- und wert­hal­tig sind und war­um wir es zulas­sen, daß unse­re Märk­te die Inha­ber häu­fig nutz­lo­ser oder gar para­si­tä­rer Stel­lun­gen höher beloh­nen als die­je­ni­gen, deren Arbeit wir als sub­stan­ti­ell anerkennen«.

Der Leser, der der­lei Zuspit­zun­gen lie­ber über­ge­hen möch­te, kann dies pro­blem­los tun: Es über­wiegt die luzi­de sach­li­che Dar­le­gung der Evo­lu­ti­on mensch­li­cher Arbeit in den letz­ten Jahr­tau­sen­den. Daß der Autor dabei für mehr Muße und weni­ger Arbeit plä­diert, mag nicht nur jenen ein­leuch­ten, die der »996«-Formel unter­wor­fen sind.

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James Suz­man: Sie nann­ten es Arbeit. Eine
ande­re Geschich­te der Mensch­heit,
Mün­chen: Ver­lag C.
H. Beck 2021. 398 S., 26,95 €

 

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Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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