Die beiden Neunen stehen für die Kernarbeitszeit von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends. Die Sechs steht für die Anzahl der Arbeitstage eines durchschnittlichen Konzernmitarbeiters pro Woche. Es verwundert nicht, daß vor allem die Anzahl von Erschöpfungserkrankungen und Depressionen zunimmt. Dennoch sind die überdurchschnittlich bezahlten Anstellungen begehrt; sie gelten vielen Chinesen als gute Arbeit. Arbeit, das weiß ein in Cambridge lehrender Sozialanthropologe wie James Suzman, ist eine menschliche Konstante.
Doch haben die Definitionen und die Vorstellungen von ihr in der Geschichte menschlichen Daseins mannigfaltig variiert. Ebendiese Entwicklungsgeschichte der Arbeit nachzuzeichnen (»Leben ist arbeiten«) kann als Leitmotiv des globalen Bestsellers Sie nannten es Arbeit. Eine andere Geschichte der Menschheit (im Original heißt es noch treffender: Work. A History of how we spend our time) betrachtet werden.
300 000 Jahre Homo sapiens, 300 000 Jahre Arbeit. Suzman hat sich etwas Ambitioniertes vorgenommen, weckt Erwartungen – und erfüllt sie. Sein 400 Seiten langer Parforceritt von der Altsteinzeit (Ära der Jäger und Sammler) über die Jungsteinzeit (Neolithikum, Ära der ersten Ackerbaukulturen) bis zu den vier industriellen Revolutionen der Moderne (verkürzt: Dampfkraft, Elektrik, Computer, Digitalisierung) erfolgt zwar chronologisch, lebt aber von Zeitsprüngen und eingängigen Analogien.
Im Hier und Jetzt angekommen, kann Suzman darlegen, daß wir auch heute noch »zum Arbeiten geborene Geschöpfe« sind, die »im Laufe unseres individuellen Lebens fortschreitend von den unterschiedlichen Arbeiten, denen wir uns widmen, geprägt« bleiben. Aber wo beginnt Arbeit und wo endet sie? Ist eine energieaufwendige Beschäftigung automatisch Arbeit? Ist erbrachte Arbeit, die von Fleiß und Anstrengungen getragen wird, in der Geschichte der Menschen tatsächlich ein Garant für Wohlstand? Wenn nein, wann hat sich dies geändert?
Erst bei letztgenannten Fragen, die etwa ein Fünftel des Buches ausmachen, wird der vorher wohltuend deskriptive Autor dezidiert politisch: Daß eine Arbeitsordnung vernünftige, leistungsbezogene Ergebnisse erzielt, könne bezweifelt werden, wenn dem reichsten ein Prozent der Weltbevölkerung 45 Prozent der weltweit vorhandenen Vermögenswerte gehören. Nimmt man die reichsten zehn Prozent der Menschen als Parameter, sind es beachtliche 85 Prozent.
Suzman besorgt diese weltweite große Entkopplung von Arbeitsanstrengung und Vermögen vor allem deshalb, weil die fortschreitende Automatisierung und Digitalisierung samt Überflüssigmachung ganzer Berufswelten die eklatante Wohlstandskluft weiter vergrößern werden. Soziale Konflikte und Verteilungskämpfe, gesellschaftliche Friktionen und Blockbildungen drohen neue Dimensionen anzunehmen, wenn nicht endlich die Frage in den Fokus genommen werde, »welche Jobs wirklich sinn- und werthaltig sind und warum wir es zulassen, daß unsere Märkte die Inhaber häufig nutzloser oder gar parasitärer Stellungen höher belohnen als diejenigen, deren Arbeit wir als substantiell anerkennen«.
Der Leser, der derlei Zuspitzungen lieber übergehen möchte, kann dies problemlos tun: Es überwiegt die luzide sachliche Darlegung der Evolution menschlicher Arbeit in den letzten Jahrtausenden. Daß der Autor dabei für mehr Muße und weniger Arbeit plädiert, mag nicht nur jenen einleuchten, die der »996«-Formel unterworfen sind.
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James Suzman: Sie nannten es Arbeit. Eine
andere Geschichte der Menschheit, München: Verlag C. H. Beck 2021. 398 S., 26,95 €
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