Dieses Buch hier ist verquast, verplaudert, klassisch gemainstreamt und teils völlig unkonzentriert, aber es macht einige gute Punkte. Daher!
Groebner (*1962), gebürtiger Wiener und Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance, begibt sich auf die durchaus interessante, weil phänomenale Suche nach der Konstituierung des zeitgenössischen Ichs. Er beschreibt gültig den Aufstieg des Smartphones zur universalen Erweiterung der eigenen Person: »So bin ich, jetzt!«
Er erweist sich dabei als wacher Beobachter seiner Umgebung: Den muskulösen Mann mit Sonnenbrille und sorgfältig getuntem Bart, der im Freibad zwei Stunden lang gebannt ein Buch liest: Mein Weg zur Selbstliebe; man kennt es! Bereits bei jenem Zivilpolizisten, der durch seine Pulloveraufschrift – »See you in Valhalla« – dringend »etwas über sich selbst mitteilen will«, scheitert der Autor allerdings. Er bemüht mythologische Deutungen und übersieht dabei, daß es sich um einen knallharten Evergreen der Rechtsrockszene handelt.
Groebner weist seine Leser darauf hin, daß der Drang zur Selbstoffenbarung nicht nur als Beichte (katholisch, mindestens jährlich verpflichtend seit 1215, wie wir lernen) und Selbstkritik (kommunistisch) schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel hat. Als eigentlicher Vater der freiwilligen Selbstauskunft gilt ihm Michel de Montaigne, der 1580 seine Essais veröffentlichte. Als literarische Nachfolger dürfen gelten: der fromme, leider sittlich völlig haltlose Samuel Pepys im 17. Jahrhundert, später Lichtenberg, Lavater, Hugo, Robert Schumann und Schnitzler, die, man glaubt es kaum, allesamt Buch führten über das Wann, Wo oder Wie ihrer geschlechtlichen Verkehrungen.
Interessant auch der Hinweis, daß die Fernsehserie Was bin ich?, jahrzehntelang ein Dauerbrenner des BRD-Fernsehens, bis zu 6000 Bewerber pro Monat hatte. Auch die Beobachtungen zu einem gewissen Retro-Selbstbewußtsein der Leute von heute sind lesenswert: Menschen empfinden ihre Jahre zwischen 14 und 24 als »ihre eigentliche Zeit«, und zwar mit zunehmendem Alter immer häufiger.
Der Terminus technicus heißt »Personal Branding«. Der Pfeil, den man schießt, ist zugleich der Haken, an dem man hängt. Groebner zitiert hierzu die Klage eines befreundeten Malers: »Ich bin mein eigener Ich-Kanal, mein Ich-Kurator, mein Ich-Anbieter.« So läuft es heute überall für die sogenannten Freien!
Sehr schön und denkwürdig sind auch Groebners Betrachtungen der mittlerweile etwa zwanzigjährigen Tätowierungsmode unter Normalbürgern hierzulande. Was könnte stärker und intensiver das sogenannte Ich ausdrücken als eine Tätowierung, die lebenslänglich bleibt? »Auch das Banalste wird groß, schwer und bedeutungsvoll, wenn es unauslöschlich unter die Haut geschrieben wird.« Groebner witzelt, durch Tätowierung werde auch die »Lust der harten Jungs« an »Rüschen« bedient.
Über Tattoos als »Selbstaussage« zu lästern ist nichts Neues; Groebner tut es allerdings wirklich gekonnt und amüsant. Lesenswert sind seine Ausführungen über Tätowierungen mit christlichem Bezug: Spätantike Bischöfe waren vielfach derart gezeichnet, dergleichen Mystiker der frühesten Neuzeit wie Christina von Stommeln und Heinrich Seuse. Auch in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre trägt Mignon zwecks Selbstauskunft eine Tätowierung des Gekreuzigten.
Häufig ergeht der Autor sich dabei selbst in eitlen Selbstbespiegelungen (wen interessieren bitte dessen eigene Liebschaften samt genauer Umstände?) und gedrechselten, eloquentseinwollenden Formulierungen: Heimat etwa begreift er als »Kränkungsgemeinschaft« und als »Territorium des Selbstmitleids«, etliche zeitgenössisch bedingte Kotaus (Groebner bezieht sich auf seinen eigenen »bildungsbügerlichen linksradikalen Überschwang«, Stichwort: Bekenntnisse, die nichts kosten) folgen.
Das Buch, gemäß explizitem Bekenntnis des Verlags klimaneutral und inklusive »Kompensation des CO2-Ausstoßes« hergestellt, ist übrigens nach normalintensiver Lektüre aus dem Leim gegangen. Und kein Mensch weiß, was das nun wieder bedeutet als Selbstaussage!
– –
Valentin Groebner: Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft, Frankfurt a. M.:
S. Fischer Verlag 2020. 192 S., 20 €
Dieses Buch können Sie auf antaios.de bestellen.