Mit Carl Schmitt gegen das Abendland? In Asien und vor allem im kommunistischen China scheut man nicht davor zurück, diesen Intellektuellen für die eigenen Zwecke zu mobilisieren.
Er wird dort – ganz pragmatisch – in erster Linie nicht als Okzidentale, sondern als Antiliberaler wahrgenommen. Die Aneignung der Schmittschen Theorien gelingt um so leichter, als sie sich nahtlos in den chinesischen Konstitutionalismus einfügen, der als politische Entität für sich steht, während die Europäer, beeinflußt von ihren Obersten Gerichtshöfen, in ihren Verfassungen ein von jeglicher Geschichtlichkeit losgelöstes juristisches Werk – einen Grundrechtekatalog – zu sehen gelernt haben.
Dies ist der Schlüssel zum Verständnis für den wachsenden Zuspruch, mit dem viele chinesische Intellektuelle und Regimeberater dem deutschen Juristen begegnen, dessen zeitweilige Zugehörigkeit zur NSDAP bei weitem nicht einhellig als tadelnswertes Laster angesehen wird – Chen Duong, Professor der Rechtswissenschaften an der Universität von Peking, der zudem beim Regime in hohem Ansehen steht, fegt diese Frage mit der lapidaren Feststellung vom Tisch: »Dies war seine persönliche Entscheidung.«
Seit Xi Jinping die politische Bühne betreten hat, ist die antiwestliche Stoßrichtung der chinesischen Geopolitik offensichtlich geworden: Nachdem Xi Jinping in den 1970er Jahren in die Kommunistische Partei eingetreten war und in ihr eine ansehnliche Anzahl politischer Ämter bekleidet hatte, wurde er 2007 in den Ständigen Ausschuß des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas aufgenommen und im März 2008 geradewegs ins Vizepräsidentenamt katapultierten.
Aber spätestens seit März 2013, seit sich Xi Jinping an der Spitze des chinesischen Staates befindet, fährt die chinesische Geopolitik einen antiwestlichen Kurs, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigläßt, und dies um so mehr, als die chinesischen Machthaber mit ihrer Absicht, die globale Führungsrolle Uncle Sam zu entreißen, nicht weiter hinter dem Berg halten.
Gerade seit der Weltwirtschaftskrise 2007 / 08 und seit Washingtons widersprüchlichen Covid-19-
Pandemie-Bekämpfungsstrategien wird von Pekings Warte aus der Westen – dessen Galionsfigur der amerikanische Riese ist, während die Europäische Union als sein servilster Lakai auftritt – nur noch als ein in fortschreitender Auflösung begriffener liberaler und libertärer Haufen wahrgenommen. Deshalb nimmt sich die Bezugnahme auf einen Denker der Begrenzungen vom Kaliber eines Carl Schmitt wie ein offensiver ideologischer Akt raffiniertester Ironie aus: Die chinesischen Juristen – an den Ufern des Gelben Flusses »Statistiker« genannt – führen ohne die geringsten Skrupel gegen das verachtete und verhöhnte Abendland die Konzepte eines seiner brillantesten intellektuellen Vertreter ins Feld.
So kreist also um das kommunistische Machtzentrum eine ganze Armada von Akademikern, deren Aufgabe hauptsächlich darin besteht, Xi Jinpings Politik eine juristische Rückendeckung zu sichern. Der Fall Hongkong ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich. Seit ihrer Rückkehr unter die Fittiche Pekings wird die ehemalige britische Kolonie regelmäßig von der Regierung brüskiert, die unermüdlich bemüht ist, die satzungsmäßige Autonomie Hongkongs – ein Erbe seiner kolonialen Vergangenheit – auszuhöhlen.
Auf Hongkong wurde das neulich vom Ständigen Ausschuß des Nationalen Volkskongresses verabschiedete Gesetz angewandt: »Die nationale Sicherheit betreffend«, soll es »Sezession, Subversion, Terrorismus und Kollusion mit ausländischen Mächten« bekämpfen. Der Gesetzestext ist von ungewöhnlicher Strenge, da er eine Palette von Sanktionen vorsieht: von intensiver gerichtlicher Überwachung über Zwangsumsiedlung bis hin zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe.
Die Anregungen zu diesem Gesetz gehen unmittelbar auf die Arbeiten Jiang Shigongs zurück, der Professor am Lehrstuhl für Rechtswissenschaften der Universität Peking und ein ausgewiesener Kenner von Hongkongs Status quo ist, war er doch von 2004 bis 2008 als Gesandter in Pekings Verbindungsbüro vor Ort tätig.
Der Akademiker zählt zu den »konservativen Sozialisten« beziehungsweise zur »Neuen Linken« Chinas und ist bekannt als einer der besten Carl-Schmitt-Spezialisten, dessen wichtigste Werke er selbst übersetzt hat. Er befürwortet einen rigorosen Staatszentralismus und hat, um Pekings völlige Kontrolle über den ehemaligen Stadtstaat juristisch zu untermauern, das Konzept der »vollständigen Souveränität« beziehungsweise »der substantiellen Souveränität« (comprehensive jurisdiction) geprägt (zentral ist in diesem Zusammenhang sein Hauptwerk, China’s Hong Kong. A Political and Cultural Perspective, Singapur 2017).
Hinter diesem Konzept verbirgt sich eine politische Herausforderung ersten Ranges: Es gilt, der Uneindeutigkeit den Garaus zu machen, die die ehemalige Kolonie kennzeichnet; die Abendländer sollen sie nicht mehr als Trojanisches Pferd des liberalen Imperialismus mißbrauchen können. Shigong ist der Ansicht, daß Hongkong in einer prowestlich-antichinesischen Mythologie schwelgt, die die vitalen Interessen des Regimes gefährdet. Und so erklärt er ohne Umschweife: Die juristische Lösung bekommt einen grundsätzlich politischen Charakter, sobald die Westmächte als Feinde der chinesischen Werte wahrgenommen werden.
Dieser Schmittianismus wird um so offenkundiger in Anspruch genommen, als er in eine antiformalistische juristische Strömung eingebettet ist, die seit 2016 von Xi Jinping selbst energisch gefördert wird: Der chinesischen Rechtslehre, mahnte dieser, obliege es, »eigenständige Theorien zu entwickeln, die auf der konkreten Situation Chinas fußen«, so daß die realen chinesischen Gegebenheiten über das, was von Shigong als »Scheinwelt« bewertet wird, die ihm zufolge die prowestliche Propaganda Hongkongs schüre, den Sieg davontragen. Unschwer lassen sich in diesem pragmatischen Ansatz die Spuren des Schmittschen politischen Existentialismus ausmachen.
Die Hongkong-Affäre konnte also bei der Anpassung der Schmittschen Rechtslehre an die politischen Verhältnisse des kommunistischen Regimes als Versuchslaboratorium dienen. Nichtsdestoweniger muß man verstehen, daß sich das »Schmitt-Fieber« (so wird die epidemische Beschäftigung mit dem Werk Schmitts in China selbst bezeichnet) zumindest seit Mao als eine Abfolge von Zyklen darstellt, in deren Verlauf man sich auf das Denken des deutschen Juristen gerne zum Zwecke berief, dem marxistischen Lehrgebäude, das öfter am Rande des Zusammenbruchs stand, neues Leben einzuhauchen.
Nun hatte zwar der Große Steuermann vor langer Zeit schon gefragt, wer unsere Feinde und wer unsere Freunde seien, doch sind die einstigen maoistischen Schlagworte der »Kulturrevolution« obsolet geworden und haben schließlich ihre ursprüngliche Attraktivität gänzlich verloren.
Deshalb – und weil sie die wachsende Ausbreitung der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht verhindern konnten – verspürten die Führer der Einheitspartei bald die Notwendigkeit, die Stützpfeiler der kommunistischen Ideologie, die gefährliche Risse aufzuweisen begannen, zu konsolidieren. Carl Schmitt erschien also in den Augen zahlreicher dem Regime nahestehender Intellektueller als der »Zulieferer« eines dynamischen Antiliberalismus, der geeignet war, kostengünstig, aber effektiv – wobei vor allem die Vorstellung einer liberalen Demokratie zugunsten einer authentischen kommunistischen Volksdemokratie verworfen wurde – den »großen Sprung nach vorne« zu legitimieren, der bei seinem Streben nach dem proletarischen Glück etwas ins Stocken geraten war.
Dieser »Illiberalismus« beschränkt sich nicht bloß darauf, die westliche Wertelehre zu verwerfen, welche im wesentlichen auf den individualistisch konzipierten Menschenrechten beruht. Er läßt sich in jedem Fall gut mit einer Rückkehr zu den Ursprüngen des Konfuzianismus verbinden. Hier wird Schmitts Einfluß mit jenem von Leo Strauss kombiniert – Leo Strauss, der sich ebenfalls einer schwärmerischen Beliebtheit erfreut, vor allem bei symbolträchtigen Autoren wie Gan Yang, die versuchen, den ursprünglichen Sozialismus chinesisch-revolutionärer Provenienz, die zur Schau getragenen Reformbestrebungen des Regimes und die traditionellen chinesischen Werten der Antike ineinander zu verweben.
So arbeiten Schmittianer und Straussianer gemeinsam an der Errichtung eines Sino-Exzeptionalismus, in dem die Unterordnung des Rechts unter die Politik in dem Maße voranschreitet, in dem die chinesische politische Führungsschicht gehalten ist, sich durch den vom Schmittianer und Juristen Zhang Xuong so genannten »chinesischen Subjektivismus« vom Rest der Welt zu unterscheiden. Im Gegensatz zum instrumentellen Normativismus des Westens fühlt sich die Kommunistische Partei Chinas berufen, die Interessen der Gesamtheit des Proletariats – darunter wird eine Homogenisierung von Volk und Staat verstanden – zu repräsentieren.
Diese Schmittsche Rhetorik kommt auch in der Staatsdefinition zum Tragen, die Qi Zheng, ein anderer Rechtsgelehrter, vorschlägt. Für letzteren oszilliert der Staat politisch zwischen einem »Gründungsmoment« und einem »Bewahrungsmoment«. Kristallisiert sich ersteres bei der Einrichtung einer politischen Ordnung – dies die verfassungsgebende Funktion – heraus, impliziert letzteres die Bewahrung dieser Ordnung vor möglichen Einmischungen des Feindes, der im Gründungsmoment als solcher ausgewiesen wurde.
Der Schutz der Staatssouveränität verlangt aber unweigerlich, »daß die Gewalt des Souveräns und die Freundschaft des Volkes uneingeschränkt zum Ausdruck kommen. Auf der Grundlage dieses Schmittschen Rahmens wird für China ein Übergang zur Demokratie möglich – aber nur in Form einer Revolution des Volkes innerhalb des Staates«, wie es der Politikwissenschaftler Jackson T. Reinhardt jüngst ausdrückte.
Übersetzt von Christa Nitsch, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift
Éléments, Paris.