Ökologische Betrachtungen (10): Frühlingsstrahlen

PDF der Druckfassung aus Sezession 106/ Februar 2022

Die Kern­ener­gie erlebt der­zeit einen zwei­ten Früh­ling. Zwar gin­gen in der Bun­des­re­pu­blik am 1. Janu­ar die­ses Jah­res mit Brok­dorf, ­Grohn­de und Gund­rem­min­gen C drei der letz­ten sechs deut­schen Kern­kraft­wer­ke vom Netz – Isar 2, Ems­land und Neckar­west­heim sol­len Ende 2022 fol­gen –, doch sowohl in der Euro­päi­schen Uni­on als auch welt­weit drängt man, kon­trär zur bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Anti-Atom­hal­tung, auf das Fest­hal­ten an der Kern­ener­gie und for­ciert gar ihren Ausbau.

Die­ser zwei­te Früh­ling wird am Ansin­nen der EU-Kom­mis­si­on, Inves­ti­tio­nen in Gas- und Atom­kraft­wer­ke als kli­ma­freund­lich und damit als »grün« ein­zu­stu­fen, deut­lich. Die Atom­lob­by hat die Zei­chen der Zeit genutzt und das mit der Kern­ener­gie ver­bun­de­ne umwelt­apokalyptische Bild mit Hil­fe der ver­gleichs­wei­se CO2-armen Nukle­ar­strom­erzeu­gung ins Posi­ti­ve gewen­det: Aus der Dys­to­pie wird die kli­ma­freund­li­che Utopie.

In libe­ral­kon­ser­va­ti­ven Krei­sen hat­te die Kern­ener­gie ihren guten Stand – Tscher­no­byl, Fuku­shi­ma und der blei­ben­den End­la­ger­pro­ble­ma­tik zum Trotz – indes nie ver­lo­ren: Ihre Grund­last­fä­hig­keit und die dar­aus resul­tie­ren­de Ver­sor­gungs­si­cher­heit sowie der vor­geb­lich bil­li­ge Strom als Garan­ten für öko­no­mi­sches Wachs­tum und Wohl­stands­pro­duk­ti­on waren dafür aus­schlag­ge­bend. Ein Blick auf das »libe­ral-kon­ser­va­ti­ve Mei­nungs­ma­ga­zin« Tichys Ein­blick genügt, um sich von die­ser Atom­sym­pa­thie einen reprä­sen­ta­ti­ven Ein­druck zu ver­schaf­fen. Es ist eine Sym­pa­thie, die weit über die­ses Lager hin­aus in die Rech­te hineinreicht.

Spe­zi­ell in der AfD kann man der Kern­ener­gie eini­ges abge­win­nen und setzt in die expe­ri­men­tel­len Reak­tor­ty­pen der vier­ten Gene­ra­ti­on (Gen4) wie den Schnel­len Brü­ter oder den Tho­ri­um-­Re­ak­tor, die die nega­ti­ven Eigen­schaf­ten der kon­ven­tio­nel­len Leicht­was­ser­re­ak­to­ren (radio­ak­ti­ver Abfall, erheb­li­cher Uran­be­darf etc.) über­win­den sol­len, gro­ße Hoff­nung. Im poli­ti­schen Rin­gen um die Kern­ener­gie tritt der Typus des Kon­ser­va­ti­ven, der als »technokratische[r] Mann der Tat […] die Umwäl­zung aller Lebens­ver­hält­nis­se betreibt« (Sie­fer­le 1984), in sei­ner para­dig­ma­ti­schen Aus­prä­gung hervor.

Die­ser zwei­te Früh­ling der Kern­ener­gie kommt nicht über­ra­schend: Die Unsi­cher­hei­ten hin­sicht­lich der Reich­wei­te der Ölvor­kom­men (als des ener­ge­ti­schen Rück­grats der Indus­trie- und Kon­sum­ge­sell­schaf­ten west­li­cher ­Pro­ve­ni­enz) trei­ben die Bemü­hun­gen vor­an, für sie ein ver­läß­li­ches Sub­sti­tut zu fin­den. Gleich­zei­tig steigt die glo­ba­le Energienachfrage.

Fer­ner leis­tet das öko­lo­gi­sche Schreck­ge­spenst des ­anthro­po­ge­nen Klima­wandels, wie bereits ange­schnit­ten, zur Auf­er­ste­hung des Atoms einen signi­fi­kan­ten Bei­trag: Die jahr­zehn­te­lan­ge Ver­en­gung öko­lo­gi­scher Pro­blem­stel­lun­gen auf die CO2-Emis­sio­nen ent­fal­tet sei­ne Wir­kung. Es ent­behrt nicht einer gewis­sen Iro­nie, daß die von den Grü­nen fort­wäh­rend per­p­etu­ier­te Kli­ma­fra­ge sie nun als ato­ma­rer Bume­rang mit­ten ins Gesicht trifft.

Wäh­rend das nuklea­re Frank­reich 2019 pro Kopf nur 4,85 Ton­nen CO2 aus­stieß, waren es im sel­ben Jahr in der Bun­des­re­pu­blik, dem Land der Ener­gie­wen­de und des Atom­aus­stiegs, 8,52 Ton­nen pro Kopf. Doch anstatt einem ­undif­fe­ren­zier­ten nuklea­ren Fort­schritts­en­thu­si­as­mus anheim­zu­fal­len, soll­te der neu­en Lust am Atom mit der kon­ser­va­ti­ven Skep­sis begeg­net wer­den, die der fran­zö­si­sche Öko­nom und Kon­ser­va­ti­ve Flo­rent Ly-Mach­a­bert in sei­nem Plä­doy­er für eine kon­ser­va­ti­ve Öko­lo­gie in der Herbst­aus­ga­be 2021 des Le Nou­veau Con­ser­va­teur pro­pa­gier­te. Denn es hat sei­ne Grün­de, war­um das in den 1950er Jah­ren uto­pi­sier­te Atom­zeit­al­ter bis heu­te nicht ein­ge­tre­ten ist – und es liegt nicht an der in die­sem Kon­text ger­ne bemüh­ten »Ger­man Angst«.

Zual­ler­erst muß man sich ver­ge­gen­wär­ti­gen, wel­che Auf­ga­be der Kern­ener­gie, in der für sie neu erdach­ten Zukunft, zukom­men soll. Im Maxi­mal­sze­na­rio müß­te sie die aus Öl und Koh­le gewon­ne­ne Pri­mär­ener­gie erset­zen. ­Bri­tish ­Petro­le­um weist in ihrem Sta­tis­ti­cal Review of World Ener­gy 2021 den glo­ba­len Pri­mär­ener­gie­ver­brauch aus Öl für das Jahr 2019 mit 191,89 Exa­joule und den aus Koh­le mit 157,64 Exa­joule aus. Dem­ge­gen­über zeich­ne­te die Kern­ener­gie 2019 für ledig­lich 24,93 Exa­joule ver­ant­wort­lich – laut Sta­tis­ta waren 443 Kern­kraft­wer­ke nötig, um die­se Leis­tung zu erbringen.

Öl lie­fer­te dem­zu­fol­ge 2019 rund 7,5mal mehr Pri­mär­ener­gie als die Kern­ener­gie. Um allein die­se Men­ge zu erset­zen, bedürf­te es des größ­ten Kraft­werks­aus­baus der Mensch­heits­ge­schich­te. »Wer die­sen Rie­sen­block [Pri­mär­ener­gie Öl] durch Kern­ener­gie erset­zen woll­te«, rech­ne­te Tho­mas Hoof in der ­Tumult 2 / 2018 vor, »müß­te welt­weit fast 4000, in Deutsch­land 100 und selbst in Chi­na […] noch 500 Reak­to­ren der 1600-MWh-Klas­se zubauen.«

Als glo­ba­ler Dekar­bo­ni­sie­rer hät­te die Kern­ener­gie die­se Auf­ga­be sogar noch schnel­ler zu über­neh­men, als wenn sie ledig­lich die schwin­den­den Öl- und Koh­le­vor­rä­te suk­zes­si­ve über die Zeit zu sub­sti­tu­ie­ren hät­te. Und bereits das kern­en­er­ge­tisch ambi­tio­nier­te Chi­na bleibt beim Zubau von Kern­kraft­wer­ken stets hin­ter sei­nen hoch­ge­steck­ten Zie­len zurück. Rech­net man nun noch die 157,64 Exa­joule der Koh­le hin­zu und zieht in Betracht, daß etli­che Kern­ener­gie­pro­jek­te als Dau­er­bau­stel­len ende­ten, gegen die die Geld­ver­schwen­dung und die Zeit­ver­zö­ge­rung beim BER noch ver­gleichs­wei­se mode­rat aus­fie­len, wird augen­schein­lich, war­um die­ses Vor­ha­ben kaum zu rea­li­sie­ren sein wird.

Öl ist ein­fach zu för­dern, zu trans­por­tie­ren und zu ver­wen­den. Daher fin­det es welt­weit unab­hän­gig vom Ent­wick­lungs­grad eines Lan­des brei­te Ver­wen­dung. Die Kern­ener­gie hin­ge­gen benö­tigt aus­ge­klü­gel­te Tech­nik sowie eine sta­bi­le und kom­ple­xe Infra­struk­tur. Ein Aspekt, der ihre flä­chen­de­cken­de glo­ba­le Anwen­dung, geschwei­ge denn ihre Rol­le als Ölsub­sti­tut, nicht rea­lis­ti­scher wer­den läßt. Davon aus­ge­hend, daß mit einem wirt­schaft­li­chen Betrieb von Gen4-Reak­tor­ty­pen – die Uran weit­aus effi­zi­en­ter nut­zen sol­len als die kon­ven­tio­nel­len Leicht­was­ser­re­ak­to­ren – in naher Zukunft nicht zu rech­nen ist, wür­de ein mas­si­ver Aus­bau der Kern­ener­gie außer­dem zu einer beschleu­nig­ten Erschöp­fung der Uran­vor­kom­men füh­ren; und das rapi­de. Je nach Anzahl der hypo­the­ti­schen Kern­kraft­wer­ke ist mit einer Erschöp­fung nach 20 bis 40 Jah­ren zu rechnen.

Allein aus der kern­en­er­ge­ti­schen Ölsub­sti­tu­ti­on ent­springt eine Kas­ka­de an Pro­ble­men, die, soll­te man die­se wider Erwar­ten lösen kön­nen, eine Kom­ple­xi­täts­stei­ge­rung eines bereits kom­ple­xen und fra­gi­len Ener­gie­sys­tems bedeu­ten wür­de. Dabei hat ein für die Ener­gie­ge­win­nung und eine pro­fi­ta­ble Ener­gie­wirt­schaft essen­ti­el­ler Fak­tor hier noch kei­ne Beach­tung gefun­den, näm­lich der Ener­gy Return on Invest­ment (EROI) zu deutsch Ernte­faktor. Die­ser Wert beschreibt die Ener­gie­aus­beu­te im Ver­hält­nis zu der bei der Pro­duk­ti­on ein­ge­setz­ten Energie.

Der EROI-Wert der Kern­ener­gie bewegt sich nach Berech­nun­gen des US-ame­ri­ka­ni­schen Öko­lo­gen Charles Hall um einen Mit­tel­wert von 14 : 1. Zum Ver­gleich: Öl, das im Jahr 1930 in den USA pro­du­ziert und ver­braucht wur­de, hat­te einen EROI-Wert von 100 : 1. Man brauch­te damals also ledig­lich die Ener­gie eines Bar­rels Öl, um 100 Bar­rel Öl zu gewin­nen. Ein phä­no­me­na­ler Wert, dem man in der Ener­gie­wirt­schaft sehn­süch­tig nach­trau­ert: Kon­ven­tio­nel­les Öl, das in den USA sowohl pro­du­ziert als auch ver­braucht wur­de, beweg­te sich im Jahr 2005 um einen EROI-Wert von 30 : 1. Dies war ein signi­fi­kan­ter Ein­bruch mit weit­rei­chen­den Fol­gen – und den­noch ist es ein etwas mehr als dop­pelt so hoher Wert wie bei der Kernenergie.

Anhand der EROI-Wer­te läßt sich ver­an­schau­li­chen, war­um die Kern­ener­gie seit ihrer Exis­tenz nie den­sel­ben wirt­schaft­li­chen Effekt zei­ti­gen konn­te wie das hoch­qua­li­ta­ti­ve light cru­de oil (leich­tes Roh­öl), das in den Anfangs­ta­gen des Ölzeit­alters aus den US-Ölfel­dern oder dem sau­di-ara­bi­schen Super­gi­gan­ten Gha­war förm­lich spru­del­te. Am EROI-Wert wer­den sich auch die expe­ri­men­tel­len Reak­to­ren der Gen4 mes­sen las­sen müs­sen. Aktu­ell jeden­falls errei­chen ope­ra­tio­na­le Leucht­turm­pro­jek­te wie die kom­mer­zi­ell betrie­be­nen rus­si­schen Brü­ter BN-600 und BN-800 nicht ein­mal ein posi­ti­ves Brut­ver­hält­nis, wäh­rend der für das Jahr 2019 geplan­te Bau des Nach­fol­ge­re­ak­tors BN-1200 in die Zukunft ver­legt wurde.

Abseits der tech­ni­schen Details soll­te sich die Rech­te zudem dar­über bewußt wer­den, wel­che gesell­schaft­li­chen Fol­gen ein hypo­the­ti­sches Atom­zeit­al­ter nach sich zie­hen wür­de. Denn bereits der aus der Koh­le gewon­ne­ne und mit der Ölnut­zung noch ein­mal gestei­ger­te Ener­gie­über­fluß hat »die Tot­alem­an­zi­pa­ti­on des ein­zel­nen, das heißt sei­ne Befrei­ung aus jed­we­dem Zwang, den das Leben auf ihn aus­üben könn­te« (Kubit­schek 2012), über jedes erträg­li­che Maß hin­aus­ge­trie­ben. Das Leben aus dem, was immer gilt; die urkon­ser­va­ti­ve Über­zeu­gung, daß das Leben prin­zi­pi­el­len Gren­zen unter­liegt und mit den Tugen­den des Ver­zichts und des Maß­hal­tens zu meis­tern ist, wur­de im Öl ertränkt.

Das von man­chem »Kon­ser­va­ti­ven« her­bei­ge­sehn­te Atom­zeit­al­ter bedeu­te­te den end­gül­ti­gen Tri­umph der »eman­zi­pa­to­ri­schen Macht der Ener­gie­ver­schwen­dung« und ent­stell­te rech­te Denk­ge­bäu­de zum musea­len Anachronismus.

 

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