Die Kernenergie erlebt derzeit einen zweiten Frühling. Zwar gingen in der Bundesrepublik am 1. Januar dieses Jahres mit Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C drei der letzten sechs deutschen Kernkraftwerke vom Netz – Isar 2, Emsland und Neckarwestheim sollen Ende 2022 folgen –, doch sowohl in der Europäischen Union als auch weltweit drängt man, konträr zur bundesrepublikanischen Anti-Atomhaltung, auf das Festhalten an der Kernenergie und forciert gar ihren Ausbau.
Dieser zweite Frühling wird am Ansinnen der EU-Kommission, Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke als klimafreundlich und damit als »grün« einzustufen, deutlich. Die Atomlobby hat die Zeichen der Zeit genutzt und das mit der Kernenergie verbundene umweltapokalyptische Bild mit Hilfe der vergleichsweise CO2-armen Nuklearstromerzeugung ins Positive gewendet: Aus der Dystopie wird die klimafreundliche Utopie.
In liberalkonservativen Kreisen hatte die Kernenergie ihren guten Stand – Tschernobyl, Fukushima und der bleibenden Endlagerproblematik zum Trotz – indes nie verloren: Ihre Grundlastfähigkeit und die daraus resultierende Versorgungssicherheit sowie der vorgeblich billige Strom als Garanten für ökonomisches Wachstum und Wohlstandsproduktion waren dafür ausschlaggebend. Ein Blick auf das »liberal-konservative Meinungsmagazin« Tichys Einblick genügt, um sich von dieser Atomsympathie einen repräsentativen Eindruck zu verschaffen. Es ist eine Sympathie, die weit über dieses Lager hinaus in die Rechte hineinreicht.
Speziell in der AfD kann man der Kernenergie einiges abgewinnen und setzt in die experimentellen Reaktortypen der vierten Generation (Gen4) wie den Schnellen Brüter oder den Thorium-Reaktor, die die negativen Eigenschaften der konventionellen Leichtwasserreaktoren (radioaktiver Abfall, erheblicher Uranbedarf etc.) überwinden sollen, große Hoffnung. Im politischen Ringen um die Kernenergie tritt der Typus des Konservativen, der als »technokratische[r] Mann der Tat […] die Umwälzung aller Lebensverhältnisse betreibt« (Sieferle 1984), in seiner paradigmatischen Ausprägung hervor.
Dieser zweite Frühling der Kernenergie kommt nicht überraschend: Die Unsicherheiten hinsichtlich der Reichweite der Ölvorkommen (als des energetischen Rückgrats der Industrie- und Konsumgesellschaften westlicher Provenienz) treiben die Bemühungen voran, für sie ein verläßliches Substitut zu finden. Gleichzeitig steigt die globale Energienachfrage.
Ferner leistet das ökologische Schreckgespenst des anthropogenen Klimawandels, wie bereits angeschnitten, zur Auferstehung des Atoms einen signifikanten Beitrag: Die jahrzehntelange Verengung ökologischer Problemstellungen auf die CO2-Emissionen entfaltet seine Wirkung. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die von den Grünen fortwährend perpetuierte Klimafrage sie nun als atomarer Bumerang mitten ins Gesicht trifft.
Während das nukleare Frankreich 2019 pro Kopf nur 4,85 Tonnen CO2 ausstieß, waren es im selben Jahr in der Bundesrepublik, dem Land der Energiewende und des Atomausstiegs, 8,52 Tonnen pro Kopf. Doch anstatt einem undifferenzierten nuklearen Fortschrittsenthusiasmus anheimzufallen, sollte der neuen Lust am Atom mit der konservativen Skepsis begegnet werden, die der französische Ökonom und Konservative Florent Ly-Machabert in seinem Plädoyer für eine konservative Ökologie in der Herbstausgabe 2021 des Le Nouveau Conservateur propagierte. Denn es hat seine Gründe, warum das in den 1950er Jahren utopisierte Atomzeitalter bis heute nicht eingetreten ist – und es liegt nicht an der in diesem Kontext gerne bemühten »German Angst«.
Zuallererst muß man sich vergegenwärtigen, welche Aufgabe der Kernenergie, in der für sie neu erdachten Zukunft, zukommen soll. Im Maximalszenario müßte sie die aus Öl und Kohle gewonnene Primärenergie ersetzen. British Petroleum weist in ihrem Statistical Review of World Energy 2021 den globalen Primärenergieverbrauch aus Öl für das Jahr 2019 mit 191,89 Exajoule und den aus Kohle mit 157,64 Exajoule aus. Demgegenüber zeichnete die Kernenergie 2019 für lediglich 24,93 Exajoule verantwortlich – laut Statista waren 443 Kernkraftwerke nötig, um diese Leistung zu erbringen.
Öl lieferte demzufolge 2019 rund 7,5mal mehr Primärenergie als die Kernenergie. Um allein diese Menge zu ersetzen, bedürfte es des größten Kraftwerksausbaus der Menschheitsgeschichte. »Wer diesen Riesenblock [Primärenergie Öl] durch Kernenergie ersetzen wollte«, rechnete Thomas Hoof in der Tumult 2 / 2018 vor, »müßte weltweit fast 4000, in Deutschland 100 und selbst in China […] noch 500 Reaktoren der 1600-MWh-Klasse zubauen.«
Als globaler Dekarbonisierer hätte die Kernenergie diese Aufgabe sogar noch schneller zu übernehmen, als wenn sie lediglich die schwindenden Öl- und Kohlevorräte sukzessive über die Zeit zu substituieren hätte. Und bereits das kernenergetisch ambitionierte China bleibt beim Zubau von Kernkraftwerken stets hinter seinen hochgesteckten Zielen zurück. Rechnet man nun noch die 157,64 Exajoule der Kohle hinzu und zieht in Betracht, daß etliche Kernenergieprojekte als Dauerbaustellen endeten, gegen die die Geldverschwendung und die Zeitverzögerung beim BER noch vergleichsweise moderat ausfielen, wird augenscheinlich, warum dieses Vorhaben kaum zu realisieren sein wird.
Öl ist einfach zu fördern, zu transportieren und zu verwenden. Daher findet es weltweit unabhängig vom Entwicklungsgrad eines Landes breite Verwendung. Die Kernenergie hingegen benötigt ausgeklügelte Technik sowie eine stabile und komplexe Infrastruktur. Ein Aspekt, der ihre flächendeckende globale Anwendung, geschweige denn ihre Rolle als Ölsubstitut, nicht realistischer werden läßt. Davon ausgehend, daß mit einem wirtschaftlichen Betrieb von Gen4-Reaktortypen – die Uran weitaus effizienter nutzen sollen als die konventionellen Leichtwasserreaktoren – in naher Zukunft nicht zu rechnen ist, würde ein massiver Ausbau der Kernenergie außerdem zu einer beschleunigten Erschöpfung der Uranvorkommen führen; und das rapide. Je nach Anzahl der hypothetischen Kernkraftwerke ist mit einer Erschöpfung nach 20 bis 40 Jahren zu rechnen.
Allein aus der kernenergetischen Ölsubstitution entspringt eine Kaskade an Problemen, die, sollte man diese wider Erwarten lösen können, eine Komplexitätssteigerung eines bereits komplexen und fragilen Energiesystems bedeuten würde. Dabei hat ein für die Energiegewinnung und eine profitable Energiewirtschaft essentieller Faktor hier noch keine Beachtung gefunden, nämlich der Energy Return on Investment (EROI) zu deutsch Erntefaktor. Dieser Wert beschreibt die Energieausbeute im Verhältnis zu der bei der Produktion eingesetzten Energie.
Der EROI-Wert der Kernenergie bewegt sich nach Berechnungen des US-amerikanischen Ökologen Charles Hall um einen Mittelwert von 14 : 1. Zum Vergleich: Öl, das im Jahr 1930 in den USA produziert und verbraucht wurde, hatte einen EROI-Wert von 100 : 1. Man brauchte damals also lediglich die Energie eines Barrels Öl, um 100 Barrel Öl zu gewinnen. Ein phänomenaler Wert, dem man in der Energiewirtschaft sehnsüchtig nachtrauert: Konventionelles Öl, das in den USA sowohl produziert als auch verbraucht wurde, bewegte sich im Jahr 2005 um einen EROI-Wert von 30 : 1. Dies war ein signifikanter Einbruch mit weitreichenden Folgen – und dennoch ist es ein etwas mehr als doppelt so hoher Wert wie bei der Kernenergie.
Anhand der EROI-Werte läßt sich veranschaulichen, warum die Kernenergie seit ihrer Existenz nie denselben wirtschaftlichen Effekt zeitigen konnte wie das hochqualitative light crude oil (leichtes Rohöl), das in den Anfangstagen des Ölzeitalters aus den US-Ölfeldern oder dem saudi-arabischen Supergiganten Ghawar förmlich sprudelte. Am EROI-Wert werden sich auch die experimentellen Reaktoren der Gen4 messen lassen müssen. Aktuell jedenfalls erreichen operationale Leuchtturmprojekte wie die kommerziell betriebenen russischen Brüter BN-600 und BN-800 nicht einmal ein positives Brutverhältnis, während der für das Jahr 2019 geplante Bau des Nachfolgereaktors BN-1200 in die Zukunft verlegt wurde.
Abseits der technischen Details sollte sich die Rechte zudem darüber bewußt werden, welche gesellschaftlichen Folgen ein hypothetisches Atomzeitalter nach sich ziehen würde. Denn bereits der aus der Kohle gewonnene und mit der Ölnutzung noch einmal gesteigerte Energieüberfluß hat »die Totalemanzipation des einzelnen, das heißt seine Befreiung aus jedwedem Zwang, den das Leben auf ihn ausüben könnte« (Kubitschek 2012), über jedes erträgliche Maß hinausgetrieben. Das Leben aus dem, was immer gilt; die urkonservative Überzeugung, daß das Leben prinzipiellen Grenzen unterliegt und mit den Tugenden des Verzichts und des Maßhaltens zu meistern ist, wurde im Öl ertränkt.
Das von manchem »Konservativen« herbeigesehnte Atomzeitalter bedeutete den endgültigen Triumph der »emanzipatorischen Macht der Energieverschwendung« und entstellte rechte Denkgebäude zum musealen Anachronismus.