In der Belletristikwahl ist es ungleich schwieriger. Es wird oft viel versprochen, was der Text nicht halten kann. Ich schaue, daß ich regelmäßig in einer Buchhandlung zu sitzen komme und die Neuerscheinungen gründlich durchschmökern kann.
Dabei bin ich eben auf den neuen Roman von Sascha Reh gestoßen, Raserei. Ein Retrocover wie aus den Siebzigern. Ich war bei der Lektüre sofort drin: Jonas Nimrod (der altorientalische Name mag etwas zu bemüht gewählt sein) ist „Reiseblogger“. Eigentlich ist aber seine Frau Vera die begabte und halbwegs erfolgreiche Bloggerin: LifeIsAJourney.com. Jonas betreibt das Management.
Er ist es, der Reisedaten plant, Termine mit Sponsoren wahrnimmt und die An- und Abfahrtszeiten der Busse und Züge im Kopf hat. Ein Influencer-Dasein ist ja kein Zuckerschlecken, wenn man nicht gerade zu den Top-100 gehört.
Zuhause ist man in Berlin, und zwar in eher prekären Umständen. Man driftet mit den zwei kleinen Söhnen Mats und Enno ziemlich spektakulär durch die Welt, aber man kehrt letztlich doch in die Platte zurück. Vera macht so ihr Ding und findet noch in jedem Chaos „Footage“, Jonas hingegen reserviert Viererplätze im weltweiten ÖPNV.
War´s das? Jonas ist fünfunddreißig, Vera deutlich jünger. Jonas muß zusätzlich Gitarrenstunden geben, um „diesen Traum zu leben“ und zweifelt zunehmend an diesem abgehobenen Entwurf.
Aber dann kommt es: Etwas ganz anderes hebt ab. Die Familie kehrt gerade von einer gesponsorten Reise nach Berlin zurück, zurück in die Platte. Da heult ein Motor auf. Bedrohlich. Es kann sich eigentlich nur um einen Betrunkenen handeln, hoffentlich wird er bald aus dem Verkehr gezogen! Jonas haßt protzige Autos und ihre Fahrer.
Pech: Das Auto brettert über den Bordstein und erfaßt zwei Menschen. Jonas´ Familie ist nunmehr zweiköpfig. Die Toten sind Enno und Vera. Mats und Jonas überleben.
Jonas sinnt auf Rache. Der Fahrer heißt Radomir Milic. Er war betrunken – als „strenggläubiger“ Moslem. Er ist ein stadtbekannter Clan-Anwalt. Radomir ist verstrickt in internationale Machenschaften, und wie! Er spielt aber die seriöse Nummer, und sein langer Arm kann auch in Presseredaktionen eingreifen.
Radomirs eiskalte Gewissenlosigkeit hat eine lange Geschichte, die erst im letzten Viertel des Buches aufgedeckt wird. Wer den überwältigenden oscarnominierten Film Die Frau, die singt – Incendies (2010) gesehen hat, wird sich bei der Lektüre von Raserei an diesen Streifen erinnert fühlen. Leute, die in Kriege und mörderische Gewalt involviert waren, mögen ihrem Land entkommen – aber nicht der Raserei, die in ihnen steckt. Wie bei Die Frau die singt geht es hier auch um importierte Gewalt.
Ein Mann wie Jonas mag im Racherausch sein, aber seine Grundierung bleibt zivilisiert, weich, pazifiziert :
Jonas muss sich darüber klar werden, wie weit ihn sein Bedürfnis nach Gerechtigkeit tragen wird. Die Tatsache, dass er kaum Erfahrung mit Gewalt hat, würde ihn sehr wahrscheinlich daran hindern, zu Milic zu fahren, zu klingeln und ihn zu erschießen. Irgendetwas würde ihn, wenn er es versuchte, davon abbringen. Die Gegenwart eines Menschen verändert die Vorstellung, die wir uns vor der Begegnung gemacht haben. Plötzlich ist alles anders: Die leibliche Präsenz erzeugt das Gefühl von Autorität und Dominanz des anderen oder vermittelt, im Gegenteil, Empathie, vielleicht sogar Verletzlichkeit. Plötzlich sieht man etwas in dem anderen Menschen, das man vorher nicht gesehen hat. Der Hass, der die geplante Tat antreiben sollte, schwindet.
Gegen Ende wird Jonas Nimrod dennoch vor Milic stehen und zielen. Damit ist nichts über den Ausgang der Geschichte gesagt.
Das hier ist ein „Krimi plus“, der es in sich hat. Soziologisch fundiert und mit seinem Personal ganz im Hier & Heute. Es ist nicht wie im „Tatort“, wo von vornherein klar ist, daß die Linken und die Fremden (die zunächst natürlich verdächtigt werden) letztlich nicht „die Bösen“ sein werden.
Erst postlektürisch habe ich ergooglet, daß dieser Mann mit dem seltsam androgynen Namen „Sascha Reh“ ein unabhängiger Kopf zu sein scheint: 2020 war Reh Erstunterzeichner des Appells „für freie Debattenräume“. Und als die „umstrittene“ Kabarettistin Lisa Eckhart aus politisch-korrekten Gründen vom Hamburger „Harbour-Front-Literaturfestival“ ausgeladen wurde, sagte Reh seine Teilnahme solidarisch ab.
Dies nur am Rande. Es ist ein wirklich guter, packender Roman.
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Sascha Reh: Raserei. 235 Seiten, 22 € – hier bestellen.
Laurenz
Wieder ein schön zusammengefaßtes Buch.
Zuhause ist man in Berlin, und zwar in eher prekären Umständen.
Ist nicht jeder, der im Kalkutta an der Spree lebt, in einer prekären Situation?
So schön die Villen am Wannsee auch sind, für kein Geld der Welt dorthin. Die einzige Ausnahme wären die ehemaligen Botschaften Japans oder der Türkei....