Auch für Europas Rechte ist der slawische Bruderkrieg im Osten ein ideologischer „Streßtest“. Gewisse unwirtschaftliche Moralallüren muß man sich leisten können. In Kriegs- und Krisenzeiten werden Luxusprojekte wie die Energiewende daher rasch ad acta gelegt.
Auch für weltfremde, abstrakte Ideen bedeutet ein Krieg die entscheidende Zerreißprobe. Die ideologische Utopie des „Internationalen Proletariats“ zerbrach im 1. Weltkrieg am geschichtsmächtigen Nationalismus. Wie steht es im Ukrainekrieg um den Ethnopluralismus?
Martin Lichtmesz hat in seinem maßstabsetzenden Buch mit dem gleichnamigen Titel, das in jede Sammlung rechter Literatur gehört, den Begriff erörtert. Eine Maximaldefinition sieht im Ethnopluralismus das „symmetrisch konstruierte Selbstbestimmungsrecht aller Völker” gegenüber Übergriffen und Machtansprüchen von außen. Dies impliziert ein ethnokulturelles „Nichtaggressionsprinzip”, „einen Liberalismus des »Leben-und-leben-lassens«“.
Aus dieser Forderung ergibt sich eine generelle Ablehnung von Annexionen, Umsiedlungen und Assimilationspolitik, während man für das Recht eines jeden Volkes auf einen eigenen Lebensraum und einen souveränen Nationalstaat einzutreten hat. Bewußt oder unbewußt folgt aus diesem Konzept des Ethnopluralismus auch eine bestimmte Form der Geopolitik.
Greg Johnson wird von Martin Lichtmesz folgendermaßen zitiert: „Wir sind universelle Nationalisten. Wir glauben, daß Ethnonationalismus gut für alle Völker ist. Darum sind wir gegen den Imperialismus, während die Regime der alten Rechten Imperialismus sowohl gegen ihre Miteuropäer als auch gegen Nichtweiße praktizierten.“
Eine Minimaldefinition in Form eines „epistemologischen Ethnopluralismus“ beschränkt sich darauf, die Vielfalt der Völker, Kulturen und Staatsformen als politisches Faktum anzuerkennen und zu befürworten. Diese Form des Ethnopluralismus erkennt die Tatsache der Kulturalität der verschiedenen politischen Räume und ihrer Metaerzählungen an und sieht sie als inkommensurable Entitäten. Daraus ergibt sich aber nicht notwendigerweise die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht in einer Welt souveräner Nationalstaaten.
Der neurechte Ethnopluralismus, wie er in der westeuropäischen Rechten begriffen wird, läßt sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen:
Alle Völker haben ein Selbstbestimmungs- und Lebensrecht, ebenso wie wir Europäer. Imperialismus, gleichgültig welcher Richtung, ist abzulehnen. Der Kampf gegen den Bevölkerungsaustausch ist ein Teil des Kampfes für Völkervielfalt, den wir naturgemäß bei uns selbst beginnen.
Dabei wollen wir aber rein defensiv unser Land erhalten. Jede Form des Eroberungskrieges oder gar europäische Bruderkriege sind moralisch zu ächten und sollen als “Fehler der Vergangenheit” überwunden werden. Grenz- und Gebietsfragen vom Elsaß über Ostpreußen bis zu Südtirol seien passé, da alle Westeuropäer ohnedies mit der gleichen Problematik Bevölkerungsaustausch und Islamisierung – konfrontiert wären. Bei Gebietskonflikten mit Osteuropäern ginge man gar so weit, die verlorenen Gebiete beim slawischen Nachbarn als “besser aufgehoben” zu sehen, da sie dort von außereuropäischer Zuwanderung verschont blieben.
Diese oder ähnliche Standpunkte dominierten die Friedenszeiten der letzten Dekaden, in denen Krieg in Europa nur mit dem Präfix “Info-” vorstellbar war. In diesen beschaulichen Garten schöner Ideen fährt der Ukrainekrieg nun mit der vollen Wucht des Faktischen. Alte Ressentiments kochen hoch, und nationale Bruchlinien treten wieder hervor. Kann der Ethnopluralismus das überstehen?
Analysieren wir den Ukrainekonflikt fürs erste nach “ethnopluralistischen Gesichtspunkten”:
1. Auf unterster Ebene wollten und wollen die ethnokulturell russischen Einwohner des Donbass und der Krim eine eigene Staatlichkeit bzw. einen Anschluss an die russische Föderation. Ihnen gegenüber tritt der ukrainische Staat als imperialistischer, assimilatorischer Akteur auf. Kritiker wenden ein, daß die Russen in zaristischer und sowjetischer Zeit gezielt angesiedelt wurden, und daß dieser Separatismus vom Kreml dirigiert werde. Allein, das ändert wenig an seinem Bestehen. Nicht zu vergessen ist, daß seit 2014 immerhin Tausende bereit waren, für diese identitäre Forderung zu kämpfen und zu sterben.
2. Eine Ebene höher sehen wir das ukrainische Volk in einer noch nicht abgeschlossenen Ethnogenese. Es will seine staatliche Souveränität und wirtschaftliche Lebensfähigkeit erhalten. Dazu benötigt es den Donbass und den Zugang zum Schwarzen Meer. Ein signifikanter Teil der Ukrainer will nicht Mitglied der russischen Föderation werden, da man dort eine „Russifizierung“, oder gar einen Bevölkerungsaustausch durch Kaukasier befürchtet. Auch hier wenden Kritiker ein, dass der ukrainische Nationalismus vom Westen finanziert, und die „Los-von-Moskau“-Bewegung von Washington dirigiert werde. Auch hier gilt aber: Sobald Tausende bereit sind, für die Idee dieser Nation zu leiden und zu sterben, wird sie zur geschichtlichen Realität. Rechte sollten dem Nationalismus der Russen im Donbass oder der Westukrainer niemals mit typisch linker “Dekonstruktion” begegnen.
3. Auf der höchsten Ebene haben wir die Russische Föderation als multiethnisches Imperium, das jedoch einen “paramodernen” Sonderweg eingeschlagen hat. Seine Staatsideologie ist dem linksliberalen Universalismus und der „Globohomo“-Agenda diametral entgegengesetzt. Spätestens in seiner letzten großen Rede erklärte Putin Rußland zu einer Bastion der multipolaren Welt, und als letzte Frontlinie gegen das unipolare US-Weltreich. Man kann zu Putin und der realexistierenden Russischen Föderation stehen wie man mag. Zumindest verbal entspricht ihre geopolitische Vision eher dem Ethnopluralismus als die “One World” des Westens. Will Rußland ein militär- und wirtschaftspolitisch souveräner Akteur der Geopolitik bleiben, muß die Ukraine aufhören, Instrument der amerikanischen „Containment“-Politik zu sein.
Wer ist in diesem verschlungenen Konflikt “Imperialist”, und wer vertritt ein ethnopluralistisches Nonagressionsprinzip? Wer steht für Pluralismus und Völkervielfalt und wer für Unterdrückung, Vereinheitlichung und Gleichmacherei? Und wer ist “im Recht”?
Wir sehen am Beispiel des Ukrainekreigs den blinden Fleck eines geopolitisch naiven Ethnopluralismus. Es gibt kein einklagbares „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, das schon Carl Schmitt als “individualistisches” Prinzip kritisierte. Selbstbestimmung und Souveränität müssen letztlich militärisch garantiert werden.
Ist man selbst nicht dazu in der Lage, braucht es einen fremden “Garanten”. Ein kleines Volk braucht daher in der Regel eine Schutzmacht. Die ideale Welt eines naiven Ethnopluralismus wäre ein “Völkerzoo”, in dem alle Ethnien in ihrem eigenen Gehege hermetisch voneinander getrennt, “souverän” koexistieren. Diese Utopie ähnelt den libertären “Nonaggressions-Utopien”, nur daß es hier statt um Individuen um ganze Völker geht.
Tatsächlich bräuchte dieser “Völker-Streichelzoo” auch einen Zoowärter, der die Ordnung aufrechterhält, und die Akteure in ihre Grenzen verweist. Paradoxerweise setzt diese Vision einer “Welt souveräner Nationalstaaten”, einen Weltsouverän als “ethnopluralistischen Schiedsrichter” voraus!
Solange die USA die einzige Macht sind, die dazu in der Lage und gewillt sind, die Weltpolizei zu stellen, werden auch sie entscheiden, wo ein „Selbstbestimmungsrecht“ militärisch exekutiert wird. Das heißt: für Ukrainer und Taiwanesen, nicht aber für Volksgruppen im Jemen, für Kurden, Basken, Armenier oder Korsen, etc. Als Dirigent der Weltöffentlichkeit erklären die USA zudem manche Angriffskriege zum die Weltordnung erschütternden Skandal (Ukraine), oder als moralisch gebotene Intervention (Syrien, Irak, Afghanistan etc.). Wer diese Dimension ausblendet und den naiven „Völkerzoo”-Ethnopluralismus vertritt, wird unbewußt zum Propagandawerkzeug der liberalen „Thalassokratie“.
Der Ukrainekrieg unterzieht so abstrakte und weltfremde Ideen, die vielleicht schön klingen und “moralisch” anmuten, einem brutalen Streßtest. Der Ethnopluralismus kann als rechtes Konzept nur überleben, wenn er geopolitisch “nachrüstet” und romantisch-moralische Maximalpositionen aufgibt. Das bedeutet aber, kurz gefaßt, sich dem Konzept des Großraums und der Reichsidee zu öffnen.
Das führt notwendig zu einer schmerzhafte Kritik des aufklärerischen, liberalen Nationalismus und der “nationalen Souveränität”. Es ist eine Bewährungsprobe für die neurechte Theoriebildung. In einem Moment, da alte Ressentiments wieder aufkommen und verdrängte, offene Rechnungen ins Bewußtsein treten, gerät man rasch in den Ruch des Vaterlandsverrats und der Gefallsucht beim Gegner.
Eine Flucht in blinden Ethnozentrismus, der die demographischen und geopolitischen Realitäten ausblendet, wird unser Volk und Europa jedoch nicht retten. Doch selbst diese Haltung ist nicht so unzeitgemäß wie ein naiver, romantischer Ethnopluralismus, dessen moralischer Verweis auf “Selbstbestimmungsrechte” angesichts der Weltlage nur mehr skurril wirkt.
Rheinlaender
Nicht nur die USA, sondern auch jeder andere politische Akteur, der an ihrer Stelle ein Imperium verwaltete, würde Selbstbestimmungsrechte unterschiedlich vergeben, weil jeder rational handelnde Akteur u. a. zwischen Freund und Feind unterscheiden muss. Ukrainer und Taiwanesen erhalten dieses Recht nur deshalb, weil sie sich in der ersten Kategorie positioniert haben. Russland verhält sich genauso und unterstützt nur die Souveränitätsansprüche jener Akteure, die sich in sein Bündnis eingliedern. Putin ist gewiss alles andere als ein Ethnopluralist, wie man u. a. 1999 in Tschetschenien beobachten konnte. Den Ethnopluralismus halte ich daher für eine unbrauchbare Utopie. Eine echte rechte Alternative müsste statt dessen die Frage nach den nationalen Interessen Deutschlands, nach Wegen zur Erweiterung seiner Macht und nach den zur Verwirklichung seiner Interessen geeigneten Bündnissen stellen.