Diese Forderung suggeriert ein Selbstverständnis, das jedoch im Sinne utopischen Forderung ein Wunsch bleiben wird. Man kann das bedauern, sollte es aber wissen.
Liefen sich Argumentationen an der DDR-Schule fest, weil jemand plötzlich oder hartnäckig opponierte, fragten die bissigen Autoritäten inquisitorisch: Bist du etwa nicht für den Frieden? – Wer denn wollte dagegen sein?
Wer denn hätte je gesagt oder nur sagen wollen: Nein, bin ich nicht. – Also handelt es sich um eine rhetorische Frage, die fordert: Weil du ja ganz sicher für den Frieden als höchstes Gut der Menschheit bist, mußt du für diesen Staat sein, der doch die Forderung „Nie wieder Krieg!“ geradezu zu seinem Wappenspruch erkoren hat.
Wappenspruch? Eben. Selbst der vermeintlich Friedliche kommt gerüstet daher – und verkündet, er müßte wehrhaft sein, weil die anderen ja eben nicht für den Frieden wären. Wilhelm Buschs Vers-Fabel „Bewaffneter Friede“ konnten wir auswendig. Und klar, die DDR sah sich als wackerer Igel.
„Nie wieder Krieg!“ ist eine naive Losung, gegen die man nichts haben möchte. Man könnte jedoch gleichsam fordern: Nie wieder Krankheit und Sterben! Fromme Wünsche, einerseits idealistisch, andererseits billig. Dennoch würde man nur in besonderen Situationen fordern: Krieg jetzt!
Aber selbst dafür gäbe es schon Gründe, auch gute, die man u. a. historisch aufzurufen wüßte. Selbst die einst pazifistischen Grünen verlangen derzeit vehement nach Krieg, etwa nach dem vermeintlichen Befreiungskrieg der Selenski-Ukraine.
Möglich, daß unser Leben nur im Zustand des Als-ob erträglich ist. Wir leben heute, als ob wir nicht schwer erkranken oder morgen umkommen könnten, obwohl dies genau so geschehen kann und vielfach natürlicherweise geschieht.
Wir leben, als ob uns in allernächster Zeit hier kein Kriegsgeschehen träfe. Sogar so, als würden wir selbst nie aggressiv werden. Geschähe es doch, wüßten wir die Affekte präventiv zu regeln – gewaltfrei, selbstverständlich.
Vieles im Alltag und darüber hinaus geschieht im Als-ob:
Als ob es so wäre, daß manches nicht geschehen könnte. Obwohl es durchweg doch geschieht. Alles, was „Nie wieder!“ verspricht, ist schwer zu halten, im Falle des Bekenntnisses „Nie wieder Krieg!“ gar nicht. Überhaupt: Skepsis ist nie so angezeigt wie gegenüber Bekenntnissen und Schwüren. Gerade weil Grund zum Zweifel ist, schwört man ja und bekennt sich.
Problematisch wird es jedoch, wenn das Als-ob zur unbestreitbaren Tatsache erhoben wird – etwa in der Weise: Nie und nimmer werden dich Krankheit, Krieg und Tod treffen; die apokalyptischen Reiter traben einfach als böse Traumgebilde vorbei. Oder philosophisch verschlagener: Ein menschliches Zusammenleben ohne Krieg ist möglich.
Man kann das gedanklich erweitern. Entscheidendes, was man zur linksgrün-woken Meinungsführerschaft der Republik wissen muß, offeriert ein kurzes Video um den Slogan „Wir machen mit bei der Rettung der Erde! – Fahrrad fahren, wenig Fleisch und – vor allem – Strom sparen!“
Die Dame Vorsängerin-Vortänzerin meint es wohl gut: 1.) Die Erde ist mit bestimmten Maßnahmen zu retten. 2.) Deswegen machen wir mit. – Genau das irritierte an den Linken im Westen immer:
Man wollte ihnen spontan schon gern recht geben, wenn man sie auf ihren Latschdemos in der Zeit der Hochrüstungspolitik erlebte und dem Hannes-Wader-Singsang zuhörte. Mindestens hatte man den Eindruck, sie meinten es gut. Nur traute man ihnen kaum die Redlichkeit zu, erforderliche Konsequenzen für ihr eigenes Handeln abzuleiten, weil sie als Maulhelden in Latzhosen erschienen, denen schon der Mumm fehlte, auch nur die Verantwortung für ihr eigenes Leben wahrzunehmen.
Außerdem dachten sie ihre so oberflächlichen wie pointierten Losungen nicht zu Ende. Was gut klingt, muß nicht gut sein, schon gar nicht realistisch: „Stell dir vor es ist Krieg – und keiner geht hin.“ Das ist nicht cool, sondern schlicht dumm.
Pure Bekenntniskultur, heutzutage wieder staatsbürgerkundlich in der Schule verordnet, so wie „Diversität“, „Toleranz“, „OneWorld“, „OneLove“ usw. usf., politischer Kitsch wie früher in der DDR die „unverbrüchliche Freundschaft mit dem Lande Lenins“, durchweg gefährlicher Unfug, aber eben zwangsvereinnahmend, insofern hierzulande gilt: Bekenntnis ist wichtiger als Erkenntnis.
Zu Ende Gedachtes mündet stattdessen häufig in eine Desillusionierung ein, die, im Tiefenverständnis, schwer erträglich, aber deswegen heilsam ist. Man übe sich darin, den Blick nicht zu senken und es offensiv auszuhalten, wenn wieder Krieg ist oder wenn es sich erweist, daß die Erde eben nicht zu retten ist, weil der Mensch aus Gründen seiner Anthropologie weiterhin furchtbare Kriege gegen seinesgleichen führen und sowieso seine natürliche Umwelt, die wundervolle Erde, mindestens in dem Bereich vernichten wird, wo er seine Lebensgrundlagen schafft.
Die alten Mythen beschreiben das dramatische Dilemma unserer Existenz hinreichend, u. a. der Erbsünde-Mythos im Buch Genesis. Darüber hinaus gibt es Hoffnungen – persönliche, religiöse, philosophische und literarisch gestaltete. Gut, wer mit der Hoffnung lebt: Nie wieder Krieg. Wir werden die Erde retten.
Eben weil der Mensch aus einfachster Erfahrung bereits als Kind die zunächst niederschmetternde Erfahrung zu machen hat, wie dramatisch böse er selbst und seine Nächsten handeln können, projiziert er Utopien, die verheißen mögen, der Mensch sei, mit Goethe, edel hilfreich und gut. Sei! Konjunktiv und eben nicht Indikativ.
Besser jedoch, äußerlich kühl und abständig, innerlich aber warmherzig und den Menschen wie der Natur zugewandt den Gedanken zu ertragen: Menschen werden sich weiter bekriegen, in ihrem engsten Kreis ebenso wie in der Welt, und vermutlich werden Menschen ihre Umwelt, die Natur bzw. die Schöpfung, weiter irreversibel zerstören und sich wie ihre Mitgeschöpfe viehisch quälen. Endverbrauchsstadium.
Richtig und ehrenwert, wer sich trotzdem dafür engagiert, gegen das Unweigerliche, soweit das möglich ist, Normen zu setzen und Regeln aufzustellen, über die – bisher stets vorübergehend – sogenannte Grundvereinbarungen geschlossen werden. Wie aber? Eben im Als-ob.
In seinem Aufsatz „Über Utopie und Gewalt“ forderte Karl Raimund Popper, eher für die Beseitigung konkreter Mißstände als für die Verwirklich abstrakter Ideale einzutreten. Jedes Elend, so Popper, sei konkret, die Utopien aber abstrakt, und keine Generation dürfe zugunsten zukünftiger geopfert werden, im Namen eines Ideals, das vielleicht unerreichbar sei.
Es ist die Linke und gegenwärtig die radikale woke Bewegung, die Utopien in einer Weise veranschlagt, wie es auf anderer Weise der Faschismus und der Stalinismus praktizierten. Je weiter man Utopien einem kritisch-desillusionierten Denken vorzieht, um so mehr ist man selbst in Gefahr.
Werden diese Losungen aber Programm, droht das, was irgendwie gut und segensreich klingt, nicht nur die Grenzen des kritisch Vernünftigen, sondern überhaupt des menschlich Erträglichen abzuräumen. Was Pol Pot in Kambodscha/Kampuchea wollte, war – aus der Perspektive seiner extremen Vorstellungen – offenbar gut. Aber es geriet für die Menschen zum Horror. Obwohl das, was auf den „Killing Fields“ geschah, leider wiederum zum Spektrum des Menschlichen gehört. Immer wieder angeblich unvergleichliche Verbrechen, die allerdings nach Vergleichen und Analysen verlangen.
Kommunistische Politik gründet auf eschatologisch ausgerichteter marxistischer Geschichtsphilosophie, die, Erbe des deutschen Idealismus, von Hegelscher Genetik bestimmt ist. Eschatologie aber ruft Kräfte auf, die an die Glaubenskriege der Neuzeit denken lassen.
Die gegenwärtige „Wokeness“ folgt einem verwandten Idealismus. Wo sie entscheidenden Einfluß gewinnt, rechne man nicht nur mit bizarren Aufführungen von unfreiwilliger Komik, sondern mit dramatischen Folgen, zumal sich die Radikalisierung gerade eigendynamisch verstärkt. Bislang werden ihr vom Staat selbst Tür und Tor geöffnet. Das führt zu einer unerwarteten Ideologisierung und damit zu Einschränkungen des Denkens und Sprechens und zu einer enormen Polarisierung in der Gesellschaft.
Philip Eppelsheim kommentierte am 16. November in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“:
„Eine radikale und lautstarke Minderheit verändert die Gesellschaft und zieht ihre eigenen Linien des Sagbaren und politisch Korrekten. Universitäten sagen Vorträge ab, Stichwort Cancel Culture. Das Gendern zieht ein in Medien und Institutionen. Straßen werden umbenannt, Kinderbücher gelten als rassistisch. (…) So entstehen Sprachverbote, und die angeblich woken Aktivisten machen genau das, was sie vielen anderen vorwerfen: Intoleranz ausüben.“
Nur geschieht all das eben bereits von Staates wegen. Die Aktivisten durchliefen die staatliche Schule und wurden genau dort staatsbürgerkundlich geprägt, insofern „Wokeness” in ganz entscheidenden Grundpositionen hierzulande längst Staatsdoktrin ist.
Es ist eher die politische Rechte, die den Menschen vor sich selbst und seiner persönlichen wie gesellschaftlichen Entgrenzung warnt und die ihn, zur Macht gekommen, davor bewahren wollte – nie davor gefeit, eigendynamisch genau dabei selbst zu entgrenzen.
MARCEL
Das (letzte) Ende von "Nie wieder..." kann man z.B. in Cormac Mc Carthy The Road nachlesen.
Die härteste Dystopie stammt ausgerechnet von einem US-Amerikaner.
Der zivilisierte Mensch (der Mensch überhaupt?) ist etwas Vorübergehendes.
Manch einer gedachte ihm noch eine vernichtend-erlösende Rolle zu, z.B. Eduard v. Hartmann oder Philipp Mainländer.
Wie dem auch sei: Klassisch konservative Intention war immer, den Menschen vor sich selbst zu schützen.