Sie treibt ihn seit jeher um, und die Suche nach einer Antwort hat ihn aus der Höhle geführt. Gefunden hat er sie bis heute nicht, vom Feld der Aussagenlogik einmal abgesehen. Einen Beleg für die anhaltende Suche hat der Althistoriker Egon Flaig in der FAZ vom 14. November gebracht.
Unter der Überschrift „Wie hält es die Historie mit der historischen Wahrheit?“ reitet er eine Attacke gegen eine Geschichtswissenschaft, die sich zum Diener der gerade grassierenden Identitätspolitik macht. Wer Flaig kennt, der schon den Rotz in seinem Taschentuch mit dem Holocaust verglich, um die Behauptung historischer Singularität ab absurdum zu führen, weiß, daß dieser das offene Wort liebt.
Zu seinem aktuellen Beitrag gibt es eine Vorgeschichte. Mitte Oktober hatte Flaig in der FAZ einen Beitrag veröffentlicht, der sich kritisch mit der Forderung nach „historischer Gerechtigkeit“, die der antikoloniale Diskurs gegenwärtig in Richtung Europa als den für den Kolonialismus Verantwortlichen erhebt, auseinandersetzte. Dieser leugne nämlich vier historische Wahrheiten: daß die Sklaverei älter als die europäische Weltherrschaft ist, daß es nur in Europa eine Anti-Sklaverei-Bewegung gab und daß die arabischen Eroberer in Afrika Kolonialismus praktizierten. Dort habe schließlich der „hautfarbige Rassismus“ seine Wurzeln.
Flaig interessieren bei dieser Debatte vor allem drei Punkte. Zunächst die ganz konkrete Frage, welche Auswirkungen die europäische Inbesitznahme Afrikas dort hatte. Seine Antwort:
Die freien Afrikaner von heute verdanken ihre Freiheit just den abolitionistischen Interventionen von Briten und Franzosen.
Mit anderen Worten: Ohne Kolonialismus gäbe es da heute noch Sklaverei. Der zweite Punkt ist eben die eingeforderte „historische Gerechtigkeit“, die Flaig für unerfüllbar hält, weil es sich um eine ins Unendliche reichende Spirale handelt:
Jede Reparation privilegiert das erinnerte Unrecht gegenüber dem nicht-erinnerten und erzeugt neue Ungerechtigkeit.
Und schließlich ist es der von Hermann Lübbe einmal so bezeichnete „demokratische Dummstolz“, mit der die gegenwärtige Generation meint, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, ohne dabei zu bedenken, daß die Weisheit von den Vorfahren hart erkämpft wurde. Die Verdammung der Vorfahren bedeutet dann auch, unsere eigene Geschichte zu negieren und damit den Weg, auf dem wir wurden, wie wir sind.
Gegen diese Thesen ließe sich einiges einwenden. Insbesondere gegen die bei Flaig notorische Fortschrittsideologie. Die Franzosen und die Engländer kommen bei ihm zu gut weg, auch wenn die Araber für die Sklaverei in Afrika eine maßgebliche Rolle spielten. Aber wer „Die Wüstenrose“ von Henry de Montherlant gelesen hat, den wird die Lobhudelei doch befremden. Auch wären die horrenden Opferzahlen, den der Kampf gegen die Sklaverei in unzähligen Bürgerkriegen gefordert hat, erwähnenswert.
Über die Deutschen schweigt sich Flaig ganz aus, dabei stehen sie (abgesehen von gescheiterten Sklavenhandelversuchen im 17. Jahrhundert) mit weißer Weste da. Aber das ist vermutlich ein zu heißes Eisen für Flaig. Bruce Gilley, der ebenfalls der Fortschrittsideologie anhängt, hat es angepackt.
Allerdings antwortete nicht Gilley auf Flaigs Aufsatz, sondern Rebekka Habermas. Diese ist nicht nur die Tochter von Jürgen H., sondern auch Historikerin. Ihre Antwort in der „Zeit“ vom 30. Oktober ist allerdings in der Sache nicht besonders ergiebig und stellenweise ziemlich wirr. Sie meint einerseits, Flaigs Behauptung, daß Sklaven oft selbst Sklavenjäger waren, sei korrekt (sage aber nichts über die Ursachen der Sklaverei aus), andererseits sei es perfide, dies als Argument in die Debatte einzuführen.
In einem interessanten Punkt pflichtet sie ihm sogar bei: „Fragen der Schuld haben […] erst einmal in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen keinen Ort […].“ Ein interessanter Gradmesser, den sich jeder merken sollte, wenn es mal wieder um die Ursachen des Ersten oder Zweiten Weltkriegs geht.
Dennoch ist nach der Lektüre des Beitrags von Habermas nicht ganz klar, was Flaig so erzürnt haben mag, daß er in der FAZ zwei Wochen später nachlegen mußte. Schaut man sich den Text an, wird schnell klar, worum es Flaig geht.
Habermas hat Studien unbeachtet gelassen, die Flaig für maßgeblich hält. Sie hat also den Forschungsstand ignoriert. Viel schwerer wiegt jedoch, daß sie an keiner Stelle den Versuch unternommen hat, Flaigs Thesen zu widerlegen, denn auch die von ihm für maßgeblich gehaltenen Studien können ja falsch sein. Denn Wissenschaft besteht nun einmal vor allem in der Revision der vorliegenden Ergebnisse.
Flaig ist da etwas anderer Auffassung. Er ist deshalb so erbost, weil er an die Existenz historischer Tatsachen glaubt. „Glauben“ wird seiner Auffassung nicht ganz gerecht, da Tatsachen ja nicht geglaubt werden müssen. Allerdings bewegen wir uns hier auf einem schmalen Pfad, da es ja auch Glaubenstatsachen gibt bzw. der Gläubige die Inhalte seines Glaubens ja ebenso für Tatsachen hält.
Das Leugnen von historischen Tatsachen […] annulliert die Kriterien des Bewahrheitens und negiert die verbindlichen Regeln der globalen Mitteilbarkeit von Wissen, Erfahrung und Argumenten.
Dieser Satz ergibt natürlich nur dann Sinn, wenn man weiß, was eine historische Tatsache ist.
Zunächst will Flaig damit nur den Mißbrauch der Geschichtswissenschaft für geschichtspolitische Ziele anprangern, so wie sie Habermas im Sinn der ehemaligen Kolonialvölker vertritt. Damit würden historische Narrative bedient, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.
Mit Wahrheit und Wissenschaft habe das wenig zu tun, die im Umkehrschluß auch nicht geeignet seien, Kollektiven Orientierung zu geben. Das ist ein ziemlich puristischer Ansatz von Geschichtswissenschaft, die in so reiner Form kaum irgendwo außerhalb des Elfenbeinturms anzutreffen sein dürfte. Denn jede Form der Geschichtswissenschaft, die Nichthistoriker wahrnehmen, begibt sich nach außen und versucht in irgendeiner Art und Weise Orientierung (in der Vergangenheit) zu geben. Flaig nimmt dieses Vorrecht für sich auch als selbstverständlich in Anspruch.
Interessant ist, an welchem Beispiel Flaig die Auseinandersetzung zwischen der Geschichtswissenschaft und der Geschichtspolitik zeigt. Er wählt dazu den Historikerstreit von 1986, der vor allem zwischen Ernst Nolte und dem großen Rest der Historikerzunft ausgetragen wurde. Nolte war in diesem Streit derjenige, der „auf der fachlich konstitutiven Differenz“ beharrte:
„Die Feststellung einer Tatsache ist abzusondern von der Bewertung derselben.“
Für Habermas, den Vater von Rebekka, und Hans-Ulrich Wehler war hingegen klar,
daß ein gedächtnispolitisch erzeugtes Bild von der Vergangenheit öffentlich zu gelten habe, unbehelligt von verstörenden Fragen aus der Fachdisziplin.
Wenn man Flaig folgt, störten die von Nolte festgestellten Tatsachen den geschichtspolitischen Frieden der BRD. Aber aus der Tatsache, daß der Bolschewismus älter als der Nationalsozialismus ist, folgt nur dann dramatisch viel, wenn man letzteren zu einem außerzeitlichen Phänomen erklärt hat. Und daran arbeitet die Geschichtswissenschaft bis heute, indem sie sich hinter gedächtnispolitischen Gesetzen verschanzt.
Flaig wird hier sehr deutlich, wenn er die Suspendierung dieser Gesetze fordert und die Konsequenzen beschreibt, die es hat, wenn politische Ziele kleiner Gruppen bestimmen, was historisch als Tatsache zu gelten hat. Aus ihrer Betroffenheit folgt der Sonderstatus, der es sich erlauben kann, vom Wahrheitskriterium abzusehen.
Flaig:
Hieraus speist sich die exterminatorische Wut auf jene Geschichtswissenschaft, die es noch wagt, sich der Woge von universitär legitimierten Unwahrheiten entgegenzustemmen und sie als das zu bezeichnen, was sie faktisch sind: fake history.
Dem ist voll und ganz zuzustimmen, nur wüßte man gern, ob er den Status „Pseudowissenschaft“, den er den „Postcolonial Studies“ zuweist, auch für die „Holocaust Studies“ anwenden würde.
Niekisch
Für einen sachgerechten Diskurs erst einmal die aktuelle und einschlägige Fassung des § 130 StGB - www.dejure.org -:
(3) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.
(4) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.