vor allem auch sein Gespräch auf der Bühne der „Berliner Zeitung“ fand viel Beachtung. Natürlich auch ätzende Kritik – in dieser Debatte konnten die Deutschen den ungarischen Ministerpräsidenten vielleicht zum ersten Mal als weitsichtigen Geopolitiker kennenlernen. Im Nachklapp gab er der deutschsprachigen „Budapester Zeitung“ ein ausführliches und sehr lesenswertes Interview, in dem er auch eine Reihe Bücher benannte, die ihn beeindruckt und beeinflußt haben.
Besonders hob er Klaus von Dohnanyis Nationale Interessen hervor, ein Werk, das erst Anfang des Jahres erschienen war und sicher nicht ganz zufällig eilig ins Ungarische übersetzt wurde. Das Buch konnte bereits Mitte Juni in Budapest vorgestellt werden, von keinem Geringeren als Gergely Gulyás, Kanzleramtsminister und Orbáns rechte Hand; als deutscher Vertreter saß Werner Patzelt an seiner Seite. Nicht auszuschließen, daß auch Dohnanyis ungarische Wurzeln bei der schnellen Einführung behilflich waren.
Orbán jedenfalls nannte es „ein außerordentlich wertvolles Buch“, das er aufgrund der „Klarsicht, mit der von Dohnanyi die internationalen Beziehungen betrachtet und analysierte“ gleich zwei Mal gelesen, ja verschlungen habe. Der Berliner Dialog bestätigt diese Aussage.
Was ist das für ein Buch? Und warum hat es noch so wenig Aufmerksamkeit gefunden? Sicher, auf seinem Schutzumschlag prangt der Aufkleber „Spiegel Bestseller“ – ein Zeichen für den Hunger der deutschen Leserschaft nach alternativen Deutungen – und es wurde in allen großen Gazetten besprochen, wenn auch überwiegend ablehnend, und es wäre wohl regelrecht verrissen worden, hätte es nicht eine Beißhemmung vor der Lebensleistung eines 93-jährigen Sozialdemokraten gegeben, der seit den 60er Jahren im Politgeschehen dieses Landes mitmischte, etwa als Staatssekretär, Minister, Hamburger Bürgermeister und enger Vertrauter von Brandt, Schmidt und Genscher.
Dohnanyi ist Zeitzeuge. Wenn er aus dem Nähkästchen plaudert, dann sollte man lauschen. Spätestens wenn er sich den geopolitischen Narrativen der eigenen Partei, ja des gesamten amtierenden Politkomplexes widersetzt, sollte man die Ohren spitzen.
Und wenn wir dann bereits im Vorwort lesen:
Deutschland und Europa sind heute in Fragen der Sicherheit und der Außenpolitik nicht souverän. Es sind die USA, die in Europa die Richtung vorgeben,
dann wissen wir, daß die weitere Lektüre lohnt. Man begreift an diesen Stellen auch, daß Dohnanyis Lebensleistung ihn vor der medialen Demontage schützt, daß überhaupt nur einer wie er, ein Grande, ein Unantastbarer, es sich leisten kann offensiv gegen den medialen und politischen Mainstream anzuschreiben, ohne vernichtet oder mindestens als „rechts“ diskreditiert zu werden. Kurz: das Buch verdient – noch ohne, daß wir eine Zeile gelesen hätten – unsere ganz besondere Aufmerksamkeit!
Es steht freilich unter einem Vorbehalt, unter einer ungünstigen historischen Konstellation. Dort, wo es um Rußland oder die Ukraine geht, unterstellt Dohnanyi den Russen eine prinzipielle Friedensabsicht, hält er einen Angriffskrieg Rußlands für nahezu ausgeschlossen. Wenige Wochen nach Veröffentlichung schien diese Position Makulatur, man konnte das unbequeme Buch erleichtert beiseitelegen und den Autor nun einen Starrkopf zeihen, da er doch auf seiner Haltung beharrte.
Tatsächlich hatte Dohnanyis Optimismus eine Kondition, die ihm durch die Hintertür wieder recht gab. Es sei die Aufgabe deutscher und europäischer Politik und Diplomatie gewesen, Rußland jegliches Interesse an einer Aggression zu nehmen, aber gerade das sei langfristig durch die Osterweiterung der NATO und kurzfristig durch die Zugeständnisse an die Ukraine nicht geschehen – hierin liege die Mitverantwortung des Westens, Europas, der NATO und der USA.
Dohnanyis Prämisse geht von knallharten „nationalen Interessen“ aus, die auch hinter „schwammigen Begriffen“ wie der „Wertegemeinschaft“ lagern. Er begründet sie aus der Historie und der jeweiligen Geographie, die nationale Charaktere und Mentalitäten erschaffen, historische Pfade vorgeben, und wer diese mutwillig verletzt, wer also seiner nationalhistorischen Natur durch mutwillige politische Entschlüsse zuwider handelt und diese Wege verläßt, riskiert nicht nur, von den Trägheitskräften der Geschichte überrollt zu werden, er provoziert auch massenhaftes Leid und Chaos.
Umgekehrt kommt es in der Politik darauf an, die historischen Kontinuitäten, die geschichtlich gewachsenen Unterschiede zu beachten, weshalb es etwa illusionär sei, Xi oder Putin, China oder Rußland – die auf ebenjenen Pfaden wandeln – durch Sanktionen oder Drohungen von ihrem Weg abzubringen: es gibt „Pfadabhängigkeiten“.
Das gilt natürlich auch für Ungarn mit seiner tausendjährigen historischen und sprachlichen Singularität und das gilt selbstverständlich ebenso für Deutschland. Dieser Fall liegt freilich etwas komplizierter, denn „der Holocaust und die deutsche Schuld“ haben die historische Kontinuität unterbrochen, haben die auf sie zulaufende vorherige Geschichte, das Erbe, von der Gegenwart abgetrennt, weshalb Deutschland auch das einzige Land Europas sei, das an „innerem Zweifel“ leidet. Seither ringt das Land um eine neue Identität.
Verfassungspatriotismus ist laut Dohnanyi zu sehr ein Leichtgewicht, um ein Nationalbewußtsein begründen zu können. Was uns heutige Deutsche tatsächlich ausmacht, das sind die „formale Rechtsstaatlichkeit“, ein „merkantilistisches Wirtschaftssystem“ und die „Tradition föderalistischer Strukturen“. Unsere deutsche Identität liegt in der Wirtschaftspolitik und im „wettbewerbsfähigen Sozialstaat“, dessen Tradition auch über die Holocaust-Schranke zurückreicht. Dies zu erhalten, das ist das nationale Interesse der Deutschen.
Diese Interessen führen zwangsläufig zu Interessenkonflikten mit anderen nationalen Interessen, insbesondere in Zeiten der Globalisierung, also einer zunehmenden Vernetzung und gegenseitigen Abhängigkeit. Der Nationalstaat bleibt dabei das Fundament, nur er besitzt die
notwendige demokratische Legitimation zum nationalen und internationalen Handeln.
Doch ist die Souveränität des deutschen Nationalstaates gefährdet und in Frage gestellt, außen- und innenpolitisch. Zum einen durch die hegemoniale Stellung der USA in Europa –
„Europa muß sich endlich eingestehen: Wir Europäer sind Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses und waren nie wirklich Verbündete, denn wir hatten nie ein Recht auf Mitsprache“ –
und die Kompetenzübergabe an die Europäische Union und Europäische Kommission –
klare nationale Führung, keine Einmischung der EU-Kommission, die Unternehmen müssen im Mittelpunkt stehen -,
zum anderen durch die innere Aufweichung der Demokratie, etwa durch die demokratisch nicht legitimierten und ungenügend gesteuerten „Kräfte des Weltmarktes“ oder die zunehmende Moralisierung und Werte-Orientierung in der Politik.
Dohnanyi widmet sich vor allem dem außenpolitischen Aspekt. Die Europäer sind Opfer der US-amerikanischen Geopolitik, deren habituelle Konfrontation zu Rußland nahezu 150 Jahre zurückreicht, seit George Kennan Rußland zum „Evil Empire“ erklärte. Genuines europäisches, insbesondere deutsches Interesse sei jedoch eine Kooperation mit Rußland, diese werde ausdrücklich seit Ende des Zweiten Weltkrieges von den USA systematisch behindert. Amerika setzt seine geopolitischen Interessen seit dem 19. Jahrhundert, seit man sich als „exceptional nation“ versteht, seit der Monroe-Doktrin, durch.
Um das zu sehen, müsse man durch die humanitären Floskeln, die „Wertegemeinschaft“, die „historische Freundschaft“ durch schauen. Roosevelt sah im erstarkenden Deutschland eine potentielle Gefahr und näherte sich England an, das nun als eine Art Platzhalter amerikanischer Interessen in Europa agierte. Auch der Kriegseintritt im April 1917 geschah nicht aus humanitären Gründen …
Dohnanyi gräbt sich tief in die Geschichte ein. Er kann auch eigene Erfahrungen einbringen. Ein schockierendes Schlüsselerlebnis scheint eine NATO-Übung Ende der 70er Jahre gewesen zu sein, als die USA nach angenommenen russischen Landgewinnen auf deutschem Boden mit taktischen Nuklearwaffen reagierten, ohne die deutsche Regierung, die er bei diesem Manöver vertrat, auch nur informiert zu haben.
Um in einer interessengeleiteten Außenpolitik bestehen zu können, genüge es nicht, nur die eigenen Interessen zu verstehen, man müsse auch die der strategischen Partner und Gegner verstehen und einkalkulieren, man muß „Rußland-Versteher“, „Amerika-Versteher“ und „China-Versteher“ werden.
Die jetzigen Konflikte beruhen auf einem Unverständnis der russischen Position. Immerhin habe Rußland immer wieder und über Jahrhunderte die schmerzhafte Erfahrung machen müssen, vom Westen her angegriffen worden zu sein. Der Zusammenbruch des Sowjetreiches stellte einen schweren Schlag für das Selbstbewußtsein dar.
In dieser Phase waren die wörtlichen Zusagen des amerikanischen Außenministers Baker, keine NATO-Ostererweiterung jenseits der deutschen Grenze anzustreben, die Gorbatschow ihm im Kontext der deutschen Wiedervereinigung abgerungen hatte, essentiell. Doch hielt man nicht Wort. Die einmalige historische Chance auf einen dauerhaften Frieden wurde vertan. Dieser kann nur mit und nicht gegen Rußland garantiert werden. Statt Diplomatie und wirtschaftlicher Zusammenarbeit setzt der Westen amerikanische Interessen durch, brüskiert Moskau durch die Osterweiterung und das NATO-Versprechen an die Ukraine, besteht auf Sanktionen und Konfrontation.
Umgekehrt „gründet die europäische Sicherheit faktisch ausschließlich auf der NATO, das heißt letzten Endes auf der Verteidigungsstrategie der USA“, der Bock wird zum Gärtner gemacht. Man müsse sich von der „Illusion der Freundschaft“ befreien und sich „als souveräner Partner ‚allianzneutral‘ in der Weltpolitik positionieren.“ Käme es nämlich zu einem militärischen Konflikt zwischen den beiden Großmächten, dann würde er zuerst konventionell auf europäischem Boden ausgetragen werden, die hier stationierten Atomwaffen sind für den Schutz Europas überflüssig, nicht aber zum Schutz der USA:
Wir wissen, daß wir in einem Krieg mit Rußland sogar als Sieger nur der Verlierer sein können!
Im zweiten Teil seines Buches widmet sich Dohnanyi der EU. Ihm schwebt ein gaullistisches Modell des „Vaterlandes der Vaterländer“, eine „evolutionär fortschreitende Konföderation“ vor, ein supranationales Gebilde lehnt er hingegen ab. In einem weiteren historischen Exkurs geht Dohnanyi den Anfängen der Politik des Zentralismus nach, an deren Ende heute von der Leyen und Vestager stehen.
Es gilt, den Nationalstaat innerhalb der Union zu stärken und nicht einem Traum von „Vereinigten Staaten von Europa“ nachzuhängen. Gerade die Internationalisierung – so seine interessante Volte – verlange nach der Stärkung der Nation, denn der Weltmarkt, die gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten verändern die innenpolitischen Bedingungen und bedürfen daher verstärkter nationaler Regelung, um „die wirtschaftliche und sozialpolitische Souveränität zurückzugewinnen.“ Die Weltmarktkräfte seien auch eine Gefahr für die Demokratie, denn sie gehen nicht vom Volk aus, sind nicht gewählt, bedürfen der nationalen Kontrolle.
Nur der einzelne Nationalstaat ist … in der Lage, die demokratische Feinsteuerung der oft schmerzhaften und unbeliebten sozialpolitischen Antworten auf die Folgen der Internationalisierung durchzusetzen.
Vor allem Deutschland und Frankreich, als Säulen, seien gefordert. Dohnanyi schreibt der Ampel ins Stammbuch:
Wer Deutschlands ökonomische Entwicklung behindert, zerstört die EU.
Der EU-Kommission hingegen hält er vor, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu behindern. Die Zahlen belegen: im internationalen Blockvergleich schneidet Europa am schlechtesten ab, wichtigster Grund dafür sei die verfehlte Politik der Europäischen Gemeinschaft. Sie denke nicht global und ersticke wirtschaftliche Initiative durch ihre „innereuropäische Wettbewerbspolitik“, stattdessen müsse man über den Binnenmarkt hinausdenken. Einem supranationalen europäischen Gebilde erteilt er eine Absage;
nur das Gebilde des Nationalstaates kann der unentbehrlich demokratische Baustein auch internationaler Zusammenschlüsse sein.
Mehr noch, Dohnanyi hält – ähnlich wie Sloterdijk – ein Plädoyer für die kleine Einheit, schließlich könne man die divergierenden Entwicklungen nicht übersehen:
Einerseits schaffen Wirtschaft und Finanzen ökonomisch große Räume, andererseits wird aber von den Bürgern gerade deswegen ein vertrauensvoll demokratisches Fundament zunehmend in kleineren Räumen gesucht.“ Gerade die kleinen Einheiten stabilisieren die europäische Demokratie stärker als „ große europäische Institutionen, die viel zu weit weg sind, um das volle Vertrauen zu gewähren.
Von daher entwickelt Dohnanyi auch ein besseres Verständnis für Länder wie Polen und Ungarn, deren Geschichte, Sprache, Befindlichkeiten, historische Pfade zu wenig gekannt und berücksichtigt werden. Europa brauche die nationale Vielfalt – nicht Einheitlichkeit, nicht Gleichheit – um bestehen zu können.
Auch an diesen Worten dürfte Viktor Orbán seine Freude gehabt haben. Wie in nahezu allen Grundpositionen stellt sich Dohnanyi quer zum politischen Mainstream in Deutschland und Europa. Daß diese Einsichten aus dem sozialdemokratischen Herzland kommen, macht sie umso brisanter und wertvoller. Der alte Mann der SPD hat ein wesentliches und mutiges Buch hinterlassen, dessen Themen- und Gedankenfülle hier nur angedeutet werden konnte. Es läßt sich mühelos in die Reihe der großen geopolitischen Werke einordnen und hat eine lange, intensive Diskussion verdient.
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Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, 238 Seiten, 22 Euro – hier bestellen.
Rheinlaender
Der Realismus von Dohnanyis oder auch Mearsheimers und Kissingers geht letztlich auf rechte Denker zurück. Die alternative Rechte hätte sich und Deutschland einen Gefallen getan, wenn sie sich nach dem Beginn des Ukraine-Krieges an dieses Erbe erinnert hätte, anstatt in politischen Moralismus zu verfallen.