Schönes – Oskar Zwintscher ist einer der leider fast vergessenen Künstler aus der Zeit der „Lebensreform“ rund um die Jahrhundertwende 1900. Was für ein wunderschöner Katalog! Hilke Wagner, Direktorin des soeben ausstellenden Albertinums, beklagt zurecht: „Die westdeutsche Nachkriegskunsthistoriographie war überwiegend selbstreferentiell, sie schaute wenig (und schaut noch immer viel zu wenig) hinüber in den Osten Deutschlands – und so blieb mancher Künstler bis heute von der breiten Öffentlichkeit komplett ignoriert.“
Schade und peinlich! Die titelgebende, halb romantische, halb avantgardistische „Dame mit Zigarette“ (1904) ist nur eines von Zwintschers Meisterwerken. Dieser Maler war einer, der die Stimmungen seiner Zeit auslotete. Blätternd gerät man ins Staunen!
Sein Ölgemälde Der Sieger (1915) ist so eines, das heute verstört. Wir sehen einen blonden, nackten und muskulösen Recken, links und rechts ein Schwert führend. Vor dem Helden kauert eine rothaarige Mutter, den Säugling an die Brust führend.
Zwintscher wurde 1870 im sächsischen Borna geboren, er starb 1916 in Dresden-Loschwitz. Seine ihn fast dreißig Jahre überdauernde Ehefrau Adele hat er in seinen Bildern x‑fach verewigt. Der Maler beherrschte sichtbar die altmeisterliche Kunst – teilweise wendete er sie unter „völkischen“ Vorzeichen an.
In diesem Katalog werden auch Weggefährten und Verwandte von Zwintscher dokumentiert und abgebildet: Klimt, Böcklin, Stuck, Vogeler und viele andere.
Wer mich kennt, weiß, daß ich gern Bilder aus solchen Katalogen entnehme, einen schönen Rahmen finde und die Drucke dann aufhänge. Es sei zur Nachahmung empfohlen!
Das Dresdner Albertinum zeigt noch bis zum 15. Januar 2023 Zwintschers Bilder. Die Ausstellung wird dann (Frühling/Sommer 23) nach Wiesbaden umziehen.
(Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Hrsg.): Weltflucht und Moderne. Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900. 305 S., 42 €.)
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Wahres – Am liebsten täte ich sagen: Schenkt dieses Buch Euren kleinen Brüdern, Euren Nichten und Enkeln! Damit die nachwachsende Generation wenigstens einen Hauch von Ahnung erhält, was die unmittelbare Nachkriegszeit für all jene Deutschen bedeutete, die eben nicht „befreit“, sondern nur „besiegt“ wurden! Keine Frage: Langweilig würde dieses Buch nie. Jede einzelne Seite läßt den Leser erzittern.
Aber es ist eben nicht jugendfrei. Die grausame Wahrheit über das Schicksal der „Wolfskinder“, die nach dem Frühling 1945 verlassen durch die Wälder des Baltikums wilderten, ist recht besehen jungen Lesern nicht zumutbar.
Was geschah im Januar 1945 rund um die ostpreußische Enklave Königsberg? Allein rund 100.000 Leute, großteils Zivilisten, sterben in den ersten Tagen der russischen Offensive. Bei der Flucht über das zugefrorene Frische Haff krepieren mindestens 40.000 weitere Menschen. Diese Zahlen sind schier unvorstellbar.
Eine Rolle spielen hier auch hundertfach erfrorene Säuglinge, widerwärtigste Vergewaltigungsorgien und, ja, auch Kannibalismus. Läuse, Krätze und Ruhr sind omnipräsent, aber spielen fast eine Nebenrolle.
Der renommierte Historiker Christian Hardinghaus hat die Geschichte der Ursula Dorn (*1935) aufgeschrieben, die das Königsberger Drama überlebte. Es ist keine Weihnachtsgeschichte. Es handelt von Flucht, Angst, Verlust, Entbehrung und Trauma.
Es handelt von Höllenqualen. Es ist eine sehr deutsche Geschichte. Wer etwas aushält, muß das lesen.
(Christian Hardinghaus: Das Wolfsmädchen. Flucht aus der Königsberger Kriegshölle 1946, 255 S., 22 €.)
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Gutes – Ich kenne die sogenannte Migrantenliteratur ganz gut. Meist gefällt sie mir nicht. Das gilt sogar für ausgewiesene Sprachkünstler wie Feridun Zaimoglu. Ich kann die ganze Klaviatur nicht leiden. Dabei bilde ich mir ein, differenzieren zu können: Fatma Aydemirs Debüt Ellbogen fand ich ziemlich gut, ihren vielfach beachteten Nachfolgeroman Dschinns hingegen völlig klischeeüberladen.
Der Debütroman des Exiliraners und Berliner Barbetreibers Bezhad Karim Khani hingegen hat mich gepackt. Hier wird nicht gejammert. Hier geht es zur Sache. Es geht um eine Rumpffamilie, ein Vater mit zwei Söhnen, die Mutter ist zu Tode gefoltert worden.
Diese Leute landen über Umwege in Deutschland. Sie werden hier weder gehaßt noch ausgeschlossen oder gemobbt. Sie bekommen ihre Chancen. Die beiden Söhne Nima und Saam werden dennoch nicht dem Buchstaben des Grundgesetzes folgen. Sie werden kriminell, auf unterschiedliche Arten. Nima wird als smarter Drogenhändler mit hübscher deutscher Freundin stets unterm Radar der Institutionen fliegen. Die progressiven Eltern der Freundin sind total froh über diesen menschlichen Zugewinn. Der Vater freut sich, mit einem echten Iraner mal exotisch zu kochen, die Mutter flirtet offen mit Nima.
Saam ist weniger geschmeidig. Er gerät in völlig schiefe Fahrwasser. Bei ihm geht es um Mord und Totschlag. Dabei ist Saam gar kein Schlechter. Man rutscht so rein, in Deutschland!
Ah, ein Gangsta-Krimi? Nein, das ist es eben nicht. Dazu ist er viel zu subtil. Auch, ja, zu zart, aber auf männliche Art.
Saam legte sich die Goldkette mit dem Zarathustra-Amulett um den Hals, richtete die Rolex so, dass sie seitlich aus dem Ärmel lugte. Er setzte diesen Psychoblick auf, bei dem man nicht wusste, ob er einen abstechen würde oder nicht. Und man sah, daß er es auch nicht wußte.
Dieser Roman ist spannend, literarisch hervorragend, gar kunstvoll erzählt. Was heißt „authentisch“? Man kann´s schwer erklären, aber hier können wir es lesen.
(Behzad Karim Khani: Hund Wolf Schakal, 288 S. 24 €.)
Carsten Lucke
Freue mich so sehr, daß Sie hier Zwintscher erwähnen !
Sah ihn das erste Mal mit 16/17 Jahren in Dresden und war begeistert,
Er hing allerdings in unmittelbarer Konkurrenz zu einem sagenhaften Bild von Segantini ("Die bösen Mütter") -... und hatte keine Chance zu bestehen.
Aber das Portrait der Dame mit Zigarette ist überwältigend gut !