Lese in Uwe Tellkamps neunhundert Seiten umfassenden Roman Der Schlaf in den Uhren auf dieselbe Weise, wie man Wege geht, die man kennt: vertraut und überraschungslos. Er nimmt dies und das auch so wahr, er wirft denselben Blick auf die Dinge. Aber: Er vermittelt es meisterlich, notiert es gültig.
Der zweite Durchgang, noch einmal von vorn nach hinten, ohne Auslassungen, führt bereits durch bekannteres Gelände – man erinnert sich an Passagen, sieht sie anbranden, taucht ein. Da ist etwa die Schilderung, wie zäh man auf Thomas Manns Zauberberg ansaß, den endlich erbeutet zu haben in der DDR zugleich einen Raum öffnete und eine Pflicht auferlegte: die, den Schatz zu teilen. Es gab Wartelisten für den Privatverleih, das Buch wurde behandelt wie ein rohes Ei.
Die Jagd führt bei Tellkamp über vier Stationen: Ein Verlag kündigte eine Neuauflage an, die Nachricht verbreitete sich wie ein Torfbrand, unterirdisch schwelend, dann offen. Man setzte sich auf die Liste der Vormerkungen, stand am Tag der Auslieferung vor der Buchhandlung in der Warteschlange (dem »unsterblichsten aller planwirtschaftlichen Tiere«) und ging leer aus, weil die Auflage heillos überzeichnet war. Auch der zweite Versuch über einen der »Buckligen«, also auf Bückware spezialisierten Schwarzhändler, scheiterte, ebenso der dritte, weil der Antiquar in letzter Sekunde mit den Worten »Ich kann mich gegen Umsatz wehren, junger Mann« den Verkauf verweigerte.
Aber dann:
Die Staatskapelle Dresden brach zu einer Tournee durch die Sowjetunion auf. Niklas, der als Vertrauensarzt mitreiste, brachte aus dem Moskauer ›Meschdunarodnaja kniga‹ (›Internationales Buch‹) ein Exemplar des ›Zauberbergs‹ mit, hinten war der Preis eingestempelt: 1 Rubel, 25 Kopeken. […] Das Buch wurde abgeschrieben und abgetippt, wobei das Abtippen möglichst auf bundesdeutschem Blaupapier zu erfolgen hatte, man konnte damit sieben Kopien anfertigen, nicht nur zwei oder höchstens drei wie auf dem Kohlepapier der Papierwarenhandlung Matthes.
Warum diese Mühe, diese Jagd, woher die Überzeugung, daß diese Lektüre und ihre Verbreitung unter den Freunden etwas Notwendiges sei? Tellkamp schildert Lesetage und Bücherabende, an denen man das, was man geschildert fand, zu übertragen begann auf die eigene Lage. Etwa, wenn Niklas, der Exemplar-Erbeuter, über das Zauberberg-Kapitel »Die große Gereiztheit« zu räsonieren beginnt:
Wie aus einer Krise, keiner wisse so recht, wie, ein bisher friedliches Volk in Zank und Streit verfalle, sich spalte in Gut und Böse, in aufgeklärte Demokraten und Pack, wie Zeitungen tendenziös würden und es noch nicht einmal bemerkten, wie Kultur- und Medienschaffende ihre Leser oder Zuschauer zu erziehen sich anmaßten und es eine Kluft, plötzlich?, gebe zwischen der Politkaste und dem Volk, jedenfalls doch beachtlichen Teilen von beiden.
Was ist das? Das ist die aller historischen Zeit enthobene, also jetzt und immer wieder zeitgemäße Beleuchtung von Gereiztheit und Riß, von Unversöhnlichkeit und vom wohl notwendigen, also nicht verhinderbaren Bruch. Und wenn ein paar Sätze weiter bei Tellkamp dann von Wahrheitskrümmung und Wahrheitssteuerung die Rede ist, von Wahrheitsunterdrückung und Wahrheitsfärbung, dann haben wir den Roman und die in dieser Szene geschilderte Zeit verlassen:
Dann ist es der 13. November 2022, und wir stehen vor der Kreuzkirche am Portal B an, um – wie stets am Volkstrauertag – das Deutsche Requiem von Brahms zu hören. Aber bevor wir die Kirche betreten dürfen, müssen wir uns in der Warteschlange auf ein Plakat zuschieben, das neben dem Einlaß befestigt worden ist und die Wahrheitssteuerung des evangelischen Bistums Dresden-Meißen sozusagen als Thesen-Anschlag präsentiert.
Auf grünem Grund stehen in weißen Buchstaben die Sätze: »2022 ist nicht 1989. Wir leben in keiner Diktatur«, und wie immer fällt auf, wie sehr ein Dementi erst den Vergleich, der keinesfalls gezogen werden darf, ins Bewußtsein rückt.
Die eigentliche Gegengeschichte zur Jagd nach dem Zauberberg findet sich aber im Brief eines Lesers aus München. Er schrieb, daß ihn die Kistchen und Schränkchen zunächst erfreut hätten, in denen der ein oder andere Nachbar aus der Bibliothek der verstorbenen Eltern Bücher zur Mitnahme ausstelle. Bloß habe das Schule gemacht, und dies habe nicht nur das Siechtum der Antiquariate beschleunigt: Es sei außerdem mittlerweile möglich, mit dem VW-Bus durch die Straßen Schwabings zu tuckern und
hernach eine bildungsbürgerliche Bibliothek heimzuschleppen, in der es an nichts mehr fehlt und die zusammenzutragen einmal drei Jahrzehnte gedauert hat.
Er habe an einem einzigen Nachmittag die vollständige Stockholmer Ausgabe der Werke Thomas Manns eingesackt und vom selben Autor die Gesammelten Werke stehenlassen, die in der DDR 1955 erschienen seien.
Wie es die nach Schwabing verschlagen hat? Keine Ahnung. Jedenfalls: Sie stand nach drei Tagen immer noch herum, aber schon eingeregnet. Also Altpapier.
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Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren, Roman: 900 Seiten, 32 € – hier unbedingt bestellen.
brueckenbauer
Interessant, wie man als Systemkritiker in einem System, wo das "Overton"-Fenster schon ziemlich eng war, auf trübe Quellen zurückgreifen musste - wie Th. Mann oder sogar K. Marx persönlich.
Bei uns heute wird das Overton-Fenster ja auch wieder enger. Im Namen zukünftiger Systemkritiker bitte ich daher herzlich darum: Macht uns schon mal eine Anthologie oder wenigstens ein Register von Stellen, deren sich die früheren Systemkritiker in der DDR für ihre Zwecke bedient haben/bedienen konnten. Damit die nächste Generation sich nicht wieder alles neu zusammensuchen muss.