Die vorgebrachte Kulturkritik ist so zutreffend wie hinlänglich bekannt. Da hilft es nur bedingt, daß Alexander Grau die Verfasser des Kommunistischen Manifests und Sigmund Freud samt einer illustren Bande linker Theoretiker von Baudrillard und Bourdieu bis Hartmut Rosa und Andreas Reckwitz sich gleichberechtigt zu seinen Gewährsmännern Gehlen, Schelsky, Sedlmayr, Odo Marquard und Kondylis gesellen läßt. Besonders treffend ist in diesem Zusammenhang die direkte Verbindung von Hans Freyer (»Einer Ideologie gegenüber nützt es nichts, das Radio abzustellen. Diese Wellen sind in der Luft. So oder so treffen sie einen doch«) und Roland Barthes’ »anonymer Ideologie«.
Während die linke Tradition das gegenständliche Problem, die »Entfremdung des Menschen von seinen Produkten, Produktionsmitteln und von sich selbst«, grundsätzlich für lösbar hält durch die Änderung der »gesellschaftlichen Verhältnisse«, hält die konservative Tradition gerade diese Entfremdung für ein Merkmal der menschlichen Freiheit und weder für aufhebbar noch für aufhebungsbedürftig.
Kombiniert man beide Traditionen, gewinnt man ein großes Diorama aller Entfremdungserscheinungen und ‑begründungen, denn in der reinen Diagnose treffen sich Marx mit Gehlen und Bourdieu mit Ernst Jünger. Alexander Grau reichert diese Diagnose um tausenderlei Phänomene aus dem Gegenwartsalltag an, so daß auch der E‑Roller, das Intimtattoo und die Instagramgalerie nicht fehlen dürfen.
In der Beurteilung folgt er den kulturkritischen Denkern, doch eine konsequente Theorie der »Geburt der Freiheit aus der Entfremdung« (Arnold Gehlen) käme zu ganz anderen Schlüssen: All die inkriminierten, ad absurdum geführten und psychoanalytisch dingfest gemachten Erscheinungen des entfremdeten Menschen müßte man mit Gehlen eigentlich gut finden: so geht Freiheit, so geht Bewältigung der Komplexität der Gesellschaft. »Verhaltenslehren der Kälte« (Helmut Lethen) dienen dem Menschen der Postmoderne als Orientierung in der Entfremdung.
Grau laboriert an zwei Theorieproblemen. Das eine Problem habe ich unlängst in einem Artikel auf »Sezession im Netz« Anthropologieheuchelei genannt. Wer anthropologische Feststellungen über den Menschen als solchen trifft und sich dann von diesen Feststellungen selbst ausnimmt, weil er es besser weiß, mit der feindlichen Welt besser klarkommt oder bestimmte psychische Dispositionen nicht teilen will, der ist ein Heuchler.
Das zweite Problem ist das gegenüber Adorno / Horkheimers Dialektik der Aufklärung schon seinerzeit und seitdem in jedem Kritische-Theorie-Seminar vorgebrachte Problem der erkenntnistheoretischen Ausnahme. Wenn »der Mensch« und »wir alle« in der modernen Gesellschaft entfremdet sind und ihm das Bewußtsein für diese Verstrickungen und Verblendungen fehlt, wie ist es dann dem Theoretiker selber möglich, dieses Bewußtsein zu erlangen?
Daß Alexander Grau an diesen Theorieproblemen laboriert, heißt nicht automatisch, daß er ihnen zum Opfer gefallen ist. Sie durchziehen seinen Essay, und streckenweise fragt sich der Leser, warum der Autor so eine tolle Ausnahmegestalt ist, die all die Albernheiten, die narzißtischen Inszenierungen und die Massenmenschendeformationen anscheinend nicht nötig hat.
Das erste Problem löst er für sich durch den Trick der Affirmation der Entfremdung: Es gibt keine Authentizität, keine Selbstfindung und ‑verwirklichung, kein »richtiges Leben im falschen« (Adorno) – insofern bleibt Grau einer von uns, der genau wie alle anderen Leute seinen postmodernen Dekadenzhobbys und systemstabilisierenden privaten Eskapaden anhängt. Das zweite Problem wird von Alexander Grau schließlich keiner Lösung zugeführt, aber der Weg ist angedeutet und vorgebahnt. Der Autor ist trotz aller Zustimmung in der Diagnose kein Marxist (und auch kein Sozialpsychologe Freudscher Provenienz), insofern entfällt die gesellschaftspolitische Lösung des Entfremdungsproblems.
Sein Schlußkapitel ist der Einsamkeit gewidmet, da »als Ort der Autonomiewahrung allein das Individuum« bleibe. Die Bereitschaft zur Einsamkeit ist für Grau die notwendige Voraussetzung, die Eigenlogik spätmoderner Gesellschaften und deren »penetrante Beschwörung des Sozialen, Solidarischen und Gemeinschaftlichen« zu unterlaufen. Er nennt seine Lösung (sehr schön!) eine »Ethik persönlicher Hermetik«, zu der z. B. auch gehört, sich darüber klarzuwerden, daß man nicht den Genderismus überwinden und gleichzeitig Smartphones benutzen kann.
Wenn er auf der vorletzten Seite seines Buches schreibt, es sei ein »Denkfehler, es gäbe ein wahres Ich«, dann trifft das sicherlich insoweit zu, als die vielen Selbstverwirklichungsübungen des modernen Menschen letztlich ziellos in die Irre gehen.
Grau vergibt damit aber einen tragfähigen Gedanken. Eine »Ethik persönlicher Hermetik« müßte – wenn schon, denn schon – auch ernsthaftes Streben nach dem höheren Selbst, der Gottesebenbildlichkeit, umfassen. Ein wahres Ich in diesem Sinne anzustreben ist kein Denkfehler, sondern in meinen Augen die einzige nicht-gesellschaftspolitische und nicht-illusionäre Möglichkeit der gleichzeitigen Akzeptanz und Überwindung der Entfremdung des Menschen.
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Alexander Grau: Entfremdet. Zwischen Realitätsverlust und Identitätsfalle (= Zu Klampen Essay), Springe: Zu Klampen Verlag 2022. 127 S., 14 €
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