Alexander Grau: Entfremdet

Das vorliegende schmale Bändchen teilt zunächst das Los der allermeisten konservativen Gesellschaftsdiagnosen:

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Die vor­ge­brach­te Kul­tur­kri­tik ist so zutref­fend wie hin­läng­lich bekannt. Da hilft es nur bedingt, daß Alex­an­der Grau die Ver­fas­ser des Kom­mu­nis­ti­schen Mani­fests und Sig­mund Freud samt einer illus­tren Ban­de lin­ker Theo­re­ti­ker von Bau­dril­lard und ­Bour­dieu bis Hart­mut Rosa und Andre­as Reck­witz sich gleich­be­rech­tigt zu sei­nen Gewährs­män­nern ­Geh­len, Schelsky, Sedl­mayr, Odo Mar­quard und ­Kon­dy­lis gesel­len läßt. Beson­ders tref­fend ist in die­sem Zusam­men­hang die direk­te Ver­bin­dung von Hans Frey­er (»Einer Ideo­lo­gie gegen­über nützt es nichts, das Radio abzu­stel­len. Die­se Wel­len sind in der Luft. So oder so tref­fen sie einen doch«) und ­Roland Bar­thes’ »anony­mer Ideologie«.

Wäh­rend die lin­ke Tra­di­ti­on das gegen­ständ­li­che Pro­blem, die »Ent­frem­dung des Men­schen von sei­nen Pro­duk­ten, Pro­duk­ti­ons­mit­teln und von sich selbst«, grund­sätz­lich für lös­bar hält durch die Ände­rung der »gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se«, hält die kon­ser­va­ti­ve Tra­di­ti­on gera­de die­se Ent­frem­dung für ein Merk­mal der mensch­li­chen Frei­heit und weder für auf­heb­bar noch für aufhebungsbedürftig.

Kom­bi­niert man bei­de Tra­di­tio­nen, gewinnt man ein gro­ßes Diora­ma aller Ent­frem­dungs­er­schei­nun­gen und ‑begrün­dun­gen, denn in der rei­nen Dia­gno­se tref­fen sich Marx mit Geh­len und Bour­dieu mit Ernst Jün­ger. Alex­an­der Grau rei­chert die­se Dia­gno­se um tau­sen­der­lei Phä­no­me­ne aus dem Gegen­warts­all­tag an, so daß auch der E‑Roller, das Intim­tat­too und die Insta­gram­ga­le­rie nicht feh­len dürfen.

In der Beur­tei­lung folgt er den kul­tur­kri­ti­schen Den­kern, doch eine kon­se­quen­te Theo­rie der »Geburt der Frei­heit aus der Ent­frem­dung« (Arnold Geh­len) käme zu ganz ande­ren Schlüs­sen: All die inkri­mi­nier­ten, ad absur­dum geführ­ten und psy­cho­ana­ly­tisch ding­fest gemach­ten Erschei­nun­gen des ent­frem­de­ten Men­schen müß­te man mit Geh­len eigent­lich gut fin­den: so geht Frei­heit, so geht Bewäl­ti­gung der Kom­ple­xi­tät der Gesell­schaft. »Ver­hal­tens­leh­ren der Käl­te« (Hel­mut Lethen) die­nen dem Men­schen der Post­mo­der­ne als Ori­en­tie­rung in der Entfremdung.

Grau labo­riert an zwei Theo­rie­pro­ble­men. Das eine Pro­blem habe ich unlängst in einem Arti­kel auf »Sezes­si­on im Netz« Anthro­po­lo­gie­heu­che­lei genannt. Wer anthro­po­lo­gi­sche Fest­stel­lun­gen über den Men­schen als sol­chen trifft und sich dann von die­sen Fest­stel­lun­gen selbst aus­nimmt, weil er es bes­ser weiß, mit der feind­li­chen Welt bes­ser klar­kommt oder bestimm­te psy­chi­sche Dis­po­si­tio­nen nicht tei­len will, der ist ein Heuchler.

Das zwei­te Pro­blem ist das gegen­über Ador­no / Hork­hei­mers Dia­lek­tik der Auf­klä­rung schon sei­ner­zeit und seit­dem in jedem Kri­ti­sche-Theo­rie-Semi­nar vor­ge­brach­te Pro­blem der erkennt­nis­theo­re­ti­schen Aus­nah­me. Wenn »der Mensch« und »wir alle« in der moder­nen Gesell­schaft ent­frem­det sind und ihm das Bewußt­sein für die­se Ver­stri­ckun­gen und Ver­blen­dun­gen fehlt, wie ist es dann dem Theo­re­ti­ker sel­ber mög­lich, die­ses Bewußt­sein zu erlangen?

Daß Alex­an­der Grau an die­sen Theo­rie­pro­ble­men labo­riert, heißt nicht auto­ma­tisch, daß er ihnen zum Opfer gefal­len ist. Sie durch­zie­hen sei­nen Essay, und stre­cken­wei­se fragt sich der Leser, war­um der Autor so eine tol­le Aus­nah­me­ge­stalt ist, die all die Albern­hei­ten, die nar­ziß­ti­schen Insze­nie­run­gen und die Massen­menschendeformationen anschei­nend nicht nötig hat.

Das ers­te Pro­blem löst er für sich durch den Trick der Affir­ma­ti­on der Ent­frem­dung: Es gibt kei­ne Authen­ti­zi­tät, kei­ne Selbst­fin­dung und ‑ver­wirk­li­chung, kein »rich­ti­ges Leben im fal­schen« (Ador­no) – inso­fern bleibt Grau einer von uns, der genau wie alle ande­ren Leu­te sei­nen post­mo­der­nen Deka­denz­hob­bys und sys­tem­sta­bi­li­sie­ren­den pri­va­ten Eska­pa­den anhängt. Das zwei­te Pro­blem wird von Alex­an­der Grau schließ­lich kei­ner Lösung zuge­führt, aber der Weg ist ange­deu­tet und vor­ge­bahnt. Der Autor ist trotz aller Zustim­mung in der Dia­gno­se kein Mar­xist (und auch kein Sozi­al­psy­cho­lo­ge Freud­scher Pro­ve­ni­enz), inso­fern ent­fällt die gesell­schafts­po­li­ti­sche Lösung des Entfremdungsproblems.

Sein Schluß­ka­pi­tel ist der Ein­sam­keit gewid­met, da »als Ort der Auto­no­mie­wah­rung allein das Indi­vi­du­um« blei­be. Die Bereit­schaft zur Ein­sam­keit ist für Grau die not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung, die Eigen­lo­gik spät­mo­der­ner Gesell­schaf­ten und deren »pene­tran­te Beschwö­rung des Sozia­len, Soli­da­ri­schen und Gemein­schaft­li­chen« zu unter­lau­fen. Er nennt sei­ne Lösung (sehr schön!) eine »Ethik per­sön­li­cher Her­me­tik«, zu der z. B. auch gehört, sich dar­über klar­zu­wer­den, daß man nicht den Gen­de­ris­mus über­win­den und gleich­zei­tig Smart­phones benut­zen kann.

Wenn er auf der vor­letz­ten Sei­te sei­nes Buches schreibt, es sei ein »Denk­feh­ler, es gäbe ein wah­res Ich«, dann trifft das sicher­lich inso­weit zu, als die vie­len Selbst­ver­wirk­li­chungs­übun­gen des moder­nen Men­schen letzt­lich ziel­los in die Irre gehen.

Grau ver­gibt damit aber einen trag­fä­hi­gen Gedan­ken. Eine »Ethik per­sön­li­cher Her­me­tik« müß­te – wenn schon, denn schon – auch ernst­haf­tes Stre­ben nach dem höhe­ren Selbst, der Got­tes­eben­bild­lich­keit, umfas­sen. Ein wah­res Ich in die­sem Sin­ne anzu­stre­ben ist kein Denk­feh­ler, son­dern in mei­nen Augen die ein­zi­ge nicht-gesell­schafts­po­li­ti­sche und nicht-illu­sio­nä­re Mög­lich­keit der gleich­zei­ti­gen Akzep­tanz und Über­win­dung der Ent­frem­dung des Menschen.

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Alex­an­der Grau: Ent­frem­det. Zwi­schen Rea­li­täts­ver­lust und Iden­ti­täts­fal­le (= Zu Klam­pen Essay), Sprin­ge: Zu Klam­pen Ver­lag 2022. 127 S., 14 €

 

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Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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