das Denk-Tagebuch (Sloterdijk), das Leben-Tagebuch, das Alltag und Reflexion vereint (Gombrowicz, Márai, Jünger), und das Chronisten-Tagebuch, die Memoiren, die vornehmlich Beobachtungen vor konkreten historischen Hintergründen sammeln und kommentieren (Klemperer, Kertész).
Heimo Schwilks erster voluminöser Tagebuchband gehört – auch wenn Jünger darin die zentrale Gestalt ist und die Notizen zudem einrahmt – eher zur dritten Kategorie. Wie jedes veröffentlichte Tagebuch muß es sich rechtfertigen: Der Schreiber sollte ein gewisses Gewicht mitbringen, von Bedeutung sein und die von ihm notierten Ereignisse und Gedanken sollten natürlich erzählens- und erhaltenswert sein.
Schwilk hatte sich durch die Veröffentlichung und Herausgabe mehrerer bahnbrechender Arbeiten einen Namen gemacht. Erinnert sei an seinen gewichtigen Bildband zu Ernst Jüngers Leben und Werk (1988), zwei Jahrzehnte später seine Jünger-Biographie, die dem Granden unter allen Lebensbildern auch persönlich wohl am nächsten kommt. Der von Schwilk herausgegebene Sammelband Die selbstbewußte Nation (1994) machte Furore, nicht nur wegen Botho Strauß’ »Bocksgesang« – darin wurden Teile der »Neuen Rechten« erstmals öffentlich versammelt –, und auch der Band Für eine Berliner Republik (1997) beunruhigte das Establishment und erschütterte die Feuilletons. Zuletzt erschien eine großartige und sehr einfühlende Luther-Biographie (2017).
Die Entstehung und die Hintergründe seiner Werke machen einen wesentlichen Teil der Erinnerungen aus. Man erfährt Einblicke in sonst verschlossene Welten, sei es das Privatleben Jüngers oder seien es die Kabalen und Intrigen, die Bündnisse und die Gegnerschaften unzähliger Protagonisten. Das geht mitunter für den Leser ins Voyeuristische und, wenn Schwilk sogar seine Familienprobleme offenlegt, auch ins Intime. Nicht alles will vielleicht jeder Leser wissen.
Andererseits wird damit eine Atmosphäre geschaffen, eine Vertraulichkeit mit dem Autor und damit auch der Eindruck von Offenheit und Ehrlichkeit. Denn natürlich manipuliert ein Tagebuch immer den Leser. Hier etwa durchzieht ein leises Weh die Zeilen, das jeder Betrachter des unaufhaltsamen Verschwindens des Erhaltenswerten aus eigener Seele kennt.
Noch mal: Auch wenn die Nähe zu Jünger, den Schwilk die letzten Lebensjahre nahe begleiten durfte, der fast eine Vaterfigur wurde, schon im Titel anklingt, ist Schwilks Zugriff doch ein ganz anderer, und das scheint am Naturell zu liegen. Er ist weicher, einfühlender, und nicht so kalt und konzentriert, so chirurgisch und sammelnd wie der Jüngers. Schwilk war Fallschirmjäger mit Einzelkämpferausbildung, Marathonläufer und dennoch ist er auch bekennender Epikureer, der jeden guten Wein und jedes üppige Menü akribisch notiert. In dieser Spannung ist wohl auch die permanente Suche nach der eigenen Identität, der passenden Stelle im Leben, zu erklären.
So kommt es, daß Heimo Schwilk viele verschiedene Rollen im Leben eingenommen hat: Biograph, Kolumnist, Journalist, Kriegsberichterstatter, Herausgeber, Historiker, selbst Philosoph. Ein Leben in permanenter Bewegung, physisch und geistig. Dazu das nähere Kennenlernen unzähliger bekannter Menschen, vor allem aus dem konservativen Spektrum: Mohler, Safranski, Zitelmann, Walser, Strauß, Kempowski, Schacht, um nur einige zu nennen, von denen man manche Interna erfährt, großartige Porträts etwa des uralten Gadamer, des kauzigen Erich Loest oder von Günter de Bruyn, Reiner Kunze, Christa Wolf … Und zwischendrin immer wieder Jünger, Jünger, Jünger – für Jünger-Leser eine unentbehrliche Quelle, auch wenn sich vieles schon in der Biographie findet. Das Namensregister ist aufgebläht wie selten, der Chronist muß Teil enormer Netzwerke gewesen sein.
Besonders beeindruckt Schwilk als sensibler Beobachter der DDR und ihrer Literatur. Auch hier profitiert er von vielen Bekanntschaften und einem natürlichen hermeneutischen Zugang. Er schreibt darüber mit einer Einfühlsamkeit, als wäre er nicht in Schwaben, sondern in Sachsen aufgewachsen, nahezu kongeniales Verstehen – wenn nur nicht dieser eine verletzende und despektierliche Satz geschrieben worden wäre: »hoffentlich spurlos« – die Rede war vom »sang- und klanglosen Untergang der DDR«.
Man kann sich Leser vorstellen, die Schwilks Aufzeichnungen als zu soft oder zu selbstverliebt empfinden, und sicher werden sich viele Erwähnte angegriffen fühlen, und manch anderer wird vielleicht mit Sorge auf den zweiten Teil warten, der vermutlich die letzten beiden Jahrzehnte umfassen wird. Der Außenstehende jedoch kann es als übersattes, vielfältiges, vielfarbiges Panorama lesen, hochgradig informativ, anregend, aufregend. Man schlägt dieses Kompendium zu, als würde man sich nach langem Besuch verabschieden, hoffend, daß es bald ein Wiedersehen geben wird.
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Heimo Schwilk: Mein abenteuerliches Herz (I). Aus den Tagebüchern 1983 – 1999, Lüdinghausen / Neuruppin: Landt / Manuscriptum 2022. 633 S., 42 €
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