Alain de Benoist ist eine intellektuelle Ausnahmefigur. Die größte Privatbibliothek Frankreichs zu besitzen ist für ihn kein Selbstzweck – er ist nicht nur Sammler, sondern extrahiert aus den für ihn wichtigen Werken verschiedenster Sprachen jene Anstöße, die er für seine rege Geistesarbeit benötigt.
Die Folge der eigenen Schreibarbeit ist immens: Einhundert Bücher im französischen Original und einige Dutzend übersetzte Titel ins Italienische, Englische, Russische und Deutsche legen davon Zeugnis ab. Hinter dem 1943 geborenen Grandseigneur der »Nouvelle Droite« liegen dabei über sechs Jahrzehnte publizistischer und editorischer Arbeit. Daß er indes, wie Wissenschaftler und Journalisten oft behaupten, eine Leitfigur mit Richtlinienkompetenz auch für die deutschsprachige »Neue Rechte« sei, kann nicht ernstlich gefolgert werden.
Gewiß: Durch Armin Mohler bereits in den 1970er Jahren eingeführt in Deutschlands alternative Publizistik um das konservative Sammlungsblatt Criticón, den Vorläufer der Sezession, hat Benoist seit Jahrzehnten auch hierzulande seine Leser. Auf bestimmte Rezeptionshochzeiten in den 1980er Jahren folgten die ruhigeren 1990er und 2000er Jahre mit ihren Höhen und Tiefen. Jene gestalterische Schlüsselrolle, die man ihm häufig zuschreibt, nimmt er – über den Zeitraum von fünfzig Jahren betrachtet – nicht ein.
Die Auflagen lagen bei den deutschen Benoist-Verlagen Edition JF oder Grabert / Hohenrain im niedrigen vierstelligen Bereich, und seine Wirkung als Ideengeber beschränkte sich auf bestimmte Strömungen innerhalb des heterogenen rechten Feldes. Das ändert sich seit etwa fünf Jahren langsam, aber kontinuierlich, da sich jüngere Akteure des nonkonformen Feldes der Werkpflege Benoists verschrieben haben.
2017 legte der erst ein Jahr zuvor gegründete Jungeuropa Verlag eine Neuauflage von Benoists Kulturrevolution von rechts vor. Diese Aufsatzsammlung erschien erstmals 1985; sie war viele Jahre lang ausschließlich antiquarisch erhältlich. Die Jungeuropa-Edition fiel mit einem Zeitpunkt zusammen, an dem das Interesse an politischer Theorie »von rechts« unter jüngeren Aktivisten zunahm. Ihnen kam entgegen, daß Benoists an Antonio Gramsci orientierte Schlüsselthese – Hegemonie sei zu erlangen, wenn eine Bewegung ihre Ideen im vorpolitischen (metapolitischen) Raum als führend zu setzen vermöge, was langfristige Bemühungen erfordere – zweierlei beinhaltet: zum einen die Hervorhebung des geistigen Kampfes, zum anderen der Hinweis auf die Langwierigkeit des eigenen Strebens, den »Stellungskrieg« (Gramsci) anstelle kurzfristiger Durchbrüche, wie sie ob der Zäsur von »2015« und des Aufbruchs neuer patriotischer Projekte vorübergehend erwartet worden waren.
Benoists Ansatz beruhigte jene, die nach den anfänglichen Resonanzraumerweiterungen rund um die Migrationskrise nun teilweise ratlos angesichts der eilig verstärkten Brandmauern gegen rechts geworden waren. Deutlicher wurde ihnen, daß es nicht um eine Kette von Sprints gehen würde, sondern um einen Marathon ohne vorher festgelegten Streckenumfang. Der lange und vielschichtige Weg zur kulturellen und geistigen Hegemonie in einer Gesellschaft schälte sich (aufs neue) als jener Schlüssel heraus, um überhaupt erst wirkmächtige politische Hegemonie anstreben zu können.
Eine solche Theorie, naturgemäß beheimatet im außerparlamentarischen Feld, richtet sich speziell gegen jene – seit dem Aufkommen der AfD – wiederbelebten struktur- und parteikonservativen Ansätze, nach deren Vorstellung primär oder sogar alleine parlamentarische Wahlerfolge (und Koalitionsbildungen) zu einer Tendenzwende führen sollten. Benoist denunziert dies zeitlos als fatalen und unpolitischen Trugschluß, der blind mache für integrale, also Meta- und Real- bzw. Parteienpolitik verbindende Politikansätze. Ebendiese verbindende Denkarbeit vollzieht Benoist in zwei Werken, die fast parallel 2021 publiziert wurden: Gegen den Liberalismus. Die Gesellschaft ist kein Markt (412 S., 30 €) erschien anläßlich der Frankfurter Buchmesse im Dresdner Jungeuropa Verlag und mußte bereits vier Wochen später nachgedruckt werden. Kurze Zeit später folgte Der populistische Moment. Die Rechts-Links-Spaltung ist überholt (406 S., 24,90 €) in der Berliner Edition JF.
Vor allem dieser Populismusband, 2017 in Paris erschienen und nun für die (merkwürdigerweise namenlose) deutsche Übersetzung behutsam überarbeitet, schlägt Brücken zwischen politischer Theorie und politischer Praxis. Die Ausgangsbasis für Benoists zwölf Essays, die jeweils für sich gelesen werden können, ist dabei die Position des Antiglobalismus. In einer »Welt ohne Außenraum«, die global nach den Kriterien des Marktes ausgerichtet ist, entsteht ein politisches Vakuum, in das Populisten verschiedener Provenienz hineinstoßen können.
Ihre Anhänger sind, vor allem in Westeuropa, nicht unbedingt Gewinner der wirtschaftlichen und hernach kulturellen Globalisierung, oft sogar Verlierer. Sie ahnen, »daß das politische System von vornherein festgelegt sei, damit dort nur diejenigen siegen können, von denen man weiß, daß sie an diesem System nichts ändern werden«. Auf die Umwertung aller Werte durch den Globalismus reagieren sie mit einem tiefen identitären oder sozialen Unbehagen, in der Regel sogar mit beidem, weshalb identitäre Motive nicht von der neuen sozialen Frage zu trennen seien.
Beide größeren Fragebereiche, das heißt hier den identitären (kulturellen, religiösen, nationalen usw.) und den sozialen (wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen usw.), analysiert Benoist anhand französischer und europäischer Beispiele. In der Praxis untersucht er u. a. die links und rechts aufhebende Gelbwestenbewegung und den Front bzw. Rassemblement National; als gemeinsames Merkmal verschiedenartiger populistischer Reaktionen auf die Weltvereinheitlichung durch den Linksliberalismus erkennt er die Frontstellung des einfachen Volkes gegen die Privilegierten der neuen Ordnung: »Der sich auftuende Hauptgraben trennt diejenigen, ob von rechts oder links, die von der Globalisierung profitieren, und diejenigen, die ihr zum Opfer fallen – diejenigen, die aus Völkersicht denken, und diejenigen, die nur Einzelindividuen und die Menschheit kennen wollen.«
Jene daran anschließenden Überlegungen von Benoist, die sich mit der Frage nach »dem Volk« beschäftigen, sind wie eine Begleitmusik zu aktuellen Debatten rund um Coronaproteste und die mögliche Genese neuer Blöcke – über alte Trennlinien hinweg – zu lesen. Volk kann eben das politische Volk (demos), das durch Geschichte und Kultur definierte Volk (ethnos) und das Volk der einfachen Menschen (plebs) sein; Benoist führt wissenschaftlich akribisch durch die Ideengeschichte und ihre Auswirkungen auf die Praxis.
Aber so schreibt er nicht immer: Auch Polemik wird in Der populistische Moment Raum geboten. Nicht nur wenn er über die »Dummheit von Rechten« sinniert, »die es für möglich halten, die ›traditionellen Werte‹« zu bewahren, während sie jene kapitalistische Ordnung ausdrücklich von der Kritik ausnehmen, die diese Werte »unaufhörlich zerstört«, drängt sich die Frage auf, was der Verleger dieses Buches vom Berliner Hohenzollerndamm bei seiner Lektüre denken mag. Aber nur kurz. Denn dann ist man bei einem weiteren Aperçu Benoists, das er sich von Alasdair MacIntyre geborgt hat: Es gebe heute keine wirklichen Debatten zwischen weltanschaulichen Alternativmodellen mehr, sondern nur noch Binnendiskurse zwischen konservativen Liberalen, Liberalen der Mitte und Linksliberalen verschiedener Art.
Dadurch, so der US-amerikanische Kommunitarist, bleibe »nur wenig Platz übrig für die Kritik am System selbst, das heißt für die Infragestellung des Liberalismus«. Diesen stellt Benoist in Gegen den Liberalismus dafür auf 400 Seiten mehr als nur in Frage; er verwirft ihn in toto, aber nicht, ohne vorher auch Argumente seiner Vordenker und Verteidiger anzuhören. Nun seien aber am Ende nicht abstrakte intellektuelle Motive einzelner Köpfe zu bilanzieren, sondern vor allem die Praxisresultate liberaler Ideologie. Ihre herrschende »Logik des Markts« habe die »Herrschaft des Wegwerfbaren und des programmierten Kurzlebigen« mit sich gebracht, was keine Entartung des Liberalismus sei, sondern seine folgerichtige Konsequenz: Der Liberalismus und sein Menschentyp, der Homo oeconomicus, haben die Grundsteine für Konsumismus und Überwindung des Tradierten gelegt und den heute wieder virulenten Freiheitsbegriff pervertiert.
»Die Freiheit der Liberalen ist eigentlich vor allem die Freiheit zu besitzen«, schlußfolgert Benoist; sie »gründet nicht im Sein, sondern im Haben«, weshalb das zeitgenössische Credo »Immer mehr!« (besitzen, konsumieren usw.) wachstumsorientiert ist und es auch sein muß. Die »unentwegte Flucht nach vorn« der großen Kapitaleigner führe dazu, daß der Kapitalismus gar nicht anhalten könne, wenn er nicht untergehen möchte, und das will er nicht.
Die Wachstumskritik, die hier bereits auf vielen Seiten anklingt, ist ein weiteres Feld, das künftig auch in der deutschsprachigen Publizistik bearbeitet wird: Im Oikos Verlag (Die Kehre) erscheint noch 2022 eine Benoist-Anthologie zu Fragen der Ökologie, der Klimadebatte und des Postwachstums. Die Renaissance Alain de Benoists – jedenfalls im ideenpolitischen Beritt – scheint vorerst kein Ende zu nehmen. Da die rechts ausgerufene Politik der kleinen Schritte nur funktioniert, wenn sie einen Transformationswillen in sich trägt, der weit über eine realpolitische Nahzielorientierung hinausweist, und da es hierfür eines politischen Bewußtseins bedarf, das seinen Namen verdient, ist dies ausdrücklich zu begrüßen.