Renaissance eines Meisterdenkers

PDF der Druckfassung aus Sezession 107/ April 2022

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Alain de Benoist ist eine intel­lek­tu­el­le Aus­nah­me­fi­gur. Die größ­te Pri­vat­bi­blio­thek Frank­reichs zu besit­zen ist für ihn kein Selbst­zweck – er ist nicht nur Samm­ler, son­dern extra­hiert aus den für ihn wich­ti­gen Wer­ken ver­schie­dens­ter Spra­chen jene Anstö­ße, die er für sei­ne rege Geis­tes­ar­beit benötigt.

Die Fol­ge der eige­nen Schreib­ar­beit ist immens: Ein­hun­dert Bücher im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal und eini­ge Dut­zend über­setz­te Titel ins Ita­lie­ni­sche, Eng­li­sche, Rus­si­sche und Deut­sche legen davon Zeug­nis ab. Hin­ter dem 1943 gebo­re­nen Grand­sei­gneur der »Nou­vel­le Droi­te« lie­gen dabei über sechs Jahr­zehn­te publi­zis­ti­scher und edi­to­ri­scher Arbeit. Daß er indes, wie Wis­sen­schaft­ler und Jour­na­lis­ten oft behaup­ten, eine Leit­fi­gur mit Richt­li­ni­en­kom­pe­tenz auch für die deutsch­spra­chi­ge »Neue Rech­te« sei, kann nicht ernst­lich gefol­gert werden.

Gewiß: Durch Armin Moh­ler bereits in den 1970er Jah­ren ein­ge­führt in Deutsch­lands alter­na­ti­ve Publi­zis­tik um das kon­ser­va­ti­ve Samm­lungs­blatt Cri­ticón, den Vor­läu­fer der Sezes­si­on, hat Benoist seit Jahr­zehn­ten auch hier­zu­lan­de sei­ne Leser. Auf bestimm­te Rezep­ti­ons­hoch­zei­ten in den 1980er Jah­ren folg­ten die ruhi­ge­ren 1990er und 2000er Jah­re mit ihren Höhen und Tie­fen. Jene gestal­te­ri­sche Schlüs­sel­rol­le, die man ihm häu­fig zuschreibt, nimmt er – über den Zeit­raum von fünf­zig Jah­ren betrach­tet – nicht ein.

Die Auf­la­gen lagen bei den deut­schen Benoist-Ver­la­gen Edi­ti­on JF oder Gra­bert / Hohen­rain im nied­ri­gen vier­stel­li­gen Bereich, und sei­ne Wir­kung als Ideen­ge­ber beschränk­te sich auf bestimm­te Strö­mun­gen inner­halb des hete­ro­ge­nen rech­ten Fel­des. Das ändert sich seit etwa fünf Jah­ren lang­sam, aber kontinuier­lich, da sich jün­ge­re Akteu­re des non­kon­for­men Fel­des der Werk­pfle­ge Benoists ver­schrie­ben haben.

2017 leg­te der erst ein Jahr zuvor gegrün­de­te Jung­europa Ver­lag eine Neu­auf­la­ge von Benoists Kul­tur­re­vo­lu­ti­on von rechts vor. Die­se Auf­satz­samm­lung erschien erst­mals 1985; sie war vie­le Jah­re lang aus­schließ­lich anti­quarisch erhält­lich. Die Jun­g­eu­ro­pa-Edi­ti­on fiel mit einem Zeit­punkt zusam­men, an dem das Inter­es­se an poli­ti­scher Theo­rie »von rechts« unter jün­ge­ren Akti­vis­ten zunahm. Ihnen kam ent­ge­gen, daß Benoists an Anto­nio Gramsci ori­en­tier­te Schlüs­sel­the­se – Hege­mo­nie sei zu erlan­gen, wenn eine Bewe­gung ihre Ideen im vor­po­li­ti­schen (meta­po­li­ti­schen) Raum als füh­rend zu set­zen ver­mö­ge, was lang­fris­ti­ge Bemü­hun­gen erfor­de­re – zwei­er­lei beinhal­tet: zum einen die Her­vor­he­bung des geis­ti­gen Kamp­fes, zum ande­ren der Hin­weis auf die Lang­wie­rig­keit des eige­nen Stre­bens, den »Stel­lungs­krieg« (Gramsci) anstel­le kurz­fris­ti­ger Durch­brü­che, wie sie ob der Zäsur von »2015« und des Auf­bruchs neu­er patrio­ti­scher Pro­jek­te vor­über­ge­hend erwar­tet wor­den waren.

Benoists Ansatz beru­hig­te jene, die nach den anfäng­li­chen Reso­nanz­raum­er­wei­te­run­gen rund um die Migra­ti­ons­kri­se nun teil­wei­se rat­los ange­sichts der eilig ver­stärk­ten ­Brand­mau­ern gegen rechts gewor­den waren. Deut­li­cher wur­de ihnen, daß es nicht um eine Ket­te von Sprints gehen wür­de, son­dern um einen Mara­thon ohne vor­her fest­ge­leg­ten Stre­cken­um­fang. Der lan­ge und viel­schich­ti­ge Weg zur kul­tu­rel­len und geis­ti­gen Hege­mo­nie in einer Gesell­schaft schäl­te sich (aufs neue) als jener Schlüs­sel her­aus, um über­haupt erst wirk­mäch­ti­ge poli­ti­sche Hege­mo­nie anstre­ben zu können.

Eine sol­che Theo­rie, natur­ge­mäß behei­ma­tet im außer­par­la­men­ta­ri­schen Feld, rich­tet sich spe­zi­ell gegen jene – seit dem Auf­kom­men der AfD – wie­der­be­leb­ten struk­tur- und par­tei­kon­ser­va­ti­ven Ansät­ze, nach deren Vor­stel­lung pri­mär oder sogar allei­ne par­la­men­ta­ri­sche Wahl­er­fol­ge (und Koali­ti­ons­bil­dun­gen) zu einer Ten­denz­wen­de füh­ren soll­ten. Benoist denun­ziert dies zeit­los als fata­len und unpo­li­ti­schen Trug­schluß, der blind mache für inte­gra­le, also Meta- und Real- bzw. Par­tei­en­po­li­tik ver­bin­den­de Poli­tik­an­sät­ze. Eben­die­se ver­bin­den­de Denk­ar­beit voll­zieht Benoist in zwei Wer­ken, die fast par­al­lel 2021 publi­ziert wur­den: Gegen den Libe­ra­lis­mus. Die Gesell­schaft ist kein Markt (412 S., 30 €) erschien anläß­lich der Frank­fur­ter Buch­mes­se im Dresd­ner Jun­g­eu­ro­pa Ver­lag und muß­te bereits vier Wochen spä­ter nach­ge­druckt wer­den. Kur­ze Zeit spä­ter folg­te Der popu­lis­ti­sche Moment. Die Rechts-Links-Spal­tung ist über­holt (406 S., 24,90 €) in der Ber­li­ner Edi­ti­on JF.

Vor allem die­ser Popu­lis­mus­band, 2017 in Paris erschie­nen und nun für die (merk­wür­di­ger­wei­se namen­lo­se) deut­sche Über­set­zung behut­sam über­ar­bei­tet, schlägt Brü­cken zwi­schen poli­ti­scher ­Theo­rie und poli­ti­scher Pra­xis. Die Aus­gangs­ba­sis für Benoists zwölf Essays, die jeweils für sich gele­sen wer­den kön­nen, ist dabei die Posi­ti­on des Anti­glo­ba­lis­mus. In einer »Welt ohne Außen­raum«, die glo­bal nach den Kri­te­ri­en des Mark­tes aus­ge­rich­tet ist, ent­steht ein poli­ti­sches Vaku­um, in das Popu­lis­ten ver­schie­de­ner Pro­ve­ni­enz hin­ein­sto­ßen können.

Ihre Anhän­ger sind, vor allem in West­eu­ro­pa, nicht unbe­dingt Gewin­ner der wirt­schaft­li­chen und her­nach kul­tu­rel­len Glo­ba­li­sie­rung, oft sogar Ver­lie­rer. Sie ahnen, »daß das poli­ti­sche Sys­tem von vorn­her­ein fest­ge­legt sei, damit dort nur die­je­ni­gen sie­gen kön­nen, von denen man weiß, daß sie an die­sem Sys­tem nichts ändern wer­den«. Auf die Umwer­tung aller Wer­te durch den Glo­ba­lis­mus reagie­ren sie mit einem tie­fen iden­ti­tä­ren oder sozia­len Unbe­ha­gen, in der Regel sogar mit bei­dem, wes­halb iden­ti­tä­re Moti­ve nicht von der neu­en sozia­len Fra­ge zu tren­nen seien.

Bei­de grö­ße­ren Fra­ge­be­rei­che, das heißt hier den iden­ti­tä­ren (kul­tu­rel­len, reli­giö­sen, natio­na­len usw.) und den sozia­len (wirt­schaft­li­chen, poli­ti­schen, gesell­schaft­li­chen usw.), ana­ly­siert Benoist anhand fran­zö­si­scher und euro­päi­scher Bei­spie­le. In der Pra­xis unter­sucht er u. a. die links und rechts auf­he­ben­de Gelb­wes­ten­be­we­gung und den Front bzw. Ras­sem­blem­ent Natio­nal; als gemein­sa­mes Merk­mal ver­schie­den­ar­ti­ger popu­lis­ti­scher Reak­tio­nen auf die Welt­ver­ein­heit­li­chung durch den Links­li­be­ra­lis­mus erkennt er die Front­stel­lung des ein­fa­chen Vol­kes gegen die Pri­vi­le­gier­ten der neu­en Ord­nung: »Der sich auf­tu­en­de Haupt­gra­ben trennt die­je­ni­gen, ob von rechts oder links, die von der Glo­ba­li­sie­rung pro­fi­tie­ren, und die­je­ni­gen, die ihr zum Opfer fal­len – die­je­ni­gen, die aus Völ­ker­sicht den­ken, und die­je­ni­gen, die nur Ein­zel­in­di­vi­du­en und die Mensch­heit ken­nen wollen.«

Jene dar­an anschlie­ßen­den Über­le­gun­gen von Benoist, die sich mit der Fra­ge nach »dem Volk« beschäf­ti­gen, sind wie eine Begleit­mu­sik zu aktu­el­len Debat­ten rund um Coro­na­pro­tes­te und die mög­li­che Gene­se neu­er Blö­cke – über alte Trenn­li­ni­en hin­weg – zu lesen. Volk kann eben das poli­ti­sche Volk (demos), das durch Geschich­te und Kul­tur defi­nier­te Volk (eth­nos) und das Volk der ein­fa­chen Men­schen (plebs) sein; Benoist führt wis­sen­schaft­lich akri­bisch durch die Ideen­ge­schich­te und ihre Aus­wir­kun­gen auf die Praxis.

Aber so schreibt er nicht immer: Auch Pole­mik wird in Der popu­lis­ti­sche Moment Raum gebo­ten. Nicht nur wenn er über die »Dumm­heit von Rech­ten« sin­niert, »die es für mög­lich hal­ten, die ›tra­di­tio­nel­len Wer­te‹« zu bewah­ren, wäh­rend sie jene kapi­ta­lis­ti­sche Ord­nung aus­drück­lich von der Kri­tik aus­neh­men, die die­se Wer­te »unauf­hör­lich zer­stört«, drängt sich die Fra­ge auf, was der Ver­le­ger die­ses Buches vom Ber­li­ner Hohen­zol­lern­damm bei sei­ner Lek­tü­re den­ken mag. Aber nur kurz. Denn dann ist man bei einem wei­te­ren Aper­çu Benoists, das er sich von Alasd­air Mac­In­ty­re geborgt hat: Es gebe heu­te kei­ne wirk­li­chen Debat­ten zwi­schen welt­an­schau­li­chen Alter­nativmodellen mehr, son­dern nur noch Bin­nen­dis­kur­se zwi­schen kon­ser­va­ti­ven Libe­ra­len, Libe­ra­len der Mit­te und Links­liberalen ver­schie­de­ner Art.

Dadurch, so der US-ame­ri­ka­ni­sche Kom­mu­ni­ta­rist, blei­be »nur wenig Platz übrig für die Kri­tik am Sys­tem selbst, das heißt für die Infra­ge­stel­lung des Libe­ra­lis­mus«. Die­sen stellt Benoist in Gegen den Libe­ra­lis­mus dafür auf 400 Sei­ten mehr als nur in Fra­ge; er ver­wirft ihn in toto, aber nicht, ohne vor­her auch Argu­men­te sei­ner Vor­den­ker und Ver­tei­di­ger anzu­hö­ren. Nun sei­en aber am Ende nicht abs­trak­te intel­lek­tu­el­le Moti­ve ein­zel­ner Köp­fe zu bilan­zie­ren, son­dern vor allem die Pra­xis­re­sul­ta­te libe­ra­ler Ideo­lo­gie. Ihre herr­schen­de »Logik des Markts« habe die »Herr­schaft des Weg­werf­ba­ren und des pro­gram­mier­ten Kurz­lebigen« mit sich gebracht, was kei­ne Ent­ar­tung des Libe­ra­lis­mus sei, son­dern sei­ne fol­ge­rich­ti­ge Kon­se­quenz: Der Libe­ra­lis­mus und sein Men­schen­typ, der Homo oeco­no­mic­us, haben die Grund­stei­ne für Kon­su­mis­mus und Über­win­dung des Tra­dier­ten gelegt und den heu­te wie­der viru­len­ten Frei­heits­be­griff pervertiert.

»Die Frei­heit der Libe­ra­len ist eigent­lich vor allem die Frei­heit zu besit­zen«, schluß­fol­gert Benoist; sie »grün­det nicht im Sein, son­dern im Haben«, wes­halb das zeit­ge­nös­si­sche Cre­do »Immer mehr!« (besit­zen, kon­su­mie­ren usw.) wachs­tums­ori­en­tiert ist und es auch sein muß. Die »unent­weg­te Flucht nach vorn« der gro­ßen Kapi­tal­eig­ner füh­re dazu, daß der Kapi­ta­lis­mus gar nicht anhal­ten kön­ne, wenn er nicht unter­ge­hen möch­te, und das will er nicht.

Die Wachs­tums­kri­tik, die hier bereits auf vie­len Sei­ten anklingt, ist ein wei­te­res Feld, das künf­tig auch in der deutsch­spra­chi­gen Publi­zis­tik bear­bei­tet wird: Im Oikos Ver­lag (Die Keh­re) erscheint noch 2022 eine Benoist-­An­tho­lo­gie zu Fra­gen der Öko­lo­gie, der Kli­ma­de­bat­te und des Post­wachs­tums. Die Renais­sance Alain de ­Benoists – jeden­falls im ideen­po­li­ti­schen Beritt – scheint vor­erst kein Ende zu neh­men. Da die rechts aus­ge­ru­fe­ne Poli­tik der klei­nen Schrit­te nur funk­tio­niert, wenn sie einen Transformations­willen in sich trägt, der weit über eine real­po­li­ti­sche Nah­ziel­ori­en­tie­rung hin­aus­weist, und da es hier­für eines poli­ti­schen Bewußt­seins bedarf, das sei­nen Namen ver­dient, ist dies aus­drück­lich zu begrüßen.

 

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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