New York, 1980. Ein junger, muskulöser Mann mit schwarzen Locken steht am Fenster seines College-Zimmers und zündet sich eine Zigarette an. Dabei schaut er auf seine Hand …
»Früher dachte ich: Solche großen Hände hat sonst niemand. Jetzt gibt es auf einmal gleich drei Paar davon […]. Wir sind fast identisch – Eddie, David und ich. Dabei kannte ich sie bis vor kurzem gar nicht. Ich lebte ganz normal, hatte meine Freunde und meine Familie. Und jetzt? Jetzt will ich ein Restaurant aufmachen mit zwei Fremden, die mir gefühlt näherstehen als jeder andere. Es ist verrückt, manchmal fühle ich mich wie im Traum.
Im Traum kam mir auch die Idee mit dem Restaurant, »Triplet«. Eddie meinte, er hätte schon dieselbe Idee gehabt. Als David das gleiche sagte, dachte ich, er will mich auf den Arm nehmen […]. Aber insgeheim glaube ich es ihm, wir denken ja auch sonst genau gleich. Oft beendet er meine Sätze, ich muß gar nicht reden, er sagt, was ich sagen will. Und keiner kann uns auseinanderhalten.
David grinst sogar wie ich! Dabei sind unsere Familien so anders. Der hat wirklich Glück gehabt mit seiner Sippe, in die sie ihn gesteckt haben. Unendlich viel Kohle! Und mein Vater? Der ist ein guter Mann, hat sich immer für mich eingesetzt wie für sein eigenes Blut. Aber wir sind eben arm.«
Der Dokumentarfilm Three Identical Strangers aus dem Jahre 2018 schildert eine wahre Geschichte, die fundamentale Fragen aufwirft: Werden wir von unserer Prägung durch Erziehung und Umwelt bestimmt oder sind es natürliche Veranlagungen, die unser Leben ausmachen? Letzteres ist nicht nur zunehmend wissenschaftlich belegbar, sondern wird durch das Filmgeschehen auch hervorragend illustriert. Eine Geschichte, die Erwartungen erschüttert und Tabus sprengt.
Als der 19jährige Robert »Bobby« Shafran zum erstenmal auf den Campus kam und ihn lauter Fremde begrüßten, war er verwirrt, wie er später berichtet. Eine hübsche junge Frau, die er noch nie getroffen hatte, warf sich ihm um den Hals. War das auf dem College etwa üblich? Und warum nannte sie ihn Eddy? Die Verwirrung klärte sich, als man ihn fragte, ob er einen Zwillingsbruder namens Edward habe. Er konnte die Frage nicht beantworten, denn er war als Baby adoptiert worden und kannte seine leibliche Verwandtschaft nicht.
Doch bald trafen die unbekannten Brüder erstmals aufeinander. Wie sie sich glichen, schockierte alle – an erster Stelle sie selbst. Nicht nur im Aussehen, sondern auch charakterlich waren »Bobby« und »Eddy« für viele kaum unterscheidbar: Ihre Mimik, ihre Bewegungen und ihre Art zu Lachen waren fast identisch. Sie trugen denselben Kleidungsstil, waren beide Highschool-Ringer gewesen und rauchten sogar dieselbe Zigarettenmarke. Es war klar, warum die anderen Studenten und sogar Eddys Freundin die beiden verwechselt hatten.
Der Fall begeisterte die Studenten und erreichte lokale Medien. Zeitungen brachten Berichte und Interviews über die »identical strangers«, die bei der Geburt getrennt worden waren und in verschiedenen Adoptivfamilien aufwuchsen, bis sie sich zufällig im College kennenlernten – und einander glichen wie ein Ei dem anderen. Ein junger Mann namens David Kellman, ebenfalls 19 Jahre alt und Adoptivsohn einer reichen New Yorker Familie, las einen dieser Artikel. Ein Blick auf das Foto der Zwillinge genügte, und David wußte: Ich bin der dritte. Über die Zeitung nahm er Kontakt zu Eddy und Bobby auf, und es stellte sich heraus, daß sie nicht nur Zwillinge, sondern Drillinge waren. Große Medien griffen die Geschichte auf, und die Drillinge nutzten ihre Berühmtheit und eröffneten ein Restaurant in New York – das »Triplet«.
Hinter dieser wundersamen Fügung steckt letztlich kein Wunder: Zwar war es Zufall, daß die eineiigen Drillinge sich fanden. Doch daß sie nach ihrer Geburt 1961 in einem Kreißsaal auf Long Island getrennt und in drei unterschiedliche Adoptionsfamilien gegeben worden waren, geschah nicht aus Not, sondern war Teil eines Experiments.
Der jüdisch-österreichische Psychiater Peter B. Neubauer, der 1941 aus der Schweiz nach New York ausgewandert war, veröffentlichte im Jahr 1990 das Buch Nature’s Thumbprint: The New Genetics of Personality. In dem Buch behandelte Neubauer, der ursprünglich ein Anhänger Freuds gewesen war, die »genetischen Einflüsse, die unsere Persönlichkeit formen«. Grundlage der Arbeit war eine Langzeitstudie, die um das Jahr 1960 herum von der New Yorker Psychiaterin Viola Bernard im Auftrag des Jewish Board of Family and Children’s Services begonnen worden war.
Im Rahmen der Studie wurden fünf Zwillingspaare sowie die Drillinge voneinander getrennt und in Adoptionsfamilien gegeben. Die Familien wurden so ausgesucht, daß die Geschwister in möglichst unterschiedlichen Verhältnissen aufwuchsen – unterschiedliche Einkommensniveaus, Erziehungsstile und Umgebungen, mit und ohne eigene Kinder. Das Ziel: die Beantwortung der entscheidenden Frage, ob die Genetik oder die Umgebung den Charakter und das Geschick eines Individuums bestimmt – nature versus nurture.
Robert, Edward und David waren also Teil dieses Experiments. In ihrer Kindheit und Jugend hatte Peter Neubauer sie regelmäßig untersucht, ohne ihre Eltern von dem Experiment zu unterrichten. Wer die Studie finanzierte, wurde nie bekannt, ihre Ergebnisse nie veröffentlicht – bis 2065 wird sie in den Yale-Archiven unter Verschluß liegen.
Die moderne Zwillingsforschung ist etwa einhundert Jahre alt. 1924 unterschied der deutsche Dermatologe Hermann Werner Siemens (1891 – 1969) für seine Studie Die Zwillingspathologie konsequent zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen. So konnte er feststellen, daß eineiige Zwillinge identisches Erbgut und dieselbe Anfälligkeit für Erbkrankheiten haben. Wie viele Genetiker seiner Zeit unterstützte auch Siemens die »Erbhygiene«-Politik der NSDAP, widersetzte sich jedoch später der deutschen Besatzungspolitik in den Niederlanden, wo er eine Professur innehatte, und wurde von 1942 bis 1945 aus der Lehre verbannt und zeitweilig in Haft genommen.
In Deutschland ist die Zwillingsforschung durch die Kinderexperimente des Auschwitz-Arztes Josef Mengele in Verruf geraten. Zusätzlich zum maßlosen Leid ihrer Opfer führten diese Verbrechen dazu, daß ganze Forschungszweige seither mit Menschenexperimenten und Lagergreueln assoziiert werden. In den Vereinigten Staaten gab es eine solche Tabuisierung nicht. Dennoch führte Neubauer seine Experimente unter absoluter Geheimhaltung durch.
Dies hatte mehrere Gründe: Einerseits mußte er das Experiment vor den Familien verbergen, wenn es gelingen sollte, und andererseits hatte er wohl doch mit öffentlicher Empörung zu rechnen. Vor allem jedoch vertrat Neubauer als Freudianer die Annahme, daß Menschen als sprichwörtlich unbeschriebenes Blatt Papier (blank slate) geboren und komplett durch Interaktionen und Erfahrungen geprägt würden. Um diese Sicht zu belegen und die Debatte im Sinne des blank slatism zu entscheiden, hätte die Studie ergeben müssen, daß sich die Drillinge charakterlich komplett unterschiedlich entwickelten, wenn sie so verschieden aufwüchsen. Doch wie die Auftritte Edwards, Roberts und Davids im Live-TV zeigten, traf das Gegenteil ein.
Heute ist die Studienlage klar: In fast jeder Hinsicht ähneln Kinder ihren biologischen Eltern mehr als ihren Adoptiveltern – selbst dann, wenn sie ihre leiblichen Eltern nie gesehen haben. (1) Eineiige Zwillinge, die getrennt aufwachsen, haben nicht nur körperlich, sondern auch im Verhalten mehr gemein als zweieiige Zwillinge, die im selben Haushalt aufwachsen. (2)
Dieser Erkenntnis liegen keine obskuren Experimente unter Geheimhaltung zugrunde, sondern große Metastudien und gigantische Genomdatenbanken mit Untersuchungsergebnissen von Millionen Zwillingen und Tausenden Eigenschaften. Nahezu jedes dieser Merkmale hängt stark von den Genen ab – im Durchschnitt sind in der westlichen Welt etwa 50 Prozent der Varianz eines Merkmales genetisch bedingt.
Vor allem die Lernfähigkeit eines Kindes, ausschlaggebend für das Funktionieren moderner Gesellschaften, entwickelt sich unter hiesigen Bedingungen beinahe vollständig gemäß der genetischen Veranlagung. Hemmende Faktoren wie der Mangel an essentiellen Nährstoffen oder an Schulzugang spielen in Ländern wie Deutschland, wo diese Voraussetzungen flächendeckend gegeben sind, keine Rolle. Insbesondere die individuelle Obergrenze ist genetisch bedingt und beinahe unverrückbar.
Dennoch gibt es nach aktuellem Erkenntnisstand kein »Intelligenz-Gen«; komplexe Merkmale wie kognitive Fähigkeiten werden von vielen Genen beeinflußt. Um die Veranlagung solcher Merkmale zu erforschen, müssen Tausende Stellen im Genom identifiziert werden, an denen DNS-Varianten mit Merkmalsausprägungen korrelieren. Diese Technik der Genome Wide Association Studies (GWAS) ist seit den 1990ern bekannt und bekam mit der ersten Vollsequenzierung des menschlichen Genoms im Jahr 2003 erheblichen Aufwind. Seitdem ist es zunehmend möglich, neben der Herkunft eines Menschen auch seine Krankheitsveranlagungen, seine kognitiven Fähigkeiten und andere komplexe Eigenschaften aus Genproben abzuschätzen oder in gewissem Rahmen herauszulesen.
Die GWAS identifizieren, welche Varianten im Genom mit welchen Ausprägungen eines Merkmals assoziiert sind, und quantifizieren diese Korrelation. Derart ausgemachte Korrelationen werden gewichtet und in eine Zahl aufsummiert, den polygenen Index. Je höher dieser für ein Merkmal (beispielsweise Anfälligkeit für Darmkrebs) ausfällt, desto höher die entsprechende Veranlagung. Für kognitive Fähigkeiten kennt man bereits einige tausend Varianten, und mit der wachsenden Datenmenge steigen das statistische Gewicht der GWAS und die Voraussagekraft der polygenen Indizes immer weiter an.
Auf dieser Grundlage können hierzulande etwa 16 Prozent der Varianz für Bildungserfolg erfaßt werden. Damit ist eine Prognose anhand des polygenen Index besser möglich als anhand des Familieneinkommens: Während die Korrelation zwischen Einkommen der Eltern und Schulerfolg der Kinder bei 0,2 bis 0,35 liegt, ist die uns bekannte Korrelation zwischen genetischer Information und Bildungserfolg inzwischen schon bei 0,4 – Tendenz steigend, da das Genom noch lange nicht ausgeforscht ist. (3)
Die Bedeutung der Genetik für den Menschen ist mit dem Alltagsverstand kaum begreifbar. Würden Robert, Edward und David heute, knapp 60 Jahre später geboren, könnte Neubauer sich das Experiment sparen: Bereits im Embryostadium könnte er ihnen Zellen entnehmen und prognostizieren, worin sie einander ähneln werden und wie stark diese Ähnlichkeit genetisch bedingt ist. Schon wenige Tage nach der Zeugung lassen sich anhand spezifischer Gensequenzen Schätzungen zu Eigenschaften wie Temperament, IQ, Fleiß, Zielstrebigkeit usw. und sogar Prognosen zu Bildungsabschlüssen und Berufserfolg vornehmen. Die Relevanz dieser Eigenschaften ist in einem entwickelten Land wie Deutschland besonders hoch, da Lebensweg und sozialer Status in bedeutendem Maße von ihnen abhängen.
Die Ergebnisse aus mehreren Jahrzehnten Zwillingsforschung und unzähligen Studien gehen so weit, daß der US-amerikanische Psychologe und Genetiker Robert Plomin vom King’s College London mittlerweile von der DNS als »Blaupause« des Menschen spricht. Die gegenwärtige Forschung, so schreibt er in seinem Buch Blueprint (2018), »signalisiert den Beginn der DNA-Revolution in der Psychologie« (4), weil sie für beinahe jede Eigenschaft eine starke genetische Veranlagung nachweisen und sogar medizinische Probleme lange vor ihrem Auftreten erkennen könne. Vom Kaffeekonsum über die Anfälligkeit für chronische Schlafstörungen bis hin zum Frühaufstehen – all dies ist durch die genetische »Blaupause« bedingt und läßt sich durch ihre Kenntnis vorhersagen. Der renommierte Professor spricht sogar von einer »Kristallkugel«, die uns »unsere Zukunft von Geburt an vorhersagen« könne – denn »mehr als alles andere bedingt Genetik die individuellen Unterschiede zwischen Menschen, mehr als alle anderen Faktoren zusammen.«
Mit dem Bild der Kristallkugel illustriert Plomin die Möglichkeit, mittels DNS und GWAS auch komplexe Eigenschaften eines Menschen vorherzusagen und statistische Wahrscheinlichkeiten für seinen Lebensweg zu bestimmen. Was Plomin jedoch nicht meint, ist ein harter Determinismus im philosophischen Sinne oder ein konkretes, in den Genen detailliert festgeschriebenes Schicksal. Die im Genom veranlagten Eigenschaften geben Möglichkeiten, Grenzen und Neigungen vor, doch der tatsächliche Lebensweg läßt sich niemals vorhersagen.
Wie die genetischen Veranlagungen sich zum Schicksal verhalten, läßt sich an den Biographien der Drillinge Edward, Robert und David betrachten. Diese verliefen keinesfalls gleich, und das, obwohl sich die Brüder ähnelten wie ein Ei dem anderen. Ihre genetische »Blaupause« gab die inneren und äußeren Veranlagungen vor, doch das Leben nahm unberechenbare Wege: Robert Shafran und David Kellman konnten 2018 der Premiere von Three Identical Strangers beiwohnen, während Edward Galland 1995 im Alter von 34 Jahren Suizid begangen hatte.
Die eineiigen Drillinge sind manisch-depressiv veranlagt und bei allen dreien brach die psychische Krankheit aus – aber nur einer von ihnen, Eddie, nahm sich das Leben. Zuvor war er in ärztlicher Behandlung gewesen und hatte Antidepressiva erhalten, welche in der frühen Behandlungsphase die Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes erhöhen. Sein Suizid stellt möglicherweise einfach das Ergebnis einer medikamentös bedingten Nebenwirkung dar. Denkbar ist jedoch auch, daß Eddy durch seine problematische Jugend bereits psychisch geschwächt und darum besonders anfällig war. Während er die manisch-depressive Veranlagung mit seinen Brüdern teilte, könnten sein Gesundheitszustand und seine Fähigkeit, damit umzugehen, durch die Umstände seiner Kindheit und Jugend beeinträchtigt worden sein.
Entgegen den Blank-slate-Annahmen der Freudianer gehen die meisten psychischen Krankheiten zwar nicht ursächlich auf falsche Erziehung im Kindesalter zurück, sondern auf die Genetik. Dennoch ist es wahrscheinlich, daß sie durch Erlebnisse und Umwelteinflüsse ausgelöst oder potenziert werden, so wie auch eine genetisch bedingte Veranlagung für Lungenkrebs durch Faktoren wie das Zigarettenrauchen oder den Großstadtsmog potenziert werden kann.
Es ist gut denkbar, daß die drei emotional fragilen Jungen in der Jugend besonders durch die jeweilige Vater-Sohn-Beziehung beeinflußt wurden. Eddies Adoptivvater begegnete ihm streng, autoritär und kalt. David hingegen hatte Glück. Sein Adoptivvater galt als warm und herzlich und wurde von allen Brüdern als gemeinsame Vaterfigur akzeptiert. Jedoch konnte nur David in seiner Obhut aufwachsen, während Eddy in seiner Kindheit und Jugend schweren psychischen Belastungen ausgesetzt war. Für das Wohlergehen eines Menschen ist von besonderer Bedeutung, daß die Umwelt zur eigenen natürlichen Veranlagung paßt, doch als Kind war Eddy der emotionalen Fremdheit seines Erziehers hilflos ausgeliefert.
Brüche zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern zeugen davon, daß solche Inkompatibilitäten auch innerhalb einer Familie existieren können, doch sind sie hier seltener, denn die Wahrscheinlichkeit, ähnlich veranlagt zu sein, ist groß. Bei Adoptivkindern spielt Glück eine wesentliche Rolle, denn die Wahrscheinlichkeit, nicht zusammenzupassen, ist weitaus größer. Im Fall der fremden Drillinge hatten David und Robert Glück, doch Eddy blieb seinem Vater ein Leben lang fremd. Möglicherweise war dies der Grund seines traurigen Schicksals.
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(1) – Vgl. Robert Plomin: Blueprint – How DANN makes us who we are, Cambridge Massachusetts 2018, S. 54.
(2) – Vgl. Tinca JC Polderman, Beben Benyamin et al.: »Meta-analysis of the heritability of human traits based on fifty years of twin studies«, in: Nature Genetics 47, 2015, S. 702 – 709.
(3) – Vgl. James J. Lee: Polygenic prediction within and between families from a 3‑million-person GWAS of educational attainment, Social Science Genetic Association Consortium (Studie noch unveröffentlicht).
(4) – Vgl. Plomin: Blueprint, S. 117.