Der Vertrag von Rapallo, der am 16. April 1922 zwischen Deutschland und Sowjetrußland (RSFSR) – die Sowjetunion (UdSSR) wurde erst am 30. Dezember 1922 gegründet – geschlossen wurde, wird in der Forschung kontrovers bewertet.
Die sowjetische Seite betonte, das Abkommen sei ein weiteres Glied in der Kette der von Tauroggen 1812 bis zum Rückversicherungsvertrag 1887 reichenden Tradition deutsch-russischer Freundschaft. Die nachsowjetische russische Historiographie betont ebenfalls die positiven Aspekte und spricht vom »Geist Rapallos«, (1) der die gemeinsamen Beziehungen von 1925 bis 1933 durchzog.
Dieses vom sachlichen Inhalt her nicht sonderlich gewichtige Abkommen hat im Westen die unterschiedlichsten Interpretationen erfahren. Hermann Graml zum Beispiel sah den »Pakt in der Kontinuitätslinie deutscher Großmacht- und Hegemonialpolitik, der sich vor allem gegen Polen richtete«. (2)
Diese These findet in Deutschland immer noch Anklang, jedoch interpretieren ihre Anhänger die Geschichte ex post aus der Sicht von 1939 und übersehen, welche Gründe die Politiker 1922 bewogen haben, das Übereinkommen zu schließen. Sicher hatten Berlin und Moskau eine Interessensüberschneidung im neugeschaffenen polnischen Staat, dessen Territorium im wesentlichen aus Gebieten bestand, die bis 1918 zu Deutschland oder Rußland gehört hatten. Dies war allerdings nur ein Nebenaspekt beim Zustandekommen des Vertrags.
Vor allem brachte er beiden Partnern den Durchbruch aus politischer Isolation. Für die Weimarer Republik war es nach Andreas Hillgruber »die erste größere außenpolitische Handlung seit 1919, die über die defensive Grundlinie in dieser Phase hinausging« und die »Wiederaufnahme einer Politik der freien Mitte zwischen Ost und West« (3) darstellte.
Das Verhältnis Deutschlands zu Sowjetrußland war zwiespältig. Als demokratischer und sozialer Rechtsstaat war die deutsche Republik durch die Idee der von Moskau angestrebten Weltrevolution bedroht und seit 1918 im Inneren nicht zur Ruhe gekommen. Die ersten Jahre der deutschen Demokratie waren von Bürgerkriegskämpfen, vor allem gegen kommunistische Umsturzversuche, durchzogen: Dezember 1918 bis Januar 1919 in Berlin und vielen anderen Städten, März / April 1919 in Sachsen, Thüringen, Bayern, April / Mai 1920 in Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet, in den gleichen Gebieten wieder im März 1921.
Durch die Kämpfe gegen kommunistische Aufstände im Inneren gehörte Deutschland ins Lager der westeuropäischen Staaten. Aber als Macht unter Mächten, in seinem Ringen gegen die Reparationen und um die Revision des Versailler Vertrags mußte der Tatsache Rechnung getragen werden, daß auch Sowjetrußland in einem scharfen Gegensatz zu den führenden Mächten der bürgerlich-kapitalistischen Welt stand, gegen deren militärische Interventionen sich das neue Moskauer Regime in schweren Kämpfen hatte durchsetzen müssen.
Die innere und die äußere Staatsräson wiesen Deutschland in entgegengesetzte Richtung. Bei politischer Zugehörigkeit zum Westen aufgrund ihrer Regierungsform war die Republik durch ihre isolierte außenpolitische Lage auf Verständigung mit der Sowjetmacht angewiesen. Das wurde erleichtert, da die Situation nicht mehr belastet war durch die Vorkriegskonflikte um den in den Balkanraum ausgreifenden Panslawismus des russischen Zarenreiches.
Da sich die Weltrevolution nicht, wie von Lenin prognostiziert, im ersten Anlauf aus der Oktoberrevolution ergeben hatte, war Sowjetrußland gezwungen, sich auch als Staat unter Staaten einzurichten. Indem Lenin verhinderte, daß Deutschland politisch ins Lager der westeuropäischen Staaten gezogen wurde, erreichte er eines seiner Ziele: die zwischen den bürgerlichen Staaten bestehenden Spannungen zu erhalten und auszunutzen.
Auch ohne offiziell bestehende diplomatische Beziehungen (der Moskauer Botschafter in Berlin, Adolf Abramowitsch Joffe, war im November 1918 wegen Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes ausgewiesen worden) kam es früh in der Kriegsgefangenenfrage zu Berührungen beider Staaten. Außerdem kamen bald nach Kriegsende wirtschaftliche Interessen ins Spiel. Der im Jahre 1921 sich steigernde deutsche Export nach Rußland kam nicht zuletzt dem Aufbau der sowjetischen Rüstungsindustrie zugute, an der wiederum die abgerüstete Reichswehr interessiert war, da sie von dort zusätzlich Artilleriemunition zu beziehen hoffte.
Die Ostabteilung des Auswärtigen Amtes unter ihrem Chef Adolf Georg Otto (»Ago«) Freiherr von Maltzan war bemüht, die zwischen Rußland und Deutschland schwebenden finanziellen und wirtschaftlichen Fragen vertraglich zu regeln und die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen. Maltzan meinte, daß nur in einer vorsichtigen, aber alle Möglichkeiten nutzenden Annäherung an Sowjetrußland allmählich wieder politischer Handlungsspielraum und wirtschaftliche Entfaltung für Deutschland gewonnen werden könnten.
Auf der Durchreise zur internationalen Wirtschaftskonferenz vom 10. April bis 19. Mai 1922 in Genua machte die sowjetische Delegation in Berlin halt. Hier wurde der Wortlaut des späteren Vertrags entworfen, ohne daß es bereits zur Unterzeichnung kam. Die deutsche Seite wollte sich öffentlich vor der Genua-Konferenz nicht festlegen.
Beiden Staaten lag außerdem an einem eigenen Arrangement mit den Westmächten. Deutschland wollte eine wirtschaftliche Regelung der Reparationen im Zusammenhang mit einer internationalen Anleihe, und Rußland hoffte auf eine Beteiligung der westeuropäischen Industriemächte an seinem wirtschaftlichen Aufbau. Die unter Ausschluß Deutschlands geführten Verhandlungen in Genua brachten kein Ergebnis. Die deutsche Delegation fürchtete, daß Rußland sich mit den Westmächten auf Kosten Deutschlands einigen könnte, indem es russische Reparationsansprüche gemäß Artikel 116 Versailler Vertrag an Frankreich abtrat. Reichsaußenminister Walther Rathenau wollte den »Draht nach Rußland« (4) als Druckmittel benutzen, um die Entente-Mächte in der Anleihe- und Reparationsfrage nachgiebig zu stimmen.
Schließlich unterzeichneten die beiden Außenminister Georgij Tschitscherin und Rathenau am 16. April den Vertrag in Rapallo. Darin verzichteten beide Seiten auf gegenseitige Forderungen aus dem Krieg; die diplomatischen Beziehungen wurden wieder aufgenommen, und handelspolitisch sollte die Meistbegünstigung gelten. Deutschland erklärte sich bereit, private Lieferungen nach Rußland mit Krediten zu unterstützen. Politische oder militärische Geheimklauseln waren mit dem Vertrag nicht verbunden.
Der Vertragsabschluß führte zu einer heftigen politischen Reaktion der Entente-Mächte, die aber nicht lange anhielt. Der wesentliche Vorwurf an Berlin lautete, Loyalitätsbruch begangen zu haben. Der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré wertete Rapallo als Kriegserklärung an den Status quo – das heißt die Versailler Nachkriegsordnung – und drohte mit militärischen Interventionen im Falle künftiger deutscher Vertragsverletzungen. Auch wurde Deutschland das Scheitern der Genua-Konferenz angelastet. Dabei blieb außer acht, daß die Weigerung Frankreichs, über die Reparationsfrage überhaupt nur zu reden, als Ursache für ihren Mißerfolg bezeichnet werden muß.
Rapallo war für Deutschland strategisch gesehen ein Erfolg, denn der Vertrag befreite es von einer einseitigen Westbindung und eröffnete vielfältige diplomatische Möglichkeiten. Im Hinblick auf die späteren Unterhandlungen in Locarno zwischen Gustav Stresemann und Aristide Briand erkannte man, daß der direkte Draht Deutschlands nach Moskau eine der Voraussetzungen war, um Stresemanns Politik der Verständigung zum Erfolg zu führen.
Als erster deutscher Botschafter ging Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau nach Moskau. In seinen Vorstellungen fungierte Rußland als »Antidoton gegen Versailles«. (5) Er wollte französisch-britische Spannungen zur Annäherung an England nutzen, während das Verhältnis zu Sowjetrußland vor allem nach der wirtschaftlichen Seite gepflegt werden sollte, jedoch unter Ablehnung aller militärisch-politischen Kombinationen.
Der Chef der Reichswehr, Hans von Seeckt, sah dagegen das Beste am Rapallo-Vertrag darin, daß man allgemein vermutete, er sei mit geheimen militärischen Abmachungen verknüpft. Das war er in Wirklichkeit nicht. Die geheime Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee hatte sich unabhängig von der politischen Ebene auf Initiative Seeckts bereits seit 1920 entwickelt.
Für die russische Seite war Rapallo ein wichtiger Meilenstein in den Beziehungen beider Staaten. Außenminister Tschitscherin sagte, der Vertrag bedeute ein Ende des Triumphs der Sieger im Ersten Weltkrieg und kennzeichne das Heraufkommen neuer internationaler politischer Mächte. Mit Abschluß des Vertrags betraten die beiden Parias der Versailler Nachkriegsordnung wieder die politische Bühne. Beide Staaten hatten durch gewalttätige Umstürze ihr Gesellschaftssystem geändert, sich aber bei allen politischen Gegensätzen an ein Axiom der gemeinsamen Vergangenheit erinnert: Deutschland und Rußland ist es immer gutgegangen, wenn sie zusammengearbeitet haben.
Auf deutscher Seite hatte Außenminister Gustav Stresemann nie einen Zweifel daran gelassen, den territorialen Status quo in Osteuropa und insbesondere die deutsch-polnische Grenze im Gegensatz zur Westgrenze nicht anerkennen zu wollen. Er unterstrich damit das revisionistische Interesse, das Moskau und Berlin gemeinsam war. Allerdings verkannte er nicht die Gefahr, die von Osten drohte: »Eine Ehe einzugehen mit dem kommunistischen Rußland, hieße, sich mit dem Mörder des eigenen Volkes ins Bett zu legen«, (6) notierte er im Juli 1925.
Gleichzeitig machte er deutlich, daß seine Politik der Entspannung nach Westen nicht mit einer dezidierten Westbindung und einseitigen deutschen Außenpolitik verwechselt werden dürfe: Man wolle sich zugleich nicht an den Westen verkaufen und die Sowjetunion im Spiel halten. Das Grundmotiv von Stresemanns Außenpolitik war, die Gefahr einer britisch-französischen Entente und das Zusammenspiel Frankreichs und Rußlands wie vor 1914 über den Rücken Deutschlands hinweg zu verhindern. Diesem Zweck dienten zum einen der Vertrag von Locarno nach Westen und zum anderen die deutsch-sowjetischen Kontakte, die im Oktober 1925 zu einem Wirtschaftsabkommen führten und schließlich in den Berliner Vertrag mündeten.
Am 16. März 1926 hatte der Völkerbundrat das deutsche Aufnahmegesuch völlig unerwartet abgewiesen und die Entscheidung auf den September verschoben. Als Reaktion darauf wurde der Abschluß eines neuen Abkommens mit Moskau forciert. Am 24. April 1926 wurde der Berliner Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Beide Vertragspartner sicherten sich die Neutralität im Falle eines unprovozierten Angriffes durch eine dritte Macht zu und versprachen, sich im Konfliktfall nicht an wirtschaftlichen oder finanziellen Sanktionen gegen den Vertragspartner zu beteiligen. Die Vertragsdauer betrug fünf Jahre und wurde 1931 verlängert.
Die Bestürzung der Westmächte über das Abkommen registrierte der deutsche Botschafter in Moskau, Graf Brockdorff-Rantzau, mit Genugtuung. Er hatte in dem deutsch-russischen Verhältnis schon immer eine »Zweckehe« gesehen. Der Berliner Vertrag sei ein »wirksames Korrelat gegen den […] Vertrag von Locarno«. Es werde nützlich sein, nach außen Deutschlands sogenannten Feinden den Eindruck einer größeren Intimität mit Rußland zu erwecken, als sie tatsächlich vorhanden sei. Der »Bluff« (7) hatte Erfolg: Im September 1926 wurde Deutschland in den Völkerbund aufgenommen.
Die NS-Machtergreifung 1933 führte zum Einfrieren der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Diplomatische Kontakte blieben zwar erhalten, aber die für beide Seiten fruchtbare wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit des zurückliegenden Jahrzehnts kam zum Erliegen. Dies änderte sich erst im Frühjahr 1939, als Adolf Hitler versuchte, über die Verständigung mit Stalins Sowjetunion Druck auf Polen und seine westlichen Verbündeten auszuüben, um die Danzig- und Korridorfrage im Sinne seiner Vorschläge ohne Krieg zu lösen.
Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 berief sich ausdrücklich auf den Berliner Vertrag von 1926, blieb allerdings ohne die in Deutschland erhoffte Wirkung auf Warschau, Paris und London. Hitler hatte sein Blatt überreizt. Sein Vertrauenskredit im Westen war aufgebraucht, und Stalin selbst führte bereits anderes im Schilde. Auch mit wirtschaftlicher Aufbauhilfe aus Deutschland war die Sowjetunion mittlerweile so stark geworden, daß ihr politischer Führer die Zeit nun für gekommen hielt, von der friedlichen Koexistenz Abschied zu nehmen und durch die Entfesselung des Krieges zwischen den bourgeoisen Staaten die Weltrevolution in Gang zu setzen.
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(1) – G. N. Sevostjanow (Hrsg.): Der Geist Rapallos: Sowjetisch-deutsche Beziehungen 1925 – 1933 [russ.], Moskau 1997.
(2) – Hermann Graml: »Die Rapallo-Politik im Urteil der westdeutschen Forschung«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 18. Jg. (1970), H. 4, S. 366 f.
(3) – Andreas Hillgruber: »›Revisionismus‹ – Kontinuität und Wandel in der Außenpolitik der Weimarer Republik«, in: Historische Zeitschrift 237 (1983), S. 606.
(4) – Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933 (= Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 8), Berlin 1989, S. 136.
(5) – Christiane Scheidemann: Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau (1869 – 1928). Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. 1998, S. 541.
(6) – Gottfried Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, München 1999, S. 22.
(7) – Scheidemann: Brockdorff-Rantzau, S. 680.