In besonders schmerzliche Verlegenheit wurde der real existierende Sozialismus immer dann gestürzt, wenn die Kritik an ihm von seiten der Wissenschaft kam.
Der Kommunismus verstand sich von seinen Anfängen her als Wissenschaft, welche die »Naturgesetze« der Geschichte wie der Ökonomie erkannt habe und daher die ideale Gesellschaft errichten könne. Daß er aus der Utopie kam und trotz aller Anstrengung viel von ihm dort verblieb, war ihm so unangenehm wie ein mißratenes Tattoo aus Jugendtagen.
Daß Fachleute aus den Naturwissenschaften im eigenen Machtbereich dieses Selbstbild angriffen, wurde von den Machthabern als Verletzung eines Naturgesetzes wahrgenommen. In der DDR gehörte der ebenso schillernde wie geistreiche Chemiker Robert Havemann zu dieser Kategorie. Er verstarb vor genau vierzig Jahren in seinem von der Stasi dauerüberwachten Anwesen bei Berlin.
In der NS-Zeit verdankte der junge Kommunist Havemann sein Leben der Wissenschaft, als seine Hinrichtung von höheren Fürsprechern aus dem Heereswaffenamt, für das er auch als Häftling forschte, immer wieder hinausgezögert werden konnte. In der DDR wurde sie ihm dann zum Verhängnis, als er die Philosophie hinter dem Machtapparat wissenschaftlich – und das hieß für ihn stets intellektuell redlich – zu überprüfen begann. Dabei blieb Robert Havemann bis in seine staatlich verordnete Quarantäne hinein ein überzeugter Sozialist, für den der Sozialismus als dialektisches Bewegungsprinzip des Geistes die Offenheit des Denkens wie nichts anderes verbürgte.
Alles, was eine Partei oder ein Staat daraus machten, nannte er mechanischen Sozialismus und mechanischen Materialismus oder salopper einen »Katechismus von Banalitäten«. Starre Dogmatisierung war Ergebnis einer Staatsnähe, die er als authentischer Wissenschaftler ablehnen mußte, die er als Sozialist aber als wesensimmanent hätte erkennen müssen. Havemann untersuchte in einer berühmt gewordenen Vorlesungsreihe aus dem Wintersemester 1963 / 64 an der Humboldt-Universität (Dialektik ohne Dogma?) die Unzulässigkeit, Naturwissenschaft auf die menschliche Geschichte anzuwenden, da Geschichte wesentlich einmalig und endgültig verlaufe und die Naturwissenschaften somit nicht zuständig seien.
Zugleich versuchte er dabei, den Sozialismus wissenschaftlich von seiner ererbten Ideologielastigkeit zu befreien (mit Ausflügen in die Metaphysik). Gegenüber seinen Stasi-Vernehmern gab er später an, diese akademische Opposition allein im Dienste der DDR und ihrer Ideale betrieben zu haben. Von der Hand zu weisen ist das nicht, war er doch kein Fundamentaloppositioneller wie der bärbeißige Solschenizyn oder der fromme Wałęsa. In den Anfangsjahren der DDR eine Art Star des Regimes (mit geheimdienstlicher Nebentätigkeit), wurde er nun zu einem Star der Opposition. Sein Grundstück in Grünheide war in späteren Jahren eine Pilgerstätte für Dissidenten wie Wolf Biermann und Jürgen Fuchs.
Robert Havemann stritt für eine Art von Ehrenrettung des Sozialismus, die aufgrund des Stalinismus (damals noch offiziell »Personenkult« genannt) notwendig geworden sei. Für ihn war der Stalinismus eine tragische Möglichkeit, jedoch mitnichten eine zwingende Notwendigkeit innerhalb des Sozialismus. Den späten Stalinismus der DDR nannte er »raffinierter, verlogener und feiger als der ursprüngliche zu Stalins Lebzeiten«. Seine Bürokraten stünden vor allem im Mittelbau unter ständigem Druck ideologisch fanatisierter Nachzügler, die der undurchsichtigen oberen Riege zu gefallen suchten.
Für jeden, der dort eine Stellung zu halten habe, gelte es, stets zu wissen, was man gerade zu denken habe. Noch in seinem letzten Werk, dem prophetisch-apokalyptischen Morgen (1980), unterzieht Havemann im Namen eines utopischen Sozialismus, den er hellsichtig als eine Art von Great Reset beschreibt, den Staatssozialismus und den privatwirtschaftlichen Kapitalismus einer vernichtenden Kritik. Sie seien beide nicht in der Lage, die menschheitsgefährdenden Probleme des Planeten zu lösen.
»Die jetzige Krise, die sich übrigens erst im Anfang ihrer Entwicklung befindet, wird über Sein und Nichtsein entscheiden«. Dem Wissenschaftler Havemann bleibt am Ende nur die Utopie eines freien Sozialismus und die strenge Unterscheidung von Denken und Denkgewohnheit.