Frank-Walter Steinmeier ist »bewegt«, daß ihm die Bundesversammlung das Amt des Bundespräsidenten für weitere fünf Jahre »anvertraut« hat.
So jedenfalls äußerte er sich unmittelbar nach seiner Bestätigung im Amt und unternahm gleich den Versuch, sich als Präsident aller Deutschen zu präsentieren: »Ich danke für das Vertrauen derer, die mich gewählt haben. Und ich bitte um das Vertrauen derjenigen, die es nicht getan haben.«
Unter denjenigen, die es nicht getan haben, waren sicher auch einige, die Steinmeier gleich noch als seine Feinde markierte. Er sei überparteilich, aber »nicht neutral, wenn es um die Sache der Demokratie geht. Wer für die Demokratie streitet, hat mich an seiner Seite. Wer sie angreift, wird mich als Gegner haben!«
Was in normalen Zeiten als ein Fingerzeig Richtung antidemokratischer Dunkelmänner verstanden worden wäre, ist heute auf diejenigen gemünzt, die sich brav an Wahlen beteiligen, weil sie der Meinung sind, daß es um die Demokratie in Deutschland nicht gut bestellt ist und man den Altparteien wenigstens auf die Finger schauen sollte (wenn man sie schon nicht ablösen kann). Diese Motivation steht heute im Ruf, extremistisch zu sein, weil sie an der besten aller denkbaren Welten, die nun weitere fünf Jahre von Steinmeier repräsentiert wird, etwas zu kritisieren hat.
Auch an der Wahl des Bundespräsidenten gab es im Sinne einer echten Opposition etwas zu kritisieren. Denn diese Wahl fand unter merkwürdigen Vorzeichen statt. Daß die SPD ihren eigenen Parteigenossen zur Wiederwahl vorschlug, war keine Überraschung. Gerade weil die SPD jetzt das Land regiert, wird ihr jemand, von dem noch nie ein kritisches Wort über die politische Klasse dieses Landes zu vernehmen war, gut in den Kram passen.
Daß sich Grüne und FDP dem Vorschlag anschlossen, lag nahe, immerhin hat man bereits jetzt so viele Probleme in der Ampelkoalition, daß man auf das symbolpolitische Spiel eines eigenen Vorschlags lieber verzichtete. Was aber einiges über den Zustand der Demokratie in unserem Land aussagt, ist die Tatsache, daß die größte Oppositionsfraktion, die CDU / CSU, es nicht übers Herz brachte, einen eigenen Kandidaten ins Rennen zu schicken, sondern mit warmen Worten für Steinmeier warb. Das als latent extremistisch markierte Argument von der Ununterscheidbarkeit der Altparteien hat dadurch an Stichhaltigkeit gewonnen.
Dieser Gleichklang führte dazu, daß in der Bundesversammlung, in der die Bundestagsabgeordneten gemeinsam mit einer gleichen Anzahl von Vertretern aus den Länderparlamenten den Bundespräsidenten wählen, der Parteienstaat erneut und wie so oft schon über die Demokratie triumphierte. Die alte Forderung, den Bundespräsidenten vom Volk direkt wählen zu lassen, bekommt nun sicher neue Unterstützer, wenn auch der Parteienstaat dadurch nicht umgangen werden kann. Aber es ist deutlich schwieriger, 60 Millionen Wahlberechtigte davon zu überzeugen, einen Kandidaten zu wählen, der in den Kungelrunden der Parteien bestimmt wurde, als die 1472 Wahlleute der diesjährigen Bundesversammlung.
Steinmeier wurde mit 71 Prozent der Stimmen gewählt, was angesichts der sonst so knappen bundesrepublikanischen Wahlergebnisse der letzten Zeit chinesisch anmuten mag. Allerdings hätte Steinmeier theoretisch 1223 Stimmen bekommen können, was 83 Prozent entspricht. Auf diese Zahl kam man, wenn man die Wahlleute der Parteien zusammenzählte, die Steinmeiers Kandidatur unterstützten. Er bekam aber »nur« 1045 Stimmen.
Ist das ein aufmüpfiges Zucken oder nur Unzuverlässigkeit? Vor allem ist es egal: Mit 71 Prozent im Rücken wird sich Steinmeier nicht ganz zu Unrecht als Vertreter der Mehrheit der Wohlmeinenden vorkommen und um so ungehemmter die Ränder bekämpfen, die ihn nicht gewählt haben und die er nicht braucht. Daß die Linkspartei, die wie die AfD einen eigenen Kandidaten aufgestellt hatte, sich deshalb keine Sorgen zu machen braucht, zeigt nicht nur sein diesbezügliches Angebot der Zusammenarbeit, sondern vor allem seine unverhohlene Drohung in Richtung derjenigen, »die Wunden aufreißen, die in der Not der Pandemie Haß und Lügen verbreiten […] – denen sage ich: Ich bin hier und ich bleibe!« Unbegrenzte Amtszeiten sind zwar bislang nicht vorgesehen, aber die Mehrheit ließe sich sicher organisieren.