Nachkriegsliteratur – Von der Problematik des Wertens

von Günter Scholdt -- PDF der Druckfassung aus Sezession 107/ April 2022

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Die fol­gen­de Serie mus­tert die lite­ra­ri­sche Ent­wick­lung inner­halb der ers­ten bei­den Jahr­zehn­te seit dem Kriegs­en­de 1945. Es geht um Auf- und Abstie­ge von Autoren und Wer­ken, um künst­le­ri­sche wie außer­li­te­ra­ri­sche Dia­gno­sen. Als wich­tigs­tes Ergeb­nis des dama­li­gen Kul­tur­kampfs erweist sich die weit­ge­hen­de Mar­gi­na­li­sie­rung des im wei­tes­ten Sin­ne kon­ser­va­ti­ven Lite­ra­tur­la­gers durch Fach­ger­ma­nis­tik und Feuil­le­ton. Dabei han­del­te es sich um einen sys­te­ma­tisch betrie­be­nen meta­po­li­ti­schen Pro­zeß, der die Vor­aus­set­zung für den gegen­wär­ti­gen Bil­dungs­ka­non und unser heu­te gän­gi­ges lite­ra­ri­sches Geschichts­bild schuf.

Über bei­de muß man reden ange­sichts ­eines nie ganz ver­ebb­ten Bedürf­nis­ses nach literar­historischer Ein­ord­nung und Beleh­rung. Denn bei der baby­lo­ni­schen Unüber­sicht­lich­keit einer jähr­lich um Zehn­tau­sen­de von Neu­erschei­nun­gen anwach­sen­den Bücher­flut erhof­fen wir uns – ana­log zu Tou­ris­ten­füh­rern, mit denen wir uns frem­den Städ­ten nähern – kon­zen­trier­ten Auf­schluß über unbe­dingt zu lesen­de Wer­ke einer Epo­che, ihre Leit­ideen oder ästhe­ti­schen Cha­rak­te­ris­ti­ka. Dabei sind sich die wenigs­ten der metho­di­schen Prä­mis­sen, der Aus­wahl- oder der Wer­tungs­kri­te­ri­en bewußt, die den Dar­stel­lun­gen zugrun­de liegen.

Die­se bestim­men jedoch maß­geb­lich die Inhal­te. Phi­lo­lo­gi­sche Pro­mi­nenz und Feuil­le­ton­ge­wal­ti­ge wir­ken näm­lich (wie Medi­en bei der poli­ti­schen Mei­nungs­bil­dung) als Gate­kee­per, set­zen den Pres­ti­ge­wert von Tex­ten fest und eröff­nen oder ver­stel­len damit Zugän­ge. Bei Kri­ti­ken wie Epo­chen­bi­lan­zen soll­te man also stets die poli­ti­sche Inten­ti­on ihrer Ver­fas­ser erkun­den, was meist nicht schwerfällt.

Und auch jen­seits von ideo­lo­gi­schen Absich­ten fragt sich: Geht es vor­wie­gend um eine Werk‑, Leser‑, Ideen‑, Motiv‑, Institutionen‑, Sozi­al- oder Moral­ge­schich­te? Erfah­ren wir tat­säch­lich Essen­ti­el­les über Haupt­the­men und vor­herr­schen­de Ten­den­zen einer Epo­che inklu­si­ve der Wer­ke, die erreg­ten und Mas­sen beweg­ten? Oder rei­ten Ver­fas­ser vor­nehm­lich ihre bio­gra­phi­schen und ideo­lo­gi­schen Ste­cken­pfer­de, Vor­lie­ben für bestimm­te schreib­tech­ni­sche Inno­va­tio­nen inbe­grif­fen? Je nach­dem erhal­ten wir näm­lich ganz ver­schie­de­ne Darstellungen.

Die meis­ten Lite­ra­tur­ge­schich­ten ver­men­gen aller­dings, kaum reflek­tiert, unter­schied­lichs­te Funk­tio­nen und Absich­ten mit poli­tisch-mora­li­scher Selek­ti­on und dezi­dier­ten Qua­li­täts­aus­sa­gen. Man zieht kol­lek­tiv­psy­cho­lo­gi­sche Schlüs­se ohne exak­te Kennt­nis, wel­chen Ver­brei­tungs­grad die behan­del­ten Tex­te auf der Ska­la vom Best­sel­ler zum blo­ßen Geheim­tip besit­zen. Man unter­schei­det wenig zwi­schen Tex­ten als reprä­sen­ta­ti­vem Aus­druck frü­he­rer Zeit und Über­zeu­gun­gen des heu­ti­gen Estab­lish­ments wie auch immer ernann­ter Kul­tur­ex­per­ten. Dabei herrscht jener aus­fil­tern­de Zeit­geist, der weni­ger an der Ver­an­schau­li­chung einer in ihrem Eigen­wert respek­tier­ten frü­he­ren Epo­che inter­es­siert ist als an aktu­el­ler lite­ra­tur­po­li­ti­scher Rendite.

Das Gan­ze kul­mi­niert in einer gut­gläu­bi­gen teleo­lo­gi­schen Betrach­tungs­wei­se. Sie begreift die jewei­li­gen Inno­va­tio­nen als schlich­te Not­wen­dig­keit und Höher­ent­wick­lung, unge­ach­tet des Umstands, daß schein­bar ver­al­te­te For­men in spä­te­ren Epo­chen immer wie­der auf­er­stan­den sind. Das glei­che gilt für sozia­le und poli­ti­sche Auf­fas­sun­gen oder Denk­sti­le, die in Fort­schritts­ka­te­go­rien zu klas­si­fi­zie­ren schlech­ter­dings Nai­vi­tät ver­rät. Denn wie vie­le Moder­ni­täts­schü­be haben uns auch immer neu­en Schre­cken und Kata­stro­phen angenähert!

Von der abs­trak­ten Erör­te­rung zum kon­kre­ten Fall: Nam­haf­te Kri­ti­ker und Ger­ma­nis­ten rie­fen 1959 zum Wun­der­jahr, zum »annus ­mira­bi­lis der deut­schen Lite­ra­tur« (Micha­el Davi­dis) aus. In ihm sei end­lich der Start­schuß für eine frucht­ba­re bel­le­tris­ti­sche Zukunft der ­Bun­des­re­pu­blik gefal­len. Man schwärm­te vom »Ereig­nis« (Rolf Becker), »Durch­bruch« (Wil­fried ­Bar­ner), »Sprung« (Heinz Lud­wig Arnold), ­»Wen­de­punkt« (Hans May­er), von einer »Wen­de« (Jörg Drews) oder »Zäsur« (Jür­gen Egyptien).

Was begrün­det sol­che Ver­zü­ckun­gen, die übri­gens, wie gewohnt, nach Jahr­zehn­ten wie­der ger­ma­nis­tisch bezwei­felt (Mat­thi­as Lorenz) und durch ande­re poli­ti­sier­te Peri­odi­sie­rungs­kli­schees abge­löst wur­den? Damals erschie­nen auf der Buch­mes­se drei Roma­ne, die man umge­hend zu Sen­sa­tio­nen hoch­schrieb: Hein­rich Bölls Bil­lard um halb zehn, Gün­ter Grass’ Die Blech­trom­mel und Uwe John­sons Mut­ma­ßun­gen über Jakob.

Was Bil­lard betrifft, habe ich selbst unter Berufs­kol­le­gen noch kei­nen getrof­fen, der das Buch zu sei­ner Lieb­lings­lek­tü­re gezählt hät­te. Böll ist ohne­hin eher durch sei­ne Kurz­ge­schich­ten oder den knap­pen Episoden­roman Wo warst du, Adam? inter­es­sant, als durch die säu­er­li­che Lita­nei eines frus­trier­ten Katho­li­ken, der die Welt danach ein­teilt, ob die Prot­ago­nis­ten vom »Sakra­ment des Büf­fels« oder des »Lam­mes« gekos­tet haben. Denn natür­lich wies die hie­si­ge Nach­kriegs­ge­sell­schaft kei­nen so radi­ka­len Wan­del auf, daß er Bölls dua­lis­ti­schen Ansprü­chen genügt hätte.

Auch kom­po­si­to­risch ­beglau­bi­gen die ein wenig ange­streng­ten per­spek­ti­vi­schen Ver­schrän­kun­gen nicht unbe­dingt jene Kri­ti­ker-Eupho­rie. Da über­zeugt mich Gerd ­Gai­sers im Jahr zuvor erschie­ne­ner Schluß­ball schon eher, obwohl er mit Bil­lard die zuwei­len lar­moy­ant-mora­lis­ti­sche Grund­hal­tung teilt. Ohne­hin nei­ge ich bei Groß­tex­ten die­ses Autors ein wenig Robert Gern­hardts Sar­kas­mus zu: »Der Böll war als Typ wirk­lich Klas­se. / Da stimm­ten Gesin­nung und Kas­se. / Er wär’ über­haupt ers­te Sah­ne, / – wären da nicht die Romane.«

Grass war als Roman­cier schon von ande­rem Kali­ber. Und daß sein unter­halt­sa­mer, mit Polit­poin­ten gespick­ter Schel­men­ro­man Die Blech­trom­mel Auf­merk­sam­keit erreg­te, ist leicht zu ver­ste­hen. Die­se Aner­ken­nung für einen baro­cken (zuwei­len auch geschwät­zi­gen) Sprach­artisten gilt unge­ach­tet der im Roman pro­pa­gier­ten Geis­tes­hal­tung, gemäß der ein Wachs­tum ver­wei­gern­der kobold­haf­ter Gnom per Trom­me­lei und Glas­sä­ge­rei sei­ne töd­li­chen Hän­del mit der Väter­ge­nera­ti­on aus­trägt. Respekt vor einem epi­schen Wurf als ästhe­ti­sches Urteil ver­bin­det sich durch­aus mit Beden­ken über man­che Skru­pel­lo­sig­keit einer zuneh­mend deso­li­da­ri­sie­ren­den Hal­tung, die nicht nur den anar­chi­schen »Hel­den« cha­rak­te­ri­siert. Schrift­stel­ler-Anti­po­den wie Fon­ta­ne oder ­Kem­pow­ski ste­hen mir nun mal näher. Außer­dem: Grass’ Avant­gar­dis­ten­rol­le und Skan­dal­wert für sexu­el­le Text­wa­re über dem Laden­tisch sind zeit­ge­nös­sisch begrenzt.

John­sons Mut­ma­ßun­gen über Jakob ist ein acht­ba­rer Roman, der sei­ner regio­na­len Klein­ma­le­rei wegen ver­ständ­li­cher­wei­se beson­ders Meck­len­bur­ger Lands­leu­te fas­zi­nier­te. Auch beschäf­tig­te das DDR-The­ma die Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on zwei­fel­los stark. Doch die Kri­ti­ker-­Elo­gen von 1959 über­schätz­ten wohl sei­nen Sta­tus im Zeit­rah­men. Und wie wenig die­ser sich Durch­schnitts­ger­ma­nis­ten mit­teil­te, ließ ein Saar­brücker Haupt­se­mi­nar bereits Ende der 1980er ahnen. Jene, die damals stu­dier­ten oder es zumin­dest behaup­te­ten, taxier­ten den Text näm­lich mehr­heit­lich als sto­isch ertra­ge­ne Bür­de. Eine inter­pre­ta­to­risch beschei­de­ne John­son-Stu­die im Semi­nar­ap­pa­rat sah bald so zer­le­sen aus wie Karl-May-Bän­de in mei­ner Jugend. Bot sie doch eine über Dut­zend Sei­ten gestreck­te Inhalts­an­ga­be, die all das kom­pli­ziert Ver­scho­be­ne in kor­rek­ter Rei­hen­fol­ge nach­er­zähl­te und so den meis­ten erst­mals die Hand­lung ver­ständ­lich mach­te. Wah­re, vom Lese­genuß getra­ge­ne Brei­ten­wir­kung jen­seits einer inno­va­ti­ons­ver­lieb­ten Kri­ti­ker­seil­schaft sieht wohl anders aus.

Kurz, zu mei­nen Favo­ri­ten zähl­ten die drei Bücher nicht, und mei­ne bel­le­tris­ti­sche Hit­pa­ra­de jener Jah­re ent­hielt ande­re Namen deut­scher Autoren wie Zuck­may­er, Bor­chert, Ber­gen­gruen, And­res, Kasack und Nossack, aber auch Enzens­ber­ger. Mich fas­zi­nier­ten Ben­ns Sta­ti­sche Gedich­te, Ernst Jün­gers Strah­lun­gen und Glä­ser­ne Bie­nen, Theo­dor Plie­viers Sta­lin­grad oder Gerd Gai­sers Gib acht in Domo­kosch, ein Pro­sa­band, der übri­gens, unbe­ach­tet von jener Kritiker­zunft, eben­falls 1959 erschien. Und hät­te ich ein »Wun­der­jahr« aus­zu­ru­fen, wähl­te ich 1951, als Ernsts Jün­gers Wald­gang, Ernst von Salo­mons Fra­ge­bo­gen und Arno Schmidts Schwar­ze Spie­gel erschie­nen. Und um das Polit­spek­trum nicht ein­zu­en­gen, zusätz­lich Wolf­gang Koep­pens Tau­ben im Gras, Ste­fan And­res’ Die Arche, Hei­mi­to von Dode­rers Die Strudl­hof­stie­ge, Gün­ter Eichs Träu­me sowie mit Kurt Kusen­bergs Son­nen­blu­men Geschich­ten mit absur­dem Touch.

Wozu die­se lese­bio­gra­phi­sche Nabel­schau? Wozu sub­jek­ti­ve Lek­tü­re­ein­drü­cke statt einer Epo­chen­bi­lanz, die im Kern von Fach­au­to­ri­tä­ten getra­gen wird? Nun, zu sol­cher schein­bar selbst­herr­li­chen Ego­zen­trik rufe ich jeden eman­zi­pier­ten Leser auf. Denn es gibt kei­ne ver­bind­li­che Lite­ra­tur­ge­schich­te, son­dern nur Lite­ra­tur­ge­schich­ten. Und ich wun­de­re mich stets aufs neue, wel­che All­ge­mein­gül­tig­keits- und Objek­ti­vi­täts­er­war­tun­gen mit sol­chen Kom­pen­di­en ver­bun­den wer­den, arg­los, wie will­kür­lich kon­stru­iert, ideo­lo­gie- und inter­es­sen­ge­steu­ert sie sich häu­fig erwei­sen. Bestä­tigt sich deren schein­ba­re Ver­bind­lich­keit doch meist nur, weil jün­ge­re For­scher statt ori­gi­nä­rer Neu­sich­tung viel­fach Text­aus­wah­len und Urtei­le schlicht über­neh­men, ver­se­hen mit dem Blend­sie­gel »Wis­sen­schaft«.

Ein König­reich also für objek­ti­ve Kri­te­ri­en – die es aber ein­fach nicht gibt: Lite­ra­ri­sche Wer­tung ist frag­los das Unwis­sen­schaft­lichs­te ­aller Phi­lo­lo­gie, sofern man mit nor­ma­ti­vem und nicht nur deskrip­ti­vem Anspruch auf­tritt. Und die Aus­wahl der für kanon­wür­dig erklär­ten Tex­te gehört zum Hei­kels­ten des Fachs. Je mehr man sich näm­lich mit Urtei­len beschäf­tigt, um so mehr zer­rin­nen einem die Maß­stä­be unter der Hand zuguns­ten der bereits den Römern bekann­ten Fest­stel­lung, über Geschmack lie­ße sich nicht strei­ten. In einer ger­ma­nis­ti­schen Lehr­ver­an­stal­tung habe ich Stu­den­ten auf­ge­for­dert, mir ein ein­zi­ges (for­ma­les oder ideel­les) Wer­tungs­kri­te­ri­um zu nen­nen, von dem sie glaub­ten, es sei über­zeit­lich fun­diert. Wir fan­den keins. Alle erwie­sen sich, durch hoch­ka­rä­ti­ge Bei­spie­le wider­legt, als tem­po­rär, situa­tiv, zeit­geist­be­dingt oder künstlerspezifisch.

Das Buch, das The­ma, den Stil oder den Geschmack gibt es nicht, und bei vie­len wirk­li­chen oder ver­meint­li­chen »Jahr­hun­dert­wer­ken« liegt deren (schein­ba­re) Grö­ße nicht zuletzt in der Über­ein­stim­mung mit dem jewei­li­gen Main­stream. Es mag Ein­zel­fäl­le geben, in denen sich Dich­ter und Wer­ke kraft ihrer alles über­ra­gen­den Sprach­kraft und (uni­ver­sel­len) Aus­strah­lung fast orga­nisch durch­set­zen. Doch von sel­te­nen Aus­nah­men abge­se­hen, gilt die Faust­for­mel, daß auch Lite­ra­tur­grö­ßen meist gemacht wer­den und ihre epo­cha­le Reprä­sen­tanz häu­fig durch lite­ra­tur­po­li­ti­sche Inter­es­sen fun­diert ist.

In genia­ler Schlicht­heit hat dies vor knapp einem Jahr­hun­dert bereits der Anglist Levin L. Schücking in sei­ner Sozio­lo­gie der lite­ra­ri­schen Geschmacks­bil­dung for­mu­liert. Die Aner­ken­nung eines Werks als Kunst sei kei­ne objek­ti­ve Wert­set­zung, son­dern ein »sozia­ler Vor­gang«, ein Kampf, »der häu­fig mit sehr mate­ri­el­len Mit­teln geführt wird«: »Die Ergeb­nis­se die­ses Kamp­fes aber […] kri­tik­los hin­zu­neh­men, ohne sich dar­um zu sche­ren, wie, durch wen und für wen sie eigent­lich erreicht wur­den, also kur­zer­hand die All­ge­mein­heit für sie ver­ant­wort­lich zu machen […], geht nicht wohl an. Im Gegen­teil kann nichts för­der­li­cher sein […] als die Ein­sicht, daß es eine Zwangs­läu­fig­keit des geis­ti­gen Gesche­hens auch hier nicht gibt, son­dern daß eben der Han­deln­de den Lauf der Din­ge bestimmt, der Pas­si­ve ihn ermög­licht. Das Kunst­le­ben ist, wie die Poli­tik, am Ende ein Rin­gen um die Mitläufer.«

Damit defi­niert sich Kunst schlicht als das, was die Geschmacks­trä­ger der jewei­li­gen Epo­che als Kunst defi­nie­ren. Eine schein­ba­re Tau­to­lo­gie, die jedoch nur auf­deckt, daß es auch im Ästhe­ti­schen letzt­lich um Macht­fra­gen geht, um das Durch­set­zen des­sen, was als schön, gut und wahr gilt respek­ti­ve gel­ten soll oder darf. Und wo ein rela­tiv unbe­strit­te­ner Kanon exis­tiert, haben ihn die­je­ni­gen errich­tet, die jeweils die kul­tu­rel­le Macht dazu besit­zen, was häu­fig mit der kom­mer­zi­el­len und poli­ti­schen zusam­men­hängt. Noch kür­zer: Die herr­schen­de Ästhe­tik ist die Ästhe­tik der Herrschenden.

Wenn heu­te Ger­ma­nis­ten also ­mehr­heit­lich über­zeugt sind, daß vor allem Grass, Böll, ­Andersch, Jens, Wal­ser, Koep­pen, Eich, Enzens­berger, Kipp­hardt, Hoch­huth, Weiss oder Sieg­fried Lenz respek­ti­ve die Ästhe­tik der »Grup­pe 47« die bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Bel­le­tris­tik der ers­ten Jahr­zehn­te reprä­sen­tie­ren, nicht aber Zeit­ge­nos­sen oder Anti­po­den wie die Brü­der Jün­ger, Ber­gen­gruen, Gai­ser, Fer­n­au, Kasack, Brit­ting, Leh­mann, Zuck­may­er, Caros­sa, Vege­sack, Salo­mon, Rein­hold Schnei­der, Eli­sa­beth Lang­gäs­ser oder Agnes Mie­gel, so ist dies – gene­ra­ti­ons­ty­pi­scher Geschmacks­wan­del unbe­nom­men – vor allem eine gewoll­te Setzung.

Denn sozio­lo­gisch ist die­se Klas­si­fi­zie­rung durch Ver­kaufs­zif­fern oder ­Lek­türe­häu­fig­kei­ten nur teil­wei­se gedeckt. Wenn Böll oder Grass zahl­rei­che Anhän­ger fan­den, galt dies eben­so für alter­na­ti­ve Namen. Laut Spie­gel-Umfra­ge gehör­ten z. B. Her­mann Hes­se, Wer­ner Ber­gen­gruen und Peter Bamm noch 1967 zu den meist­ge­le­se­nen Autoren Ber­li­ner Stu­den­ten, wobei Bamm inzwi­schen gänz­lich und Ber­gen­gruen weit­ge­hend aus dem Kanon ver­bannt wurde.

Ähn­li­ches gilt für Eugen Roth, Joa­chim Fer­n­au oder den (ins Jugend­buch-Gen­re abge­dräng­ten) Hans Bau­mann, die über Jahr­zehn­te Mil­lio­nen­auf­la­gen erziel­ten. Zuck­may­ers Des Teu­fels Gene­ral war der Thea­ter­ren­ner schlecht­hin; nur Brecht konn­te bei Büh­nen­er­fol­gen mit­hal­ten. Sein Als wär’s ein Stück von mir stand 37 Wochen auf der Spie­gel-Best­sel­ler­lis­te. Auch Wolf von ­Nie­bel­schütz’ Der blaue Kam­mer­herr ver­kauf­te sich blen­dend. ­Salo­mons Der Fra­ge­bo­gen zählt zu den erfolg­reichs­ten Neu­erschei­nun­gen der Nach­kriegs­zeit. Zwi­schen dem Votum unse­res »Experten«-Establishments und den »popu­lis­ti­schen« Leser­ent­schei­dun­gen zeigt sich also eine gewis­se Kluft, die erst durch sys­te­ma­ti­sche Bear­bei­tung des Leser­ge­schmacks seit dem Durch­marsch der 68er in den Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen zu Las­ten der Alten geschlos­sen wurde.

Zuvor stan­den sich, ide­al­ty­pisch ver­ein­facht, zwei ästhe­ti­sche Lager gegen­über. Das pro­gres­si­ve setz­te auf sozi­al­kri­ti­sches Enga­ge­ment gemäß Gün­ter Eichs Büch­nerpreis­re­de 1959: »Wenn unse­re Arbeit nicht als Kri­tik ver­stan­den wer­den kann, als Geg­ner­schaft und Wider­stand, […] schrei­ben wir umsonst, dann sind wir posi­tiv und schmü­cken das Schlacht­haus mit Gera­ni­en.« Scho­nungs­lo­ser Rea­lis­mus wur­de gefor­dert statt frei­er Phan­ta­sie. Dem »Trüm­mer­li­te­ra­ten« Wolf­gang Wey­rauch war alle Schön­heit ver­däch­tig. Um der Wahr­heit wil­len müs­se man »rönt­gen«, schrieb er 1949 in sei­ner Geschich­ten-Edi­ti­on mit dem bezeich­nen­den Titel Tau­send Gramm. Er bekämpf­te Kal­li­gra­phie als »Ver­häng­nis eines neu­en Nebels«, wor­in »die Gei­er und die Hyä­nen nis­ten«. Gan­ze Lite­ra­tur­gen­res gerie­ten unter Legi­ti­ma­ti­ons­druck. Man den­ke an Ador­nos Poe­sie-Soup­çon seit Ausch­witz oder etli­che Breit­sei­ten gegen Naturlyrik.

Kein länd­li­cher Rück­zug – Fritz Sterns Buch­ti­tel Kul­tur­pes­si­mis­mus als poli­ti­sche Gefahr wur­de zum pro­vinz- und hei­mat­kri­ti­schen Schlag­wort. Christ­li­che Erbau­ung, unpo­li­ti­sche Stoff­wahl abseits der Gegen­wart stan­den unter Gene­ral­ver­dacht, der not­wen­di­gen Selbst­rei­ni­gung aus­zu­wei­chen. Hei­ter­keit, Humor oder ande­re For­men eines lebens­be­ja­hen­den Trotz­dem wur­den als ver­häng­nis­vol­le Seda­ti­va dis­kre­di­tiert. Unter dem Slo­gan »Opas Thea­ter ist tot« beer­dig­te eine bil­der­stür­me­ri­sche Regis­seur-Avant­gar­de die bis­lang bevor­zug­te Cha­rak­ter­dra­ma­tur­gie zuguns­ten einer respekt­los-gro­tes­ken Typen- oder Doku­men­ten-Prä­sen­ta­ti­on. Ein ande­res modi­sches Dekret bezwei­fel­te die Dar­stell­bar­keit der Welt durch Geschich­ten, was im Hör­spiel­be­reich etwa einen aus­ge­wie­se­nen Kön­ner wie Fred von Hoer­schelm­ann traf.

Ganz anders sahen vie­le »Tra­di­tio­na­lis­ten« ihre Auf­ga­be. »Dich­tung ent­steht«, schrieb ­Kasack, »aus der Über­hö­hung der Wirk­lich­keit«. Statt All­tags­spra­che, Mode­jar­gon oder »dir­ty speech« bevor­zug­ten sie geho­be­ne Stil­ebenen. Anstel­le unbe­ding­ter Aktua­li­täts­be­zo­gen­heit das Kon­ti­nu­ier­li­che, ewig Gül­ti­ge (­Eli­sa­beth Lang­gäs­ser) im Kampf zwi­schen Gut und Böse, nicht (schein­bar) Sin­gu­lä­res, son­dern Über­zeit­lich-Para­bel­haf­tes im Lauf von Jahr­hun­der­ten. Mehr als zu ändern­de macht­po­li­ti­sche Struk­tu­ren galt ihnen der ein­zel­ne als zu erzie­hen­der Hoffnungsträger.

Ernst Kreu­ders Roman­held in Die Gesell­schaft vom Dach­bo­den begrün­det die Welt­mi­se­re aus Phan­ta­sie­man­gel. Er warnt vor dem »Aber­glau­ben der Auf­klä­rung« und »chi­nin­bit­te­ren Rea­lis­ten« samt ihrer »Kre­ma­to­ri­ums­mu­sik«. Wie­so »nur das Elend Wirk­lich­keit« sei, frag­te Nie­bel­schütz und pos­tu­lier­te: Wenn »die Zeit krank« sei, kön­ne »es nicht Auf­ga­be der Kunst sein, sie noch krän­ker zu machen«. Ber­gen­gruen ver­harr­te nicht im Bann des all­ge­mein beschwo­re­nen »Zivi­li­sa­ti­ons­bruchs«, son­dern hielt die Schöp­fung im Kern für unzer­stör­bar. Und And­res erklär­te, Dich­tung unter­schei­de sich von einem bloß ratio­nal geform­ten, aus »mora­li­schem, sozia­lem und poli­ti­schem Enga­ge­ment ent­stan­de­nen Werk wie etwa die ech­ten Bud­dha­sta­tu­en von den falschen«.

Bei­de Autoren­grup­pen oder Ästhe­tik­ty­pen fan­den bis in die End-60er hin­ein ihr Publi­kum. Doch auch die Buch­sze­ne neigt weni­ger zur Koexis­tenz als zum Ver­drän­gungs­wett­kampf. Um so mehr, als die­se »Markt­be­rei­ni­gung« durch eine meta­po­li­ti­sche Agen­da grun­diert war. Vor­aus­set­zung für die gewünsch­te ästhe­ti­sche Wach­ab­lö­sung waren Neu­be­set­zun­gen ein­fluß­rei­cher Rundfunk‑, Pres­se- oder Ver­lags­res­sorts, die als Bünd­nis­part­ner fürs »pro­gres­si­ve« Lager in Fra­ge kamen.

Das Ree­du­ca­ti­on-Gebot eröff­ne­te alli­ier­ten Medi­en­of­fi­zie­ren wich­ti­ge kul­tur­po­li­ti­sche Zugän­ge, beson­ders das Lizen­sie­rungs­ver­fah­ren für Zeit­schrif­ten­grün­dun­gen. Alle Besat­zungs­mäch­te spiel­ten auf die­ser Kla­via­tur. Zuwei­len finan­zier­te heim­lich sogar die CIA. Und die USA, die bereits in Gefan­ge­nen­camps Schreib­zir­kel geför­dert hat­ten, war­ben durch Amerika­häuser oder Über­see-Sti­pen­di­en. Kom­mu­nis­mus-Anhän­ger schau­ten nach Ost-Ber­lin, wo die DDR sich durch geziel­te Ein­la­dun­gen ein Image als ers­te Adres­se für Remi­gran­ten verschaffte.

Wei­te­re Impul­se gin­gen von der Frank­fur­ter Schu­le aus. Der Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land tat ein übri­ges. Finan­zi­el­le Unter­stüt­zung bot die Infra­struk­tur der EKD, deren jün­ge­re Ver­tre­ter bald ein­schlä­gig Par­tei nah­men. Den Links­kurs unter­füt­ter­ten Gewerk­schaf­ten und SPD, die sich inten­siv um schrift­stel­le­ri­sches Enga­ge­ment in ihrem Sin­ne bemüh­ten. Nach­rü­cken­de Hoch­schul­ger­ma­nis­ten stütz­ten schon vor der Stu­den­ten­re­vol­te neue Lite­ra­tur­trends, auch Lehr­plan­ma­cher in Minis­te­ri­en, exem­pla­risch Reform­päd­ago­gen der Hes­si­schen Rah­men­richt­li­ni­en. Der mäch­ti­ge Ein­fluß der »Grup­pe 47« ist bekannt. Von die­ser Basis her gelang es zuneh­mend, die favo­ri­sier­ten Lite­ra­tur­maß­stä­be durch­zu­set­zen und Alter­na­ti­ven als rück­stän­dig oder ewig­gest­rig zu diskreditieren.

Das geschah plan­mä­ßig in Preis­ko­mi­tees, durch Kri­ti­ker­al­li­an­zen oder lite­ra­tur­kri­ti­sche »Mus­ter­pro­zes­se« gegen frü­he­re Grö­ßen, am liebs­ten gespickt mit per­sön­li­chen ver­gan­gen­heits­be­zo­ge­nen Angrif­fen. In sol­chem Kon­text steht die Aus­ru­fung des »Wun­der­jahrs 1959«, aus dem bezeich­nen­der­wei­se auch Eichs ­obi­ges State­ment stammt. Alle drei Roma­ne wei­sen »moder­ne« Erzähl­mit­tel auf: kom­po­si­to­ri­sche Vor- und Rück­grif­fe, mul­ti­per­spek­ti­vi­sche Dar­stel­lung oder Über­schrei­tung kon­ven­tio­nel­ler Erzähl­gat­tung. Doch for­ma­le Novi­tä­ten allein begrün­den höchst sel­ten die Auf­nah­me in eine Epo­chen­aus­wahl. Was wirk­lich zählt, sind (poli­ti­sche) Botschaften.

Bei John­son, der Wert dar­auf leg­te, ­sei­nen neu­en Auf­ent­halts­ort in West-Ber­lin nur als »Woh­nungs­wech­sel« zu bezeich­nen, mag die zurück­hal­ten­de Art eine Rol­le gespielt haben, den deutsch-deut­schen Kon­flikt zu gestal­ten. Das hob ihn für hie­si­ge Salon­so­zia­lis­ten ­wohl­tu­end von »Kal­ten Krie­gern« ab, die zu schär­fe­rer DDR-Schel­te neig­ten. Bei Böll und Grass gefie­len frag­los die ätzen­den, teils kari­kie­ren­den Aus­las­sun­gen über eine angeb­lich unbe­lehr­te Ade­nau­er-Gesell­schaft, vor deren fata­len geis­ti­gen und per­so­nel­len Alt­las­ten nach­drück­lich gewarnt wer­den müsse.

Der selbst­ge­recht-unver­söhn­li­che Ansatz sol­cher Zeit­dia­gno­se, prä­sen­tiert als höhe­re Sen­si­bi­li­tät eines Opfer­ge­den­kens, bil­det ja bis heu­te den wer­tungs­mä­ßi­gen Boden­satz angeb­lich alter­na­tiv­lo­ser »Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung«. Nur so reift man hier­zu­lan­de zur »mora­li­schen Instanz« und zur Leit­fi­gur unse­res Lite­ra­tur­ka­nons. Dazu nächs­tens mehr.

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Kommentare (1)

Nordlicht

23. Dezember 2022 16:29

Uwe Johnsons Jahrestage sind dem Autoren dieser Schau wohl entgangen. -

Wenn man schon von begrenzten Umfeld spricht, dann gilt das mE eher für Arno Schmidt. Damit meine ich nicht die Geografie, er ist immerhin zwischen Mannheim, Walsrode und Bargfeld weit herumgekommen, was sich in den Büchern niederschlägt, Ich meine seine frustrierte Ablehnung der Welt ausserhalb alter Bücher.

(Auch wenn es nicht so kling, ich bin immer noch AS-Fan. Uwe Johnson konnte aber wirklich Romane schreiben, AS nicht.)