Uwe Wolff: Der vierte König lebt!

von Jörg Seidel --

Gesamtauflage sechs Millionen und heute dennoch nahezu unbekannt – wie ist das möglich?

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Dies ist nur eine von vie­len Fra­gen, denen Uwe Wolff in sei­ner bedeu­ten­den Edzard-Scha­per-Bio­gra­phie nach­geht. Bedeu­tend ist sie nicht nur für Wolff, den Ange­lo­lo­gen, den Schü­ler Blumen­bergs, den Autor bei Tumult, Tages­post und NZZ, der in Scha­per eine ver­wand­te See­le mit ähn­li­chen inne­ren Wand­lun­gen ent­deckt – bedeu­tend ist sie vor allem, weil sie zum einen genui­ne Archi­v­ar­chäo­lo­gie betreibt und sel­te­ne Fun­de her­vor­bringt und zum ande­ren in eine aus deut­scher Sicht wenig beach­te­te his­to­ri­sche Kom­ple­xi­tät ein­führt: in das gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Leben des Bal­ti­kums und Skan­di­na­vi­ens, das vom deut­schen Schick­sal nicht zu tren­nen ist.

Denn Scha­per (1908 – 1984) war ein wesen­haft Hei­mat­lo­ser auf der dau­ern­den Suche nach Hei­mat, die er – im »Bann­strahl des Nord­os­tens« – in Est­land und in Finn­land gefun­den zu haben glaub­te; Polen, Schwe­den, Däne­mark als wei­te­re Lebens­sta­tio­nen, um schließ­lich sei­ne letz­ten Jahr­zehn­te in der Schweiz zu ver­le­ben. Immer in Bewe­gung, immer an den Gren­zen, innen und außen. Das schafft sel­te­ne Erfah­run­gen und Lei­den und davon zeu­gen sei­ne bes­ten Bücher, Die ster­ben­de Kir­che, Der Hen­ker und Die Frei­heit des Gefan­ge­nen. ­

Scha­per bezahl­te dafür – sein pri­va­tes Leben in das gro­ße his­to­ri­sche so inten­siv ein­zu­we­ben – einen hohen Preis. Poli­tisch etwa arbei­te­te er in »reich­lich zwie­lich­ti­ger Zeit« – ohne­hin eine unste­te und über­spann­te, mit­un­ter auch aben­teu­er­li­che Natur – wäh­rend der zwölf Jah­re auch als Agent für und gegen sein Hei­mat­land, geriet so ins Visier ver­schie­dens­ter Geheim­diens­te in Sowjet­ruß­land, Deutsch­land, Schwe­den und leb­te jah­re­lang unter dem Damo­kles­schwert der Aus­lie­fe­rung und der Denunziation.

Das rui­nier­te sei­ne Gesund­heit, gab ihm aber auch den Stoff, die exis­ten­ti­el­len Grenz­erfahrungen, um die es sich in fast allen sei­nen Wer­ken han­delt, nach­zu­er­le­ben und zu gestal­ten. Sie sind oft an tat­säch­li­chen Über­gän­gen ange­sie­delt, dort, wo die Kon­tras­te sich absto­ßen und zugleich annä­hern, wo Ver­mi­schun­gen zwangs­läu­fig Viel­falt her­vor­brin­gen in Spra­che, Kul­tur, Reli­gi­on. Wolffs vor allem im Mit­tel­teil enorm fak­ten­rei­che und pral­le Bio­gra­phie läßt den Leser haut­nah an die­sen Zer­reiß­pro­ben teilnehmen.

Sie ist zudem mit zahl­rei­chen Schick­sa­len und Geschich­ten gesät­tigt, die wie ein kolos­sa­les Puz­zle einen Ein­druck der Geschich­te geben. Sich vor­zu­stel­len, daß der Bio­graph die unglaub­li­che Fül­le des Mate­ri­als in jah­re­lan­ger Arbeit aus ver­bor­ge­nen Archi­ven, Privatkorres­pondenzen und Geheimdienst­akten in ganz Eu­ropa und aus vie­len Spra­chen her­aus­fil­ter­te – denn eine nen­nens­wer­te Scha­per-­Bio­gra­phik gab es bis dato nicht –, das nötigt höchs­ten Respekt ab. Tat­säch­lich kann man von einer wis­sen­schaft­li­chen oder pha­sen­wei­se auch Akten­bio­gra­phie spre­chen, die dem Leser Kon­zen­tra­ti­on abver­langt. Die­se Lini­en auch nur andeu­tend zu bespre­chen wür­de den Rah­men einer Rezen­si­on hoff­nungs­los sprengen.

In den Lexi­ka fin­det man Scha­per meist als »katho­li­schen Autor« ver­zeich­net, was nicht falsch aber doch eine Ver­kür­zung ist. Sei­ne Leis­tun­gen als Über­set­zer aus allen skan­di­na­vi­schen Spra­chen sind ein­drucks­voll. Auch spi­ri­tu­ell war Scha­per ein Suchen­der, der zwar zum Lebens­en­de zum Katho­li­zis­mus fand, des­sen reli­giö­se Spann­wei­te aber das Pro­tes­tan­ti­sche und das Ortho­do­xe ein­faßt – er mein­te, man müs­se katho­lisch wer­den, um evan­ge­lisch sein zu können.

Wolff macht letzt­lich den Zen­tral­be­griff des »Ver­häng­nis­ses«, der in der Zeit des Wirt­schafts­wun­ders nicht mehr ver­mit­tel­bar gewe­sen sei, oder die Fokus­sie­rung auf Schuld und Erlö­sung sowie unzeit­ge­mä­ße The­men wie »die Lüge als Mar­ty­ri­um« für den rasan­ten Bekannt­heits­ver­lust ­Scha­pers ver­ant­wort­lich. Zwar erschie­nen noch immer sei­ne Wer­ke, aber sie spiel­ten in der Öffent­lich­keit kei­ne Rol­le mehr. Scha­per selbst emp­fand sich geis­tig und sti­lis­tisch als Autor »des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts«, mit »einem Wider­wil­len gegen unse­re Gegen­wart und ihre win­di­gen ›Avant­gar­dis­te­lei­en‹«.

Wolffs Pro­gno­se, daß Scha­pers Zeit wohl erst noch anbre­che, ist viel­leicht zu opti­mis­tisch, auch wenn sich Werk und Bio­gra­phie vor dem Hin­ter­grund des Krie­ges im Osten mit­un­ter bedrü­ckend aktu­ell lesen. Er selbst hat mit die­sem auch optisch schö­nen Buch alles dafür getan, was man tun kann, und Scha­per als ernst­haf­te Lek­tü­re, qua­si als Neu­ent­de­ckung, empfohlen.

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Uwe Wolff: Der vier­te König lebt! Edzard ­Scha­per – Dich­ter des 20. Jahrhunderts,
Müns­ter: Aschen­dorff Ver­lag 2021. 386 S., 29,80 €

 

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