Unter den Kennzeichen, die die geistige Befindlichkeit unserer Zeit in besonderer Weise prägen, kommt der Wissenschaftsgläubigkeit eine herausgehobene Rolle zu. Dieser Begriff, eigentlich eine contradictio in adiecto, symbolisiert wie kaum etwas anderes das von Machbarkeitswahnvorstellungen durchdrungene Bewußtsein des modernen Menschen, alles und jedes mit der Ratio erfassen, zerlegen und neu figurieren zu können.
Weite Bereiche der Welt, in der wir leben, werden von einem solchen Kältestrom des Intellektualismus durchzogen. Nicht nur die naturwissenschaftliche Trial-and-Error-Methode, sondern auch die heutige geisteswissenschaftliche Entschleierungstechnik gegenüber den letzten Arkana tritt mit einem bemerkenswerten Herrschaftsanspruch auf: Andersgestrickte Anschauungen und Lebensentwürfe, die sich diesem Zugriff blinder Erkenntnissezierung widersetzen und die sich auf alte metaphysische Wurzeln des Homo sapiens berufen, stoßen bestenfalls auf Unverständnis, häufig werden sie von einer meutehaft strukturierten öffentlichen Meinung dem wachsenden Ghetto esoterischer Abseitspositionen zugeschlagen.
Solch arrogante Blicke, die von den Elfenbein- und Fernsehtürmen herab auf eine scheinbar rückständige Evolutionsstufe des vorrationalistischen Zeitalters fallen, müssen als erstaunlich erachtet werden. Denn die Krise in Permanenz, die die westliche Zivilisation spätestens seit der nachkantianischen Epoche erfaßt hat, hat Ursachen, die nicht mit einem Mangel an Wissenschaftlichkeit erklärt werden können.
Ganz im Gegenteil besteht ein essentielles Erbteil der Aufklärung gerade in einer fatalen Zerstörung des transzendentalen Überbaus des Individuums. Die entfesselte Erkenntnisgier, vor deren vertrockneten Augen – nach einem treffenden Bild von Friedrich Nietzsche – jeder Vogel entfedert erscheint, (1) hat zwar unsere analytische Potenz ins Uferlose gesteigert. Der Preis für diese wissenschaftliche Kolonialisierung sämtlicher Bewußtseinssphären war und ist aber ein gewaltiger: Die von Geheimnissen umwobene Hülle um den Kern des Lebens, ohne die der Mensch seelisch verdorrt, hat tiefgreifende Risse erfahren. Dahinter wird ein seelisches Ozonloch monströsen Ausmaßes erkennbar, in dem sich die wahre Tragödie der Moderne widerspiegelt.
Alle aufbauenden Elemente menschlicher Existenz, alle wahre Humanität, fußen nämlich auf einem gemeinschaftsstiftenden und ‑erhaltenden Mythos, dessen Zauber und Kraft darin bestehen, daß er sich jenem entfedernden Röntgenblick einer schrankenlosen Expertokratie ab origine entzieht. Das Glück des Menschen, seine Erfüllung im anderen und für andere, beruht eben nicht zuletzt darauf, daß wir vieles nicht wissen wollen und nicht wissen müssen.
Wer alles und jedes verstehen will, wer die Rätsel des Lebens allein über den Leisten seiner Vernunftkräfte schlagen will, verliert nicht selten geistig und seelisch jeglichen Halt. Wer nur noch weiß und nicht mehr glaubt, wer nur noch denkt und nicht mehr (er)lebt, wer die Taue zu unserem übersinnlichen Erbe gekappt hat, neigt zu Maßlosigkeit und Selbstüberschätzung. Goethes Satz, wonach alles Handeln nur gelinge im Umschleiertsein von Illusionen, behält auch und gerade in diesem Zusammenhang seine tiefe Weisheit.
Was dem in den modernen Lebensstil verliebten »Homo faber« zuallererst fehlt, ist ein Verständnis für die stillen Prozesse bewußtloser Entwicklung im menschlichen Miteinander, ein Gespür für das, was Arnold Gehlen als »Wahrheit des Irrationalen« (2) bezeichnet hat. Und diese seelische Mittellosigkeit ist eine der wesentlichen Ursachen für die innere Unzufriedenheit vieler Zeitgenossen.
Wer will, mag zur Überprüfung dieses Befundes den phänotypischen Umkehrschluß vollziehen: Läßt man die zerknitterten Gesichtszüge vieler verkopfter Mitmenschen und ihre »Seelenlage informierter Unzufriedenheit« (3) auf sich wirken und vergleicht man sie mit dem fröhlichen Kinderlachen in einem Naturvolk, bekommt man eine Ahnung davon, wie viele zwischenmenschliche Disharmonien, wieviel unsägliches Unglück »die Spinne Skepsis« (4) heraufbeschworen hat. Die stille Sehnsucht, die den Feinnervigen ergreift, wenn er eine gotische Kirche betritt, wenn er einem walisischen Chor zuhört, gibt eine Vorstellung von dem, was der »Curare-Pfeil der Erkenntniss« (5) in uns angerichtet hat. Ohne einen solchen seelischen Phantomschmerz, ohne eine Empfindung dafür, daß wir die rationalistisch-individualistischen Holzwege der Neuzeit verlassen müssen, wird es kaum gehen, wenn wir – jenseits des Massen- und Maskeneremitentums der digital new world – eine Zukunft haben wollen.
Der Glaube an den absoluten Geltungsanspruch vermeintlich objektiver Erkenntnisse ist ein tragischer Irrtum, der die Menschheit seit dem Ausgang des Mittelalters verfolgt. Er hat jenen ständig reflektierenden, seelisch gebrochenen Menschen hervorgebracht, der die Liebe zur Natur ebenso verloren hat wie den Charme unbefangener Herzlichkeit gegenüber anderen. Auf diese Weise ist eine seelenkahle Welt entstanden, in der ein wachsender Teil der materialistisch eingenordeten Menschheit von einer tiefen inneren Traurigkeit erfaßt wird. Denn die seelische Leere läßt sich vom Flimmern der Bildschirme und von den Trivialitäten der »Schönen Tag noch«-Konsumspaßmaschine nicht vertreiben. Tatsächlich verkörpern Ruhelosigkeit und Unempfindlichkeit für alles Stille wie kaum etwas anderes die digitale Epoche.
Das leise Säuseln des Windes auf einem Berggipfel, das gleichmäßige Rauschen der Meereswogen, der Gesang der Vögel im Morgengrauen – solch beglückende Momente wahrzunehmen hat der Gehirnmensch unserer Tage häufig verlernt. Er lebt in einer entweihten, allem Heiligen feindlich gesinnten Welt, in der eine wildgewordene Endloskommunikation die Seele zerfrißt. Wer aber das Seelenhafte einer Landschaft nicht (mehr) empfindet, weil dies mit dem rationalistischen Besteck aus dem Werkzeugkasten der Wissenschaft nicht zu begreifen ist, der findet auch nichts dabei, mit seiner »götterlosen Willensvernunft« (6) ganze Landstriche in ihrer inneren Ästhetik und Harmonie zum Beispiel durch tosende, des Nachts blinkende und Vögel und Fledermäuse zerschreddernde Windkraftindustrieanlagen zu zerstören.
In einer solcherart »entheimateten Welt« (7) finden wir trunkene Selbstvergessenheit und inneren Seelenfrieden selbst bei spielenden Kindern immer weniger. Gerade die Jüngsten sollen ja – am besten schon mit Japanisch-Kursen für Dreieinhalbjährige im Kindergarten! – so früh wie möglich ihres sensitiven Wahrnehmungsvermögens entwöhnt und den rationalistischen Hamsterrädern der Moderne zugeführt werden.
Die Seele des Menschen erfährt bei diesen Dressierübungen, bei diesem Nützlichkeitsterror, nicht selten irreparable Verletzungen. Der verzweckten Welt, die den Tunnelblick der industrialisierten Nach-Goetheschen Ära hervorgebracht hat, folgt im 21. Jahrhundert ein ebenso seelenfremder, alles verschlingender Algorithmenkosmos, in dem das zu verschwinden droht, was den Menschen im Innersten ausmacht. Dieser wahrhaft tragische Zerfall des menschlichen Individuums als »animal metaphysicum« (Arthur Schopenhauer) hat den Sinn für alles Überzeitliche abgetötet und die Bahn frei gemacht für eine Verrohung ohnegleichen, für eine »Ich-Libido«, (8) die sich allen Gemeinschaftszusammenhängen menschlicher Kultur entzieht und einem hemmungslosen Narzißmus frönt. Von den vielen Unarten des modernen Zeitgenossen ist vielleicht dieses unablässige Drehen um die eigene Ego-Achse das, was am meisten schaudern macht. Ich-Verliebtheit und Gefühllosigkeit sind dabei – ebenso wie Bindungsunfähigkeit und eine peinliche Selbstbespiegelung – nur zwei Seiten derselben Medaille.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg beklagte der Philosoph Emil Hammacher »die räsonnierende Kultur der großstädtischen Talmigefühle […], die Zeit, in der mit dem Unglauben der Aberglaube steigt, eine allgemeine Aufgeregtheit bemächtigt sich der Menschen, die nun in der ›gebildeten Gesellschaft‹ […] ständig von Kultur reden, während das einzige Ergebnis ist, daß das in jedem Menschen schlummernde Tier, die Erotik, die Eitelkeit und der gesellschaftliche Ehrgeiz geweckt werden«. (9)
Die fortschreitende, seelische Entkernung, die die »Barbarei der Reflexion« (Giambattista Vico) gezeitigt hat, wird nicht zuletzt in einer ziellosen Fülle unbändiger, im Ergebnis ins Nichts gerichteter Willensakte der technischen Moderne deutlich. Wer nach den wahren metaphysischen Ursachen der ökologischen Krise sucht, wird hier fündig: Ein im Innern von Fäulnis gekennzeichneter Prozeß der Entseelung – so notierte Ludwig Klages 1926 in seinem kongenialen Nietzsche-Buch – »kehrt sich nach außen als rasend um sich greifender Mord. Das Ende ist unabweisbarer Untergang; aber niemand vermag zu sagen, wie lange die willensgeheizte Larve des Leibes ihr scheinlebendig lebenfressendes Dasein am Blute aller ›letzten Mohikaner‹ der Menschheit, Tierheit und Pflanzenheit [weiterfriste], bevor sie selber verendet«. (10)
Die Sphären von Leben und Seele sind eben von denjenigen des Verstandes und des Willens grundsätzlich geschieden. Und die seltsame Überheblichkeit des neuzeitlichen Wissenschaftsapparats gegenüber den heiligen Riten der Naturvölker entspringt vielleicht mehr einer eigenen Unsicherheit als einem in sich ruhenden, echten Überlegenheitsgefühl. Die Entfremdung des neuzeitlichen Individuums von allem, was ein Menschenleben innerlich erfüllen kann, hat sich jedenfalls ein Jahrhundert später ins Unendliche gesteigert. Sinnlos hintereinander abgespulte Konsumakte, penetrant aufgezwungene Bilderfluten und unheimlich anmutende Akustikmüllberge werden überwölbt von einem abgehobenen Rationalismus, der die Geheimnisse des Lebens entweiht.
Die seelische Bitternis, die das seit 250 Jahren ratternde Ratio-Räderwerk hinterlassen hat, geht dabei auf einen kardinalen Webfehler des Rationalismus zurück: Er verkennt die wahre Natur des Menschen, jene mystisch-dunkle »Rückseite des Spiegels«, von der Konrad Lorenz gesprochen hatte. Diese spiegelt selbst nicht, ihr physiologischer Sinnesreichtum eröffnet aber dem in sich ruhenden Menschen eine Welt, mit der er in Einklang leben kann, weil er von den Quellen des Lebens nicht abgeschnitten wird.
Es gehört zu den Glanzleistungen des deutschen Idealismus, »die Welt von der Seele des Menschen her zu begreifen« (Johann Gottfried Herder) und den Irrtum Descartes’ überwunden zu haben, daß das Psychische nur in Bewußtsein bestehe. Tatsächlich hat nichts mehr die emotionale Atmosphäre unseres Daseins abkühlen lassen als die Omnipräsenz einer allein rational gepolten, bewußtseinsbesessenen Klugheit, die vergessen hat, was eine wesenhaft geerdete Weisheit – vor allem, aber nicht nur: in Asien – schon immer auszeichnete:
All unser redlichstes Bemühn
Glückt nur im unbewußten Momente.
Wie möchte denn die Rose blühn,
Wenn sie der Sonne Herrlichkeit erkennte.
(Goethe)
Der Glaube an die Allmacht der Ratio ist eine fatale Illusion; und die Mythisierungen der Moderne entspringen der Sehnsucht des Menschen »nach einem irrational, unverrückbar geltenden Lebensgrunde«, (11) nach einem die Überintellektualisierung abstreifenden Leben in psychophysischem Einklang mit der äußeren Welt. Bei diesem Bestreben, »aus dem Gefängnis des Bewußtseins herauszukommen«, (12) geht es nicht um die Rückkehr in ein verlorenes romantisches Paradies, und es geht auch nicht um die lebensfremde Vorstellung, der Mensch könne ohne seine technischen Fähigkeiten überleben. Es geht vielmehr darum, zu begreifen, worauf die Diagnose von dem »Bewußtsein als Verhängnis« (Alfred Seidel) beruht.
Dieses Bewußtsein ist ein rationalistisches Werkzeug, mit dem man an Begriffsschrauben drehen kann; die eigentliche Substanz des Lebens geht aber verloren, wenn man nicht mehr spürt, daß sich der seelische Reichtum des Menschen erst hinter dieser Begriffsfassade eröffnet: »Der wissende Mensch ist dumm durch Wissenschaft. Sein Wirklichkeits- oder Wahrheitswissen hängt wie ein Schleier vor seinem Leben […]. So hält die Sonne am Tag alle Sternenwelten überdeckt«. (13)
Nicht zuletzt das Aufkommen aberwitziger Ersatzreligionen (»Klimarettung«, »Gender«-Durchpeitschung, »Rassismus«-Bekämpfung, Virusendbesiegung etc.) und die seltsame Lust vieler Zeitgenossen auf »spirituelle Knechtschaft in politischer Freiheit« (14) sollten als Flammenzeichen an der Wand begriffen werden, wohin eine Gesellschaft abzudriften droht, die nur mit rationalistisch unterfütterten Welterklärungsmodellen arbeitet und die ohne jeden mystischen Kompaß orientierungslos durch eine wachsende seelische Sahara zieht.
Ob eine sich möglicherweise heranbildende neue Mystik (etymologisch: »das augenschließende Anschauen« bzw. im übertragenen Sinn: »Erfahrung des Göttlichen«) überhaupt religiös gefärbt sein oder andere metaphysische Inhalte haben wird, wissen wir nicht. Angesichts der ätzenden Zerstörungsgewalt eines entgrenzten Relativismus erscheint das aber fast zweitrangig. Wesentlich ist, daß die seelisch Obdachlosen der Gegenwart wieder ein Dach über den Kopf bekommen, dem sie – jenseits der Vermessenheit unserer Tage – mit Ehrfurcht und Demut begegnen können. Solche ganz aus der Zeit gefallenen Begriffe könnten zu neuem Leben erwachen, wenn der Tag kommt, an dem die Welt von heute, der sprichwörtlich nichts mehr heilig ist, die Welt von gestern geworden sein wird.
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(1) – Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, KSA Bd. 4, S. 361.
(2) – Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (GA III/1), Frankfurt a. M. 1993, S. 355.
(3) – Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956, S. 97.
(4) – Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin ²1919, S. 54.
(5) – Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, KSA Bd. 8, S. 506.
(6) – Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele (1929 – 32), Bonn 1972, S. 1265.
(7) – Frank Lisson: Mythos Mensch. Eine Anthropodizee, Lüdinghausen / Berlin 2020, S. 76.
(8) – Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale, Berlin 2019, S. 15.
(9) – Emil Hammacher: Hauptfragen der modernen Kultur, Berlin 1914, S. 113.
(10) – Ludwig Klages: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Leipzig 1926, S. 146.
(11) – Erich von Kahler: »Das Fortleben des Mythos« (1945), in: ders.: Die Verantwortung des Geistes, Frankfurt a. M. 1952, S. 210.
(12) – Martin Heidegger: Seminare (HGA, Band 15), Frankfurt a. M. ²2005, S. 293.
(13) – Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1919), München 1983, S. 77.
(14) – Norbert Bolz: Diskurs über die Ungleichheit, München 2009, S. 27.