Der entfederte Vogel

von Thor v. Waldstein -- PDF der Druckfassung aus Sezession 108/ Juni 2022

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Unter den Kenn­zei­chen, die die geis­ti­ge Befind­lich­keit unse­rer Zeit in beson­de­rer Wei­se prä­gen, kommt der Wis­sen­schafts­gläu­big­keit eine her­aus­ge­ho­be­ne Rol­le zu. Die­ser Begriff, eigent­lich eine con­tra­dic­tio in adiec­to, sym­bo­li­siert wie kaum etwas ande­res das von Mach­bar­keits­wahn­vor­stel­lun­gen durch­drun­ge­ne Bewußt­sein des moder­nen Men­schen, alles und jedes mit der Ratio erfas­sen, zer­le­gen und neu figu­rie­ren zu können.

Wei­te Berei­che der Welt, in der wir leben, wer­den von einem sol­chen Käl­te­strom des Intel­lek­tua­lis­mus durch­zo­gen. Nicht nur die natur­wis­sen­schaft­li­che Tri­al-and-Error-Metho­de, son­dern auch die heu­ti­ge geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Ent­schleie­rungs­tech­nik gegen­über den letz­ten Arka­na tritt mit einem bemer­kens­wer­ten Herr­schafts­an­spruch auf: Anders­ge­strick­te Anschau­un­gen und Lebens­ent­wür­fe, die sich die­sem Zugriff blin­der Erkennt­nis­se­zie­rung wider­set­zen und die sich auf alte meta­phy­si­sche Wur­zeln des Homo sapi­ens beru­fen, sto­ßen bes­ten­falls auf Unver­ständ­nis, häu­fig wer­den sie von einer meu­te­haft struk­tu­rier­ten öffent­li­chen Mei­nung dem wach­sen­den Ghet­to eso­te­ri­scher Abseits­po­si­tio­nen zugeschlagen.

Solch arro­gan­te Bli­cke, die von den Elfen­bein- und Fern­seh­tür­men her­ab auf eine schein­bar rück­stän­di­ge Evo­lu­ti­ons­stu­fe des vor­ra­tio­na­lis­ti­schen Zeit­al­ters fal­len, müs­sen als erstaun­lich erach­tet wer­den. Denn die Kri­se in Per­ma­nenz, die die west­li­che Zivi­li­sa­ti­on spä­tes­tens seit der nach­kan­ti­a­ni­schen Epo­che erfaßt hat, hat Ursa­chen, die nicht mit einem Man­gel an Wis­sen­schaft­lich­keit erklärt wer­den können.

Ganz im Gegen­teil besteht ein essen­ti­el­les Erb­teil der Auf­klä­rung gera­de in einer fata­len Zer­stö­rung des tran­szen­den­ta­len Über­baus des Indi­vi­du­ums. Die ent­fes­sel­te Erkennt­nis­gier, vor deren ver­trock­ne­ten Augen – nach einem tref­fen­den Bild von Fried­rich Nietz­sche – jeder Vogel ent­fe­dert erscheint, (1) hat zwar unse­re ana­ly­ti­sche Potenz ins Ufer­lo­se gestei­gert. Der Preis für die­se wis­sen­schaft­li­che Kolo­nia­li­sie­rung sämt­li­cher Bewußt­seins­sphä­ren war und ist aber ein gewal­ti­ger: Die von Geheim­nis­sen umwo­be­ne Hül­le um den Kern des Lebens, ohne die der Mensch see­lisch ver­dorrt, hat tief­grei­fen­de Ris­se erfah­ren. Dahin­ter wird ein see­li­sches Ozon­loch mons­trö­sen Aus­ma­ßes erkenn­bar, in dem sich die wah­re Tra­gö­die der Moder­ne widerspiegelt.

Alle auf­bau­en­den Ele­men­te mensch­li­cher Exis­tenz, alle wah­re Huma­ni­tät, fußen näm­lich auf einem gemein­schafts­stif­ten­den und ‑erhal­ten­den Mythos, des­sen Zau­ber und Kraft dar­in bestehen, daß er sich jenem ent­fe­dern­den Rönt­gen­blick einer schran­ken­lo­sen Exper­to­kra­tie ab ori­gi­ne ent­zieht. Das Glück des Men­schen, sei­ne Erfül­lung im ande­ren und für ande­re, beruht eben nicht zuletzt dar­auf, daß wir vie­les nicht wis­sen wol­len und nicht wis­sen müssen.

Wer alles und jedes ver­ste­hen will, wer die Rät­sel des Lebens allein über den Leis­ten sei­ner Ver­nunft­kräf­te schla­gen will, ver­liert nicht sel­ten geis­tig und see­lisch jeg­li­chen Halt. Wer nur noch weiß und nicht mehr glaubt, wer nur noch denkt und nicht mehr (er)lebt, wer die Taue zu unse­rem über­sinn­li­chen Erbe gekappt hat, neigt zu Maß­lo­sig­keit und Selbst­über­schät­zung. Goe­thes Satz, wonach alles Han­deln nur gelin­ge im Umschlei­ert­sein von Illu­sio­nen, behält auch und gera­de in die­sem Zusam­men­hang sei­ne tie­fe Weisheit.

Was dem in den moder­nen Lebens­stil ver­lieb­ten »Homo faber« zual­ler­erst fehlt, ist ein Ver­ständ­nis für die stil­len Pro­zes­se bewußt­lo­ser Ent­wick­lung im mensch­li­chen Mit­ein­an­der, ein Gespür für das, was Arnold Geh­len als »Wahr­heit des Irra­tio­na­len« (2) bezeich­net hat. Und die­se see­li­sche Mit­tel­lo­sig­keit ist eine der wesent­li­chen Ursa­chen für die inne­re Unzu­frie­den­heit vie­ler Zeitgenossen.

Wer will, mag zur Über­prü­fung die­ses Befun­des den phä­no­ty­pi­schen Umkehr­schluß voll­zie­hen: Läßt man die zer­knit­ter­ten Gesichts­zü­ge vie­ler ver­kopf­ter Mit­men­schen und ihre »See­len­la­ge infor­mier­ter Unzu­frie­den­heit« (3) auf sich wir­ken und ver­gleicht man sie mit dem fröh­li­chen Kin­der­la­chen in einem Natur­volk, bekommt man eine Ahnung davon, wie vie­le zwi­schen­mensch­li­che Dis­har­mo­nien, wie­viel unsäg­li­ches Unglück »die Spin­ne Skep­sis« (4) her­auf­be­schwo­ren hat. Die stil­le Sehn­sucht, die den Fein­ner­vi­gen ergreift, wenn er eine goti­sche Kir­che betritt, wenn er einem wali­si­schen Chor zuhört, gibt eine Vor­stel­lung von dem, was der »Cura­re-Pfeil der Erkennt­niss« (5) in uns ange­rich­tet hat. Ohne einen sol­chen see­li­schen Phan­tom­schmerz, ohne eine Emp­fin­dung dafür, daß wir die ratio­na­lis­tisch-indi­vi­dua­lis­ti­schen Holz­we­ge der Neu­zeit ver­las­sen müs­sen, wird es kaum gehen, wenn wir – jen­seits des Mas­sen- und Mas­ken­e­re­mi­ten­tums der digi­tal new world – eine Zukunft haben wollen.

Der Glau­be an den abso­lu­ten Gel­tungs­an­spruch ver­meint­lich objek­ti­ver Erkennt­nis­se ist ein tra­gi­scher Irr­tum, der die Mensch­heit seit dem Aus­gang des Mit­tel­al­ters ver­folgt. Er hat jenen stän­dig reflek­tie­ren­den, see­lisch gebro­che­nen Men­schen her­vor­ge­bracht, der die Lie­be zur Natur eben­so ver­lo­ren hat wie den Charme unbe­fan­ge­ner Herz­lich­keit gegen­über ande­ren. Auf die­se Wei­se ist eine see­lenkah­le Welt ent­stan­den, in der ein wach­sen­der Teil der mate­ria­lis­tisch ein­gen­or­de­ten Mensch­heit von einer tie­fen inne­ren Trau­rig­keit erfaßt wird. Denn die see­li­sche Lee­re läßt sich vom Flim­mern der Bild­schir­me und von den Tri­via­li­tä­ten der »Schö­nen Tag noch«-Konsumspaßmaschine nicht ver­trei­ben. Tat­säch­lich ver­kör­pern Ruhe­losigkeit und Unemp­find­lich­keit für alles Stil­le wie kaum etwas ande­res die digi­ta­le Epoche.

Das lei­se Säu­seln des Win­des auf einem Berg­gip­fel, das gleich­mä­ßi­ge Rau­schen der Mee­res­wo­gen, der Gesang der Vögel im Mor­gen­grau­en – solch beglü­cken­de Momen­te wahr­zu­neh­men hat der Gehirn­mensch unse­rer Tage häu­fig ver­lernt. Er lebt in einer ent­weih­ten, allem Hei­li­gen feind­lich gesinn­ten Welt, in der eine wild­ge­wor­de­ne End­los­kom­mu­ni­ka­ti­on die See­le zer­frißt. Wer aber das See­len­haf­te einer Land­schaft nicht (mehr) emp­fin­det, weil dies mit dem ratio­na­lis­ti­schen Besteck aus dem Werk­zeug­kas­ten der Wis­sen­schaft nicht zu begrei­fen ist, der fin­det auch nichts dabei, mit sei­ner »göt­ter­lo­sen Wil­lens­ver­nunft« (6) gan­ze Land­stri­che in ihrer inne­ren Ästhe­tik und Har­mo­nie zum Bei­spiel durch tosen­de, des Nachts blin­ken­de und Vögel und Fle­der­mäu­se zer­schred­dern­de Wind­kraft­in­dus­trie­an­la­gen zu zerstören.

In einer sol­cher­art »ent­hei­ma­te­ten Welt« (7) fin­den wir trun­ke­ne Selbst­ver­ges­sen­heit und inne­ren See­len­frie­den selbst bei spie­len­den Kin­dern immer weni­ger. Gera­de die Jüngs­ten sol­len ja – am bes­ten schon mit Japa­nisch-Kur­sen für Drei­ein­halb­jäh­ri­ge im Kin­der­gar­ten! – so früh wie mög­lich ihres sen­si­ti­ven Wahr­neh­mungs­ver­mö­gens ent­wöhnt und den ratio­na­lis­ti­schen Hams­ter­rä­dern der Moder­ne zuge­führt werden.

Die See­le des Men­schen erfährt bei die­sen Dres­sier­übun­gen, bei die­sem Nütz­lich­keits­ter­ror, nicht sel­ten irrepa­ra­ble Ver­let­zun­gen. Der ver­zweck­ten Welt, die den Tun­nel­blick der indus­tria­li­sier­ten Nach-Goe­the­schen Ära her­vor­ge­bracht hat, folgt im 21. Jahr­hun­dert ein eben­so see­len­frem­der, alles ver­schlin­gen­der Algo­rith­men­kos­mos, in dem das zu ver­schwin­den droht, was den Men­schen im Inners­ten aus­macht. Die­ser wahr­haft tra­gi­sche Zer­fall des mensch­li­chen Indi­vi­du­ums als »ani­mal meta­phy­si­cum« (Arthur Scho­pen­hau­er) hat den Sinn für alles Über­zeit­li­che abge­tö­tet und die Bahn frei gemacht für eine Ver­ro­hung ohne­glei­chen, für eine »Ich-Libi­do«, (8) die sich allen Gemein­schafts­zu­sam­men­hän­gen mensch­li­cher Kul­tur ent­zieht und einem hem­mungs­lo­sen Nar­ziß­mus frönt. Von den vie­len Unar­ten des moder­nen Zeit­ge­nos­sen ist viel­leicht die­ses unab­läs­si­ge Dre­hen um die eige­ne Ego-Ach­se das, was am meis­ten schau­dern macht. Ich-Ver­liebt­heit und Gefühl­lo­sig­keit sind dabei – eben­so wie Bin­dungs­un­fä­hig­keit und eine pein­li­che Selbst­be­spie­ge­lung – nur zwei Sei­ten der­sel­ben Medaille.

Schon vor dem Ers­ten Welt­krieg beklag­te der Phi­lo­soph Emil Hamm­a­cher »die räson­nie­ren­de Kul­tur der groß­städ­ti­schen Tal­mi­ge­füh­le […], die Zeit, in der mit dem Unglau­ben der Aber­glau­be steigt, eine all­ge­mei­ne Auf­ge­regt­heit bemäch­tigt sich der Men­schen, die nun in der ›gebil­de­ten Gesell­schaft‹ […] stän­dig von Kul­tur reden, wäh­rend das ein­zi­ge Ergeb­nis ist, daß das in jedem Men­schen schlum­mern­de Tier, die Ero­tik, die Eitel­keit und der gesell­schaft­li­che Ehr­geiz geweckt wer­den«. (9)

Die fort­schrei­ten­de, see­li­sche Ent­ker­nung, die die »Bar­ba­rei der Refle­xi­on« (Giam­bat­tis­ta Vico) gezei­tigt hat, wird nicht zuletzt in einer ziel­lo­sen Fül­le unbän­di­ger, im Ergeb­nis ins Nichts gerich­te­ter Wil­lens­ak­te der tech­ni­schen Moder­ne deut­lich. Wer nach den wah­ren meta­phy­si­schen Ursa­chen der öko­lo­gi­schen Kri­se sucht, wird hier fün­dig: Ein im Innern von Fäul­nis gekenn­zeich­ne­ter Pro­zeß der Ent­see­lung – so notier­te Lud­wig Kla­ges 1926 in sei­nem kon­ge­nia­len Nietz­sche-Buch – »kehrt sich nach außen als rasend um sich grei­fen­der Mord. Das Ende ist unab­weis­ba­rer Unter­gang; aber nie­mand ver­mag zu sagen, wie lan­ge die wil­lens­ge­heiz­te Lar­ve des Lei­bes ihr schein­le­ben­dig leben­fres­sen­des Dasein am Blu­te aller ›letz­ten Mohi­ka­ner‹ der Mensch­heit, Tier­heit und Pflan­zen­heit [wei­ter­fris­te], bevor sie sel­ber ver­en­det«. (10)

Die Sphä­ren von Leben und See­le sind eben von den­je­ni­gen des Ver­stan­des und des Wil­lens grund­sätz­lich geschie­den. Und die selt­sa­me Über­heb­lich­keit des neu­zeit­li­chen Wis­sen­schafts­ap­pa­rats gegen­über den hei­li­gen Riten der Natur­völ­ker ent­springt viel­leicht mehr einer eige­nen Unsi­cher­heit als einem in sich ruhen­den, ech­ten Über­le­gen­heits­ge­fühl. Die Ent­frem­dung des neu­zeit­li­chen Indi­vi­du­ums von allem, was ein Menschen­leben inner­lich erfül­len kann, hat sich jeden­falls ein Jahr­hun­dert spä­ter ins Unend­li­che gestei­gert. Sinn­los hin­ter­ein­an­der abge­spul­te Kon­sum­ak­te, pene­trant auf­ge­zwun­ge­ne Bil­der­flu­ten und unheim­lich anmu­ten­de Akus­tik­müll­ber­ge wer­den über­wölbt von einem abge­ho­be­nen Ratio­na­lis­mus, der die Geheim­nis­se des Lebens entweiht.

Die see­li­sche Bit­ter­nis, die das seit 250 Jah­ren rat­tern­de Ratio-Räder­werk hin­ter­las­sen hat, geht dabei auf einen kar­di­na­len Web­feh­ler des Ratio­na­lis­mus zurück: Er ver­kennt die wah­re Natur des Men­schen, jene mys­tisch-dunk­le »Rück­sei­te des Spie­gels«, von der Kon­rad Lorenz gespro­chen hat­te. Die­se spie­gelt selbst nicht, ihr phy­sio­lo­gi­scher Sin­nes­reich­tum eröff­net aber dem in sich ruhen­den Men­schen eine Welt, mit der er in Ein­klang leben kann, weil er von den Quel­len des Lebens nicht abge­schnit­ten wird.

Es gehört zu den Glanz­leis­tun­gen des deut­schen Idea­lis­mus, »die Welt von der See­le des Men­schen her zu begrei­fen« (Johann Gott­fried Her­der) und den Irr­tum Des­car­tes’ über­wun­den zu haben, daß das Psy­chi­sche nur in Bewußt­sein bestehe. Tat­säch­lich hat nichts mehr die emo­tio­na­le Atmo­sphä­re unse­res Daseins abküh­len las­sen als die Omni­prä­senz einer allein ratio­nal gepol­ten, bewußt­seins­be­ses­se­nen Klug­heit, die ver­ges­sen hat, was eine wesen­haft geer­de­te Weis­heit – vor allem, aber nicht nur: in Asi­en – schon immer auszeichnete:

 

All unser red­lichs­tes Bemühn

Glückt nur im unbe­wuß­ten Momente.

Wie möch­te denn die Rose blühn,

Wenn sie der Son­ne Herr­lich­keit erkennte.

 

(Goe­the)

 

Der Glau­be an die All­macht der Ratio ist eine fata­le Illu­si­on; und die Mythi­sie­run­gen der Moder­ne ent­sprin­gen der Sehn­sucht des Men­schen »nach einem irra­tio­nal, unver­rück­bar gel­ten­den Lebens­grun­de«, (11) nach einem die Über­in­tel­lek­tua­li­sie­rung abstrei­fen­den Leben in psy­cho­phy­si­schem Ein­klang mit der äuße­ren Welt. Bei die­sem Bestre­ben, »aus dem Gefäng­nis des Bewußt­seins her­aus­zu­kom­men«, (12) geht es nicht um die Rück­kehr in ein ver­lo­re­nes roman­ti­sches Para­dies, und es geht auch nicht um die lebens­frem­de Vor­stel­lung, der Mensch kön­ne ohne sei­ne tech­ni­schen Fähig­kei­ten über­le­ben. Es geht viel­mehr dar­um, zu begrei­fen, wor­auf die Dia­gno­se von dem »Bewußt­sein als Ver­häng­nis« (Alfred Sei­del) beruht.

Die­ses Bewußt­sein ist ein ratio­na­lis­ti­sches Werk­zeug, mit dem man an Begriffs­schrau­ben dre­hen kann; die eigent­li­che Sub­stanz des Lebens geht aber ver­lo­ren, wenn man nicht mehr spürt, daß sich der see­li­sche Reich­tum des Men­schen erst hin­ter die­ser Begriffs­fas­sa­de eröff­net: »Der wis­sen­de Mensch ist dumm durch Wis­sen­schaft. Sein Wirk­lich­keits- oder Wahr­heits­wis­sen hängt wie ein Schlei­er vor sei­nem Leben […]. So hält die Son­ne am Tag alle Ster­nen­wel­ten über­deckt«. (13)

Nicht zuletzt das Auf­kom­men aber­wit­zi­ger Ersatz­re­li­gio­nen (»Kli­ma­ret­tung«, »Gender«-Durchpeitschung, »Rassismus«-Bekämpfung, Virus­end­be­sie­gung etc.) und die selt­sa­me Lust vie­ler Zeit­ge­nos­sen auf »spi­ri­tu­el­le Knecht­schaft in poli­ti­scher Frei­heit« (14) soll­ten als Flam­men­zei­chen an der Wand begrif­fen wer­den, wohin eine Gesell­schaft abzu­drif­ten droht, die nur mit ratio­na­lis­tisch unter­füt­ter­ten Welt­erklä­rungs­mo­del­len arbei­tet und die ohne jeden mys­ti­schen Kompaß ori­en­tie­rungs­los durch eine wach­sen­de see­li­sche Saha­ra zieht.

Ob eine sich mög­li­cher­wei­se her­an­bil­den­de neue Mys­tik (ety­mo­lo­gisch: »das augen­schlie­ßen­de Anschau­en« bzw. im über­tra­ge­nen Sinn: »Erfah­rung des Gött­li­chen«) über­haupt reli­gi­ös gefärbt sein oder ande­re meta­phy­si­sche Inhal­te haben wird, wis­sen wir nicht. Ange­sichts der ätzen­den Zer­stö­rungs­ge­walt eines ent­grenz­ten Rela­ti­vis­mus erscheint das aber fast zweit­ran­gig. Wesent­lich ist, daß die see­lisch Obdach­lo­sen der Gegen­wart wie­der ein Dach über den Kopf bekom­men, dem sie – jen­seits der Ver­mes­sen­heit unse­rer Tage – mit Ehr­furcht und Demut begeg­nen kön­nen. Sol­che ganz aus der Zeit gefal­le­nen Begrif­fe könn­ten zu neu­em Leben erwa­chen, wenn der Tag kommt, an dem die Welt von heu­te, der sprich­wört­lich nichts mehr hei­lig ist, die Welt von ges­tern gewor­den sein wird.

– – –

(1) – Fried­rich Nietz­sche: Sämt­li­che Wer­ke, KSA Bd. 4, S. 361.

(2) – Arnold Geh­len: Der Mensch. Sei­ne Natur und sei­ne Stel­lung in der Welt (GA III/1), Frank­furt a. M. 1993, S. 355.

(3) – Arnold Geh­len: Urmensch und Spät­kul­tur. Phi­lo­so­phi­sche Ergeb­nis­se und Aus­sa­gen, Bonn 1956, S. 97.

(4) – Ernst Bert­ram: Nietz­sche. Ver­such einer Mytho­lo­gie, Ber­lin ²1919, S. 54.

(5) – Fried­rich Nietz­sche: Sämt­li­che Wer­ke, KSA Bd. 8, S. 506.

(6) – Lud­wig Kla­ges: Der Geist als Wider­sa­cher der See­le (1929 – 32), Bonn 1972, S. 1265.

(7) – Frank Lis­son: Mythos Mensch. Eine Anthro­po­di­zee, Lüding­hau­sen / Ber­lin 2020, S. 76.

(8) – Byung-Chul Han: Vom Ver­schwin­den der Ritua­le, Ber­lin 2019, S. 15.

(9) – Emil Hamm­a­cher: Haupt­fra­gen der moder­nen Kul­tur, Ber­lin 1914, S. 113.

(10) – Lud­wig Kla­ges: Die psy­cho­lo­gi­schen Errun­gen­schaf­ten Nietz­sches, Leip­zig 1926, S. 146.

(11) – Erich von Kah­ler: »Das Fort­le­ben des Mythos« (1945), in: ders.: Die Ver­ant­wor­tung des ­Geis­tes, Frank­furt a. M. 1952, S. 210.

(12) – Mar­tin Heid­eg­ger: Semi­na­re (HGA, Band 15), Frank­furt a. M. ²2005, S. 293.

(13) – Theo­dor Les­sing: Geschich­te als Sinn­ge­bung des Sinn­lo­sen (1919), Mün­chen 1983, S. 77.

(14) – Nor­bert Bolz: Dis­kurs über die Ungleich­heit, Mün­chen 2009, S. 27.

 

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