Vorgeschichte und Gegenwart

PDF der Druckfassung aus Sezession 108/ Juni 2022

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Die Beschäf­ti­gung des Men­schen mit sich selbst kann unmög­lich von einem neu­tra­len Stand­punkt aus erfol­gen. Gilt schon für ande­re Wissenschafts­gebiete, daß sich Auge und Geist des Betrach­ters nicht aus­schal­ten las­sen, so noch viel­mehr für die wis­sen­schaft­li­che Betrach­tung des Menschen.

Hier kom­men Inter­es­sen ins Spiel, denn ein bestimm­tes Men­schen­bild hat bestimm­te poli­ti­sche Impli­ka­tio­nen. Damit wird stets eine bestimm­te Macht­fra­ge gestellt: Ein Men­schen­bild steht näm­lich einer­seits in einem star­ken Wech­sel­ver­hält­nis mit den Wer­ten, die in der Gesell­schaft gera­de als gül­tig aner­kannt sind. Ande­rer­seits las­sen sich gesell­schafts­po­li­ti­sche Zie­le gut mit dem Ver­weis auf anthro­po­lo­gi­sche For­schungs­er­geb­nis­se begrün­den. Wer einen auto­ri­tä­ren Staat begrün­den möch­te, wird auf die Ori­en­tie­rungs­be­dürf­tig­keit des Men­schen ver­wei­sen, wer dem Anar­chis­mus den Weg berei­ten möch­te, betont sei­ne Fähig­keit zur Selbstorganisation.

So rich­tig es ist, daß die empi­ri­sche Wis­sen­schaft selbst nicht in der Lage ist, Wer­te zwei­fels­frei zu begrün­den, so sind doch gera­de bei allen Fra­gen, die den Men­schen betref­fen, immer wie­der Inter­es­sen­kon­flik­te zu beob­ach­ten. Berühmt gewor­den ist der Wert­ur­teils­streit in den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten um die vor­letz­te Jahr­hun­dert­wen­de. Bereits hier wur­de von Max Weber auf das For­schungs­in­ter­es­se hin­ge­wie­sen, mit dem der For­scher bereits eine bestimm­te Aus­wahl und damit ein Wert­ur­teil trifft. (1)

Für die Anthro­po­lo­gie gilt ähn­li­ches. Es gibt nicht nur zahl­rei­che Anthro­po­lo­gien, die sich von einem bestimm­ten wis­sen­schaft­li­chen Stand­punkt aus dem Men­schen nähern und so zu einer theo­lo­gi­schen oder medi­zi­ni­schen Anthro­po­lo­gie füh­ren, son­dern auch das Mate­ri­al, auf das sich die Anthro­po­lo­gie stüt­zen kann, ist kaum aus­zu­schöp­fen und somit immer einer Selek­ti­on unterworfen.

Nie­mand hat die­sen Zusam­men­hang so deut­lich gemacht wie Arnold Geh­len in sei­nem 1956 erschie­ne­nen Buch Urmensch und Spät­kul­tur, das nicht nur die Her­lei­tung der Insti­tu­tio­nen aus den ele­men­tars­ten For­men des mensch­li­chen Ver­hal­tens ent­hält, die durch die Eth­no­lo­gie erforscht wer­den, son­dern auch eine schar­fe Pole­mik gegen die Spät­kul­tur, die Gegen­wart der 1950er Jah­re, weil die­se dabei sei, die Insti­tu­tio­nen zu zer­spren­gen. Damit steht das Mensch­sein über­haupt in Fra­ge, weil die sta­bi­li­sie­ren­de Wir­kung der Insti­tu­tio­nen ver­lo­ren­zu­ge­hen dro­he. (2)

Geh­lens ent­schei­den­der Hin­weis in die­ser Sache ist der auf den Zusam­men­hang von Ideen und Insti­tu­tio­nen. Sei­ne The­se lau­tet, »daß Ideen­systeme jeder Art ihre Sta­bi­li­tät, ihren zeit­über­dau­ern­den Gel­tungs­drang, ja ihre Über­le­bens­chan­ce den Insti­tu­tio­nen ver­dan­ken, in denen sie inkor­po­riert sind«. (3)

Eine Idee, und damit auch Wer­te, kann sich zwar aus­brei­ten, wenn die Zeit dafür güns­tig ist oder die Not­wen­dig­keit exis­tiert, aller­dings kann sie sich nicht aus eige­nen Mit­teln hal­ten. Das Recht muß sich im Rechts­sys­tem insti­tu­tio­na­li­sie­ren, um wirk­sam sein zu kön­nen. Ganz ähn­lich ver­hält es sich bei reli­giö­sen Erwe­ckungs­be­we­gun­gen, die nicht in der Lage waren, eine Kir­che zu grün­den und sich nicht dau­er­haft behaup­ten konn­ten. Das Gefühl blei­be vor­han­den, »aber als eine unzu­ver­läs­si­ge, bloß affek­ti­ve und aus­drucks­ar­me Instanz«. Und auch poli­ti­sche Ideen kön­nen sich nur mit einer Orga­ni­sa­ti­on durch­set­zen. Die Schluß­fol­ge­rung lau­tet: »Es kommt nicht so sehr dar­auf an, Ideen zu dis­ku­tie­ren, als dar­auf, ihnen zu einer gerech­ten und dau­er­haf­ten Wirk­lich­keit zu ver­hel­fen.« (4)

Die­ser Gedan­ke der insti­tu­tio­nel­len Bedürf­tig­keit der Ideen steht bei Geh­len nicht im luft­lee­ren Raum, son­dern lei­tet sich aus der Erfah­rung ab – weni­ger aus der per­sön­li­chen als aus der Erfah­rung der Mensch­heit als gan­zer. Hier kom­men die Vor­ge­schich­te und die Eth­no­lo­gie ins Spiel, weil ­Geh­len die Ent­ste­hung der Insti­tu­tio­nen bereits am Anfang mensch­li­cher Kul­tu­ren beob­ach­ten kann. Er lei­tet sie aus dem dar­stel­len­den Ver­hal­ten des Men­schen ab, der im Unter­schied zum Tier in der Lage ist, sich etwas, das in sei­ner Vor­stel­lung statt­fin­det, zu ver­ge­gen­ständ­li­chen. Damit war die Idee allen zugäng­lich, und es konn­ten sich gemein­sa­me Riten ent­wi­ckeln, die für alle ver­bind­lich waren. For­ma­li­sie­run­gen, deren Ursprung Geh­len im Spiel und den Spiel­re­geln erblickt, sorg­ten dafür, daß Insti­tu­tio­nen sich auch in neu­en Situa­tio­nen bewäh­ren. Die Gül­tig­keit von Insti­tu­tio­nen wird zusätz­lich durch den Mythos, oft­mals ihre Ent­ste­hungs­ge­schich­te, abgesichert.

Die­se weni­gen Hin­wei­se auf den Ursprung von Insti­tu­tio­nen genü­gen, um zu zei­gen, war­um die Vor­ge­schich­te und die Eth­no­lo­gie so zen­tral sind, wenn es dar­um geht, anthro­po­lo­gi­sche Kate­go­rien auf­zu­stel­len. Denn dar­um ging es Geh­len: Wesens­ei­gen­schaf­ten des Men­schen aus­fin­dig zu machen, die ursprüng­lich sind und sich nicht auf ande­re Eigen­schaf­ten zurück­füh­ren las­sen. Die­se kön­nen auch als uni­ver­sa­le Kon­stan­ten bezeich­net wer­den. War­um wir dafür in die Ver­gan­gen­heit rei­sen oder zu den Men­schen gehen müs­sen, die mut­maß­lich noch in einer frü­he­ren Zivi­li­sa­ti­ons­stu­fe leben, ist ein­sich­tig. Es geht dar­um, den Men­schen zu fin­den, wie er ist, und nicht wie er durch Geschich­te und Kul­tur gewor­den ist. Dahin­ter steckt die Annah­me, daß vie­le Über­for­mun­gen sekun­där sind und der Ursprung eine nor­ma­ti­ve Gül­tig­keit besitzt, auf den es hin­zu­wei­sen gilt, wenn es Inter­es­se an der Exis­tenz des Men­schen gibt.

In Deutsch­land hat sich vor allem die Kul­tur­anthro­po­lo­gie (in ande­ren Län­dern wird oft­mals die eng­li­sche Bezeich­nung cul­tu­ral histo­ry ver­wen­det) die­ser Fra­ge­stel­lung ange­nom­men. Laut einer Defi­ni­ti­on von Wil­helm Mühl­mann ver­sucht die Kul­tur­anthro­po­lo­gie aus der Viel­falt kul­tu­rel­ler For­men typi­sche Chan­cen des mensch­li­chen Ver­hal­tens abzu­le­sen. (5)

Dabei geht es zum einen um die Fra­ge, wie das mensch­li­che Ver­hal­ten durch die kul­tu­rel­le Umwelt bestimmt wird, mit ande­ren Wor­ten, wie rela­tiv die­se ist, zum ande­ren um die Fra­ge, wel­che der mög­li­chen Ver­hal­tens­wei­sen sich aus wel­chen Grün­den durch­set­zen. Mühl­mann spricht in die­sem Zusam­men­hang vom Ver­hält­nis von Wirk­lich­keit und Chan­ce. Die Kultur­anthropologie steht in enger Ver­bin­dung zur Eth­no­gra­phie, die sich mit den schrift­lo­sen Kul­tu­ren befaßt, aber auch zur Vor­ge­schich­te, die sich dem Teil der mensch­li­chen Geschich­te wid­met, von dem kei­ne schrift­li­chen Quel­len über­lie­fert sind und bei dem wir bei der Deu­tung auf die mate­ri­el­len Zeug­nis­se ange­wie­sen sind.

Mühl­mann kommt auf fünf uni­ver­sa­le Kon­stan­ten, die sich in allen Kul­tu­ren nach­wei­sen las­sen: Wirt­schaft zur Über­le­bens­si­che­rung, Rol­len­ver­hal­ten der Geschlech­ter, Prin­zip der Gegen­sei­tig­keit in allen Berei­chen, Sym­bol­den­ken und ver­bind­li­che Nor­men. Beson­ders inter­es­sant ist für uns der letzt­ge­nann­te Punkt: »Fer­ner gibt es über­all bestimm­te Ord­nungs­vor­stel­lun­gen, wie das Leben der Grup­pe beschaf­fen sein soll­te, also ver­bind­li­che Nor­men und Begrif­fe für Rich­tig und Falsch, Gut und Böse, Schick­lich und Unschick­lich usw., und dies alles ver­bun­den mit einer nai­ven Abso­lut­set­zung die­ser Nor­men; durch­weg auch eine in Gene­ra­tio­nen über­lie­fer­te ›Lebens­weis­heit‹ in ste­hen­den Rede­wen­dun­gen oder Sprich­wör­tern.« (6)

Bei die­sen Kon­stan­ten han­delt es sich um for­ma­le Prin­zi­pi­en, deren Gehalt von der jewei­li­gen Kul­tur abhängt und daher sehr unter­schied­lich sein kann. »Die Kon­stan­ten wer­den also in kul­tu­rell ver­schie­de­ner Wei­se nor­miert und insti­tu­tio­na­li­siert.« Mühl­mann führt als Bei­spie­le die Blut­ra­che an, die mal Pflicht und mal Delikt sein kann, aber auch bestimm­te Spei­se­ver­bo­te oder sitt­li­che Auf­fas­sun­gen zum Ver­hält­nis der Geschlech­ter. Die Kul­tur­anthro­po­lo­gie ist damit eine rein beschrei­ben­de Wis­sen­schaft, die von den Wer­tun­gen des eige­ne Kul­tur­ho­ri­zonts abse­hen und auch die abson­der­lichs­ten Phä­no­me­ne als Aus­druck mensch­li­chen Ver­hal­tens ver­steh­bar machen will. Die­ser Rela­ti­vis­mus ist die Über­win­dung der von Mühl­mann erwähn­ten nai­ven Abso­lut­set­zung der Nor­men und bedeu­tet einen echt wis­sen­schaft­li­chen Anspruch.

Aller­dings stößt der Kul­tur­re­la­ti­vis­mus inso­fern an Gren­zen, als sein Stand­punkt des Ver­ste­hens mitt­ler­wei­le in unmit­tel­ba­re Nähe zum Ver­ständ­nis und damit zur Recht­fer­ti­gung von bestimm­ten Ver­hal­tens­wei­sen gerückt wird. Eben­die­ser Stand­punkt ist dann nur noch einer, den es zu über­ho­len gilt, dem man die Aus­wahl sei­ner Bei­spie­le, den For­schungs­ge­gen­stand und ähn­li­ches als wer­ten­de Vor­aus­set­zung sei­ner ­wis­sen­schaft­li­chen Arbeit vor­wer­fen kann. Das bedeu­tet, daß auch der kul­tur­re­la­ti­vis­ti­sche Stand­punkt der Wis­sen­schaft als poli­ti­scher Stand­punkt gewer­tet wer­den kann, wenn es dar­um geht, bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen als unschick­lich zu mar­kie­ren. Zumal Mühl­mann ja in der eige­nen Kul­tur den nai­ven Stand­punkt als über­wun­den ansieht und damit eine Wer­tung vornimmt.

Die­ses Pro­blem hat Oswald Speng­ler, der ver­mut­lich bekann­tes­te Kul­tur­re­la­ti­vist über­haupt, gese­hen und daher gar nicht erst ver­sucht, den eige­nen Stand­punkt zu ver­leug­nen. Zwar bean­sprucht auch er für sei­ne Metho­de eine all­ge­mei­ne, kul­tu­rell unge­bun­de­ne Gül­tig­keit, ist sich aber wie Geh­len bewußt, daß sein Blick­win­kel inso­fern inter­es­se­ge­leitet ist, als es dar­um geht, der Gegen­wart ihre Mög­lich­kei­ten vor Augen zu füh­ren. Chan­ce und Wirk­lich­keit exis­tie­ren auch heu­te, könn­te man in Anleh­nung an Mühl­mann sagen.

Speng­ler unter­schei­det in sei­nem Unter­gang des Abend­lan­des eine Rei­he von Kul­tu­ren, die sich unab­hän­gig von­ein­an­der nach dem glei­chen Prin­zip ent­wi­ckelt hät­ten. Alle die­se Kul­tu­ren brach­ten eine Früh­zeit und eine Hoch­kul­tur her­vor, um dann schließ­lich in der Zivi­li­sa­ti­on zu enden. Die­ses Ent­wick­lungs­ge­setz ist so etwas wie ein all­ge­mei­nes Prin­zip, das in den Kul­tu­ren mit Leben gefüllt wird. Nun hat Speng­ler nicht von allen Kul­tu­ren Kennt­nis­se über den Anfang, weil es dar­über kei­ne Zeug­nis­se gibt, oder das Ende, weil es noch nicht statt­ge­fun­den hat. Daher ist die anti­ke Kul­tur die Blau­pau­se, deren Ergeb­nis­se er auf die ande­ren Kul­tu­ren über­trägt. Aber: Kul­tu­ren besit­zen unter­schied­li­che Wahr­hei­ten – das ist der Inhalt des Prin­zips –, die nur in ihrem Kul­tur­kreis gül­tig sind. Da kei­ne Kul­tur ewig exis­tiert, kann es auch kei­ne ewig­gül­ti­gen Wahr­hei­ten geben.

Bereits in der Ein­lei­tung zum ers­ten Band offen­bart Speng­ler sei­nen poli­ti­schen Anspruch: »Der west­eu­ro­päi­sche Mensch, so his­to­risch er denkt und fühlt, ist in einem gewis­sen Lebens­al­ter sich nie sei­ner eigent­li­chen Rich­tung bewußt. Er tas­tet und sucht und ver­irrt sich, wenn die äuße­ren Anläs­se ihm nicht güns­tig sind. Hier end­lich hat die Arbeit von Jahr­hun­der­ten ihm die Mög­lich­keit gege­ben, die Lage sei­nes Lebens im Zusam­men­hang mit der Gesamt­kul­tur zu über­se­hen und zu prü­fen, was er kann und soll. Wenn unter dem Ein­druck die­ses Buches sich Men­schen der neu­en Gene­ra­ti­on der Tech­nik statt der Lyrik, der Mari­ne statt der Male­rei, der Poli­tik statt der Erkennt­nis­kri­tik zuwen­den, so tun sie, was ich wün­sche, und man kann ihnen nichts Bes­se­res wün­schen.« (7) Das bedeu­tet, daß Speng­ler aus der geschicht­li­chen Wirk­lich­keit auf ein Sol­len schließt, obwohl er den Weg der Kul­tu­ren, den Unter­gang oder die Voll­endung, als unaus­weich­lich annimmt.

In der welt­weit geführ­ten Debat­te um sein Buch tauch­te der Vor­wurf auf, daß sich Speng­ler zu wenig auf die Vor­ge­schich­te bzw. die eth­no­gra­phi­schen Ergeb­nis­se ein­ge­las­sen habe, die Hin­wei­se auf die Gemein­sam­kei­ten aller Kul­tu­ren geben wür­den: ewi­ge Ideen, gemein­sa­me Mythen, die der Mensch­heits­ge­schich­te als Gan­zem zu eigen sei­en. Wich­ti­ger Anre­ger war für Speng­ler hier­bei der Eth­no­lo­gie Leo Fro­be­ni­us, der sei­nen Blick auf die außer­eu­ro­päi­schen Kul­tu­ren lenk­te. Denn Speng­lers Kul­tu­ren, so ­Fro­be­ni­us, wur­zel­ten nicht im Tier­reich, son­dern in der Vor- und Früh­ge­schich­te der Mensch­heit. Das führ­te dazu, daß Speng­ler sei­nen Schwer­punkt ver­schob und den Men­schen vor den Hoch­kul­tu­ren in den Blick nahm. (8) Nicht zuletzt ging es ihm dabei dar­um, sei­ne Auf­fas­sung vom Men­schen auf eine brei­te­re Basis zu stel­len. Er sah in der mensch­li­chen Kul­tur ins­ge­samt einen Auf­stand gegen die Natur. Der Mensch sei eine Unmög­lich­keit: Natur, die Natur über­win­den will.

Aller­dings dif­fe­ren­ziert Speng­ler auch hier: Das Schick­sal »ver­ur­teilt zu Lagen, Anschau­un­gen und Leis­tun­gen. Es gibt kei­nen ›Men­schen an sich‹, wie die Phi­lo­so­phen schwat­zen, son­dern nur Men­schen zu einer Zeit, an einem Ort, von einer Ras­se, einer per­sön­li­chen Art, die sich im Kamp­fe mit der gege­be­nen Welt durch­setzt oder unter­liegt, wäh­rend das Welt­all gött­lich unbe­küm­mert rings­um ver­weilt.«  (9) Er kon­zi­pier­te ein völ­lig neu­es Buch, das die Vor­ge­schich­te und damit die all­ge­mein­gül­ti­gen Schluß­fol­ge­run­gen ent­hal­ten sollte.

Aus die­sem gan­zen Werk, das uns heu­te in meh­re­ren Apho­ris­men­samm­lun­gen aus dem Nach­laß vor­liegt, sind zu Leb­zei­ten nur sehr weni­ge Stü­cke erschie­nen. Das wich­tigs­te dar­aus ist Der Mensch und die Tech­nik, weil er dar­in sei­ne Tech­nik der Mor­pho­lo­gie der Kul­tu­ren auf »die Geschich­te des Men­schen von sei­nem Ursprung an« anwen­den möch­te. Hier geht es also tat­säch­lich um eine Anthro­po­lo­gie, um die Fra­ge, wie der Mensch unter­halb der Hoch­kul­tu­ren eigent­lich ist. Es geht um die Ursa­che der kul­tu­rel­len Leis­tun­gen, die der Mensch erbracht hat und noch erbringt. Und es geht um die poli­ti­schen Impli­ka­tio­nen, die für die Gegen­wart dar­aus folgen.

Laut Speng­ler ist der Mensch ein Raub­tier: »Die Welt ist die Beu­te, und aus die­ser Tat­sa­che ist letz­ten Endes die mensch­li­che Kul­tur erwach­sen.« (10) Das Mit­tel der Jagd ist die Tech­nik, die den Men­schen am offen­sicht­lichs­ten vom Tier unter­schei­det und die auch bis heu­te sein Dasein bestimmt. Speng­ler sieht aber nicht in der tech­ni­schen Fer­tig­keit des Men­schen die Ursa­che der Kul­tur, son­dern ihm geht es um die Ursa­che der Tech­nik, die er in der See­le aus­macht. Denn nicht das Werk­zeug selbst ist ent­schei­dend, son­dern das tech­ni­sche Ver­fah­ren, das dahin­ter­steckt, und das Ziel, das damit erreicht wer­den kann. Solan­ge Tech­nik nicht im Sin­ne einer Tak­tik des Lebens, also des Kamp­fes, ein­ge­setzt wird, bleibt sie etwas Frem­des (und sie wird es auch wie­der, wenn Tech­nik, wie heu­te, nur ange­wandt wird, ohne ihre Wir­kungs­wei­se zu verstehen).

Die Cha­rak­te­ri­sie­rung des Men­schen als Raub­tier geht nicht auf die Ana­to­mie zurück, son­dern auf die see­li­sche Aus­stat­tung des Men­schen, die sei­nen Platz in der Rang­ord­nung des Lebens bestim­me. Die Ori­en­tie­rung des Raub­tie­res erfol­ge mit den Augen, im Unter­schied zum Pflan­zen­fres­ser, der sich auf sei­ne Wit­te­rung ver­las­sen müs­se. Im Auge aber liegt die Idee des Herr­schens! Die­se Ana­lo­gie ver­knüpft Speng­ler zu einer ethi­schen Fra­ge, die natür­lich einen ent­spre­chen­den Gegen­warts­be­zug auf­weist, wenn er die Raub­tier­ethik, die im Kampf den Sinn des Lebens erblickt, von der Pflan­zen­fres­ser­ethik unter­schei­det, die er vor allem in der wil­len­lo­sen Her­de, die sich trei­ben läßt, ver­wirk­licht sieht.

Der Unter­schied zwi­schen Raub­tier und dem raub­tier­haf­ten Men­schen liegt in der Tech­nik. Auch die Tie­re haben Tech­nik, die aber immer Gat­tungs­tech­nik blei­be und instink­tiv erfol­ge. Der Mensch sei dage­gen das erfin­de­ri­sche Raub­tier, das sich mit­tels Tech­nik aus sei­ner Gat­tung befrei­en kön­ne, aller­dings zunächst in den Kul­tu­ren gebun­den blei­be. Der tech­ni­schen Eman­zi­pa­ti­on von der Natur folgt als zwei­te abso­lu­te Schwel­le das Spre­chen, das ein plan­mä­ßi­ges Tun von meh­re­ren Men­schen und so Acker­bau und Vieh­zucht ermög­li­che. Den Ursprung der Spra­che sieht ­Speng­ler nicht im Mythos oder gar der Argu­men­ta­ti­on, son­dern im Dia­log von Befehl und Gehor­sam. Mit der Gemein­schaft endet aber auch die Frei­heit des Raub­tie­res: »In die­ser wach­sen­den gegen­sei­ti­gen Abhän­gig­keit liegt die stil­le und tie­fe Rache der Natur an dem Wesen, das ihr das Vor­recht auf Schöp­fer­tum ent­riß. Die­ser klei­ne Schöp­fer wider die Natur, die­ser Revo­lu­tio­när in der Welt des Lebens ist der Skla­ve sei­ner Schöp­fung gewor­den.« (11)

Das Raub­tier hat mit der Kul­tur sein eige­nes Gefäng­nis gebaut. Aller­dings sieht Speng­ler im Rah­men der Kul­tur­wer­dung eine Kol­lek­ti­vie­rung der Raub­tier­see­le. Nach der Staats­bil­dung muß das Volk zum Raub­tier wer­den, so es über­le­ben will. Inner­halb des Vol­kes kommt es aber wie­der zur Dif­fe­ren­zie­rung von Raub- und Her­den­tie­ren. Die Eli­te, die Füh­rer eines Vol­kes bil­den ihre Per­sön­lich­keit als Pro­test gegen die neue Zwangs­ja­cke aus und schaf­fen damit inner­halb des Vol­kes eine unauf­heb­ba­re Span­nung: »Die­se Unver­stan­de­nen und Ver­haß­ten, das Rudel der star­ken Per­sön­lich­kei­ten, haben eine ande­re Psy­cho­lo­gie. Sie ken­nen noch das Triumph­gefühl des Raub­tie­res, das die zucken­de Beu­te unter den Klau­en hält, das Gefühl des Kolum­bus, als am Hori­zont das Land erschien«. (12) Die­se weni­gen schaf­fen es nicht, die­se Kul­tur auf der Höhe zu hal­ten, die Zivi­li­sa­ti­on ist selbst zur Maschi­ne gewor­den, die nicht mehr bewäl­tigt und ver­stan­den wird.

Speng­lers Deu­tung des Men­schen kul­ti­viert eine End­zeit­stim­mung, der Mensch kann den Pro­zeß nicht auf­hal­ten, er kann sich ihm nur stel­len, ihn ertra­gen. Die Welt­an­schau­ung, die er emp­fiehlt: »Lie­ber ein kur­zes Leben voll Taten und Ruhm als ein lan­ges ohne Inhalt.« Es kom­men hier noch ein­mal die Tugen­den zum Tra­gen, die Euro­pa groß gemacht haben: die Lust am Wett­kampf, an der Erkennt­nis und an der Herr­schaft. Was ­Speng­ler von ande­ren popu­lä­ren Deu­tun­gen des Abend­lan­des unter­schei­det, ist sein im Grun­de fata­lis­ti­scher Ansatz, der dem euro­päi­schen Fort­schritts­glau­ben, der ja aus der Raub­tier­ethik folgt, ent­sagt und die­sen für eine bil­li­ge Moti­va­ti­ons­ges­te für schwa­che Natu­ren hält: »Wir haben nicht die Frei­heit, dies oder jenes zu errei­chen, aber die, das Not­wen­di­ge zu tun oder nichts. Und eine Auf­ga­be, wel­che die Not­wen­dig­keit der Geschich­te gestellt hat, wird gelöst, mit dem ein­zel­nen oder gegen ihn.« (13)

Die Rede von der Not­wen­dig­keit der Geschich­te, der der Mensch unter­wor­fen ist, klingt in heu­ti­gen Ohren wie eine Belei­di­gung des selbst­bestimmten Men­schen und sei­ner unend­li­chen ­Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten, wie sie zumin­dest von libe­ra­len Zeit­ge­nos­sen ver­tre­ten wer­den. Inso­fern nimmt sich das jüngs­te Buch zum The­ma der Kul­tur­anthro­po­lo­gie wie ein Gegen­ent­wurf zu Speng­ler aus. Aller­dings erwäh­nen David Grae­ber und David Wen­grow, ein Anthro­po­lo­ge und ein Archäo­lo­ge, ihn in ihrem Buch Anfän­ge. Eine neue Geschich­te der Mensch­heit an kei­ner Stel­le. (14) Das mag mit ihrem ganz ande­ren Gedan­ken zusam­men­hän­gen, den sie in dem Buch ent­wi­ckeln und für den sie zumin­dest ähn­lich wie Speng­ler in Anspruch neh­men, einen Para­dig­men­wech­sel in der Betrach­tung des Men­schen vor­ge­nom­men zu haben.

Sie ver­su­chen in ihrem Buch das, was sie den mythi­schen Unter­bau der Sozi­al­wis­sen­schaf­ten nen­nen, zu wider­le­gen. Ihrer Mei­nung nach gehen Anthro­po­lo­gie und Sozio­lo­gie von vie­len Annah­men über den Men­schen aus, die sich durch das geschicht­li­che oder eth­no­lo­gi­sche Mate­ri­al nicht bele­gen las­sen. Daher unter­neh­men sie einen Gang durch die Vor­ge­schich­te, die immer wie­der mit Befun­den aus der Eth­no­lo­gie abge­gli­chen wird, um damit die Fest­le­gung des Men­schen auf ein staa­ten­bil­den­des Wesen zu wider­le­gen. Daß der Staat und die Herr­schaft über ande­re Men­schen über­haupt ein Grund­übel sind, steht für Grae­ber und Wen­grow fest und ist Leit­gedanke ihres Buches: »Was ist der Zweck all die­ses neu­en Wis­sens, wenn nicht eine Neu­ge­stal­tung der Vor­stel­lun­gen, die wir von uns selbst und unse­rer künf­ti­gen Ent­wick­lung haben? Oder anders aus­ge­drückt, die Wie­der­ent­de­ckung unse­rer drit­ten Grund­frei­heit, der Frei­heit, neue und ande­re For­men sozia­ler Rea­li­tät zu schaf­fen?« (15)

Wen­gow und Gra­ber haben dem­zu­fol­ge auch ein Bild davon, wie der Mensch eigent­lich sei: ein ursprüng­lich frei­es Wesen näm­lich, das sich ins­be­son­de­re durch den Staat sämt­li­cher Frei­hei­ten habe berau­ben las­sen. Auch wenn man hier an ein frei­es Raub­tier den­ken könn­te, ist doch die Ten­denz die­ser Frei­heit bei den bei­den eine ganz ande­re. Die Grund­frei­hei­ten bestehen, neben der bereits erwähn­ten, dar­in, die sozia­len For­men frei gestal­ten zu kön­nen, »sei­ne Umge­bung zu ver­las­sen und an einen ande­ren Ort zu zie­hen« und »die Befeh­le ande­rer zu igno­rie­ren oder zu ­miß­ach­ten«. (16)

Die Mensch­heits­ge­schich­te ist eine Geschich­te des Ver­lus­tes die­ser Frei­hei­ten. Die Autoren ste­hen nur vor dem Pro­blem, die­se Grund­frei­hei­ten als kon­sti­tu­tiv für den Men­schen her­aus­zu­stel­len. Denn ihnen geht es ja nicht nur um die Ver­gan­gen­heit, son­dern vor allem um eine Deu­tung der Ver­gan­gen­heit, um dar­aus nor­ma­ti­ve Schluß­fol­ge­run­gen für die Gegen­wart zu zie­hen: »Wenn wir also die Grund­vor­aus­set­zun­gen sozia­ler Ent­wick­lung über­den­ken, rüt­teln wir damit zugleich an unse­ren eta­blier­ten poli­ti­schen Vor­stel­lun­gen.« (17)

Die­se sehen sie vor allem in der Fortschritts­ideologie, die davon aus­geht, daß es eine Wei­ter­ent­wick­lung des Men­schen im Sin­ne einer Höher­ent­wick­lung sei­ner sozia­len Umstän­de, aber auch sei­ner Mün­dig­keit gege­ben habe. Ins­be­son­de­re die Theo­rien von Rous­se­au und ­Hob­bes wer­den von ihnen als kon­sti­tu­ie­rend für unse­re gegen­wär­ti­gen Auf­fas­sun­gen her­aus­ge­stellt. Aber weder habe es, so die Autoren, einen Moment in der Geschich­te gege­ben, an dem durch Acker­bau und Vieh­zucht die Ungleich­heit in die Welt gekom­men sei, noch sei der Mensch ein gefähr­li­ches ­Wesen, das sich nur bän­di­gen kön­ne, indem es eine Macht über sich aner­ken­ne, die es vor ande­ren Men­schen schützt. Die­sen Fest­le­gun­gen wol­len die Autoren eine »hoff­nungs­vol­le­re« Geschich­te entgegensetzen.

Etwas bizarr mutet dabei aller­dings gleich der Auf­takt des Buches an, in dem die Autoren zei­gen wol­len, daß die euro­päi­sche Auf­klä­rung aus der »indi­ge­nen Kri­tik« an den Zustän­den in Euro­pa erwach­sen sei … Aber der Schwer­punkt des Buches liegt glück­li­cher­wei­se nicht auf der Geis­tes­ge­schich­te, son­dern auf den mate­ri­el­len Über­lie­fe­run­gen. Es bie­tet hier viel Mate­ri­al, ins­be­son­de­re archäo­lo­gi­sche Erkennt­nis­se der letz­ten 30 Jah­re, um die oben­ge­nann­te The­se zu bele­gen. Es ist nicht ver­wun­der­lich, daß all die­se Bei­spie­le in einem der The­se güns­ti­gen Licht erschei­nen. Ins­be­son­de­re bei den bekann­te­ren Aus­gra­bungs­stät­ten, wie Göbe­kli Tepe oder ­Çatal Hüyük, wer­den ja auch ande­re Deu­tun­gen ver­tre­ten. Von den Autoren wer­den sie als Beleg dafür ange­führt, daß aus Seß­haft­wer­dung und Städte­bildung kei­ne Not­wen­dig­keit der Herr­schaft und Büro­kra­tie folgt, sie also auch ohne Staat denk­bar sind. Das Argu­ment der gro­ßen Zahl, so wird damit impli­ziert, bedeu­tet also auch heu­te nicht, daß es einen Staat geben muß.

Über­haupt, so die Autoren, sei die Mensch­heits­ge­schich­te nicht durch Zwangs­läu­fig­kei­ten bestimmt. Unser Bild der Ver­gan­gen­heit sei so fest­ge­legt, daß wir die Bele­ge für alter­na­ti­ve Mög­lich­kei­ten gar nicht mehr wahr­neh­men. Sie füh­ren daher Zeug­nis­se für sai­so­na­le Schwan­kun­gen der Sozial­struktur in früh­mensch­li­chen Gesell­schaf­ten an, (18) und ver­wei­sen auf sai­so­na­le Macht­be­fug­nis­se, die bei­spiels­wei­se nur zur Jagd­zeit gal­ten. Wenn sich die Men­schen in frü­he­ren Zei­ten flie­ßend zwi­schen den Sozial­ordnungen bewegt hät­ten, so kön­ne es den his­to­ri­schen Moment nicht gege­ben haben, an dem alles Wei­te­re fest­ge­legt wor­den sei. Die Fra­ge müs­se daher lau­ten: »War­um sind wir ste­cken­ge­blie­ben? Wie sind wir bei einer ein­zi­gen Ord­nung gelan­det? Wie haben wir das poli­ti­sche Bewußt­sein ver­lo­ren, das für unse­re Spe­zi­es einst so typisch war?« (19) Womit auch die Fähig­keit, in Alter­na­ti­ven zu leben, ver­lo­ren­ge­gan­gen sei. Kein Acker­bau­er zu wer­den war dem­nach eine bewuß­te Ent­schei­dung, da Land­wirt­schaft als mühe­vol­le Man­gel­wirt­schaft begann. Das Eigen­tum sei nicht ein Moment, das irgend­wann hin­zu­tritt und die Ungleich­heit unter die Men­schen bringt, son­dern es war immer schon vor­han­den, aller­dings habe es nicht zwin­gend eine posi­ti­ve Wir­kung auf die Macht­ak­ku­mu­la­ti­on gehabt. (20)

Der Mensch ist für die Autoren ein frei­es Wesen, die »Men­schen hät­ten ein grö­ße­res kol­lek­ti­ves Mit­spra­che­recht an ihrem Schick­sal, als wir gewöhn­lich anneh­men«. (21) So sym­pa­thisch die Auf­fas­sung, daß der Mensch auch ganz anders kann, ange­sichts der gegen­wär­ti­gen Alter­na­tiv­lo­sig­keit der poli­ti­schen Struk­tu­ren auch sein mag, bleibt doch die Fra­ge, ob sie den Tat­sa­chen ent­spricht. Hier sind Zwei­fel ange­bracht, da die Autoren selbst nicht in der Lage sind, ihre Theo­rie streng aus dem Mate­ri­al abzu­lei­ten, son­dern die argu­men­ta­ti­ven Lücken mit unbe­leg­ba­ren Annah­men fül­len müs­sen. Daß die Annah­me, eine grö­ße­re Anzahl von Men­schen erfor­de­re Ver­wal­tung und Herr­schaft, ein Mythos sei, wird bei­spiels­wei­se mit dem Hin­weis belegt, daß man lan­ge Zeit auch ange­nom­men habe, Frau­en wür­den schlech­te Sol­da­ten sein, dabei habe sich mitt­ler­wei­le her­aus­ge­stellt, daß sie »für gewöhn­lich die viel bes­se­ren Schüt­zen« sei­en. (22)

Daher kön­nen Grae­ber und Wen­grow die eige­ne Fra­ge, war­um sich die Mensch­heit auf die Staat­lich­keit fest­ge­legt habe, auch nicht plau­si­bel beant­wor­ten. Der Staat sei eine »Kom­bi­na­ti­on aus Gewalt und einer kom­ple­xen sozia­len Maschi­ne, die erschaf­fen wur­de, um vor­geb­li­chen Für­sor­ge­zwe­cken zu die­nen«. Die Herr­schaft stam­me aus dem hei­mi­schen Bereich der Fami­lie, in der Sicher­heit und Für­sor­ge mit­ein­an­der ver­knüpft sind. Unfrei­heit kom­me dann ins Spiel, wenn die per­sön­li­che Ebe­ne ver­las­sen wer­de und Ver­spre­chun­gen unper­sön­lich und über­trag­bar, damit büro­kra­ti­siert und kor­rum­piert wür­den. War­um also sind wir ste­cken­ge­blie­ben? Weil wir Gewalt und Für­sor­ge in einen Zusam­men­hang gestellt haben und uns dar­an gewöhnt haben, das eine nicht ohne das ande­re den­ken zu können.

Damit sind wir wie­der bei Hob­bes ange­langt, der ja eben in die­ser Kom­bi­na­ti­on den Garan­ten einer dau­er­haf­ten Frie­dens­ord­nung sah. Doch das ist sie nur solan­ge, wie die Men­schen ihr ver­trau­en und an sie glau­ben. Die­ser Glau­be schwin­det, und Grae­ber und Wen­grow möch­ten ihn als Aber­glau­ben ent­lar­ven und damit den Todes­stoß ver­set­zen. Was dar­aus fol­gen wür­de, wäre eine anar­chis­ti­sche Dys­to­pie, in der auch inner­halb der Gesell­schaf­ten das Recht des Stär­ke­ren die ein­zi­ge Quel­le der Macht wäre, in der kein Platz für die Aus­bil­dung einer Per­sön­lich­keit wäre, weil es kei­ne Ent­las­tung vom Über­le­bens­kampf gäbe. Im Hin­ter­grund steht die Sehn­sucht nach Gleich­heit und »Wohl­le­ben auf Welt­ebe­ne«: »Seit die Zivi­li­sa­ti­on die­sen Kurs genom­men hat, expe­ri­men­tiert der Mensch mit sich selbst an einer Stel­le, an der er es noch nie tat. Indem er ver­sucht, sich ganz grund­sätz­lich dem Joch der Umstän­de zu ent­zie­hen, lie­fert er sich an etwas aus, das er noch zu wenig kennt und wovon er die Mei­nun­gen des fri­vols­ten Opti­mis­mus hat: das ist er selbst.« (23)

– – –

(1) – Vgl. Max Weber: »Die ›Objek­ti­vi­tät‹ sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis« (1904), in: ders.: Sozio­lo­gie, ­uni­ver­sal­ge­schicht­li­che ­Ana­ly­sen, ­Poli­tik, hrsg. Johan­nes Win­ckel­mann, Stutt­gart 61992, S. 186 – 262.

(2) – Vgl. Arnold Geh­len: Urmensch und Spät­kul­tur. ­Phi­lo­so­phi­sche Ergeb­nis­se und Aus­sa­gen, Frank­furt a. M. 62004.

(3 ) –Arnold Geh­len: »Mensch und Insti­tu­tio­nen«, in: ders: Anthro­po­lo­gi­sche ­For­schung, Rein­bek bei Ham­burg 1961, S. 69 – 77, hier S. 76.

(4) – Ebd., S. 77.

(5) – Vgl. Wil­helm Emil Mühl­mann: »Umris­se und Pro­ble­me einer Kul­tur­anthro­po­lo­gie«, in: ders., Ernst W. Mül­ler (Hrsg.): Kul­tur­anthro­po­lo­gie, Köln / Ber­lin 1966, S. 15 – 49.

(6) – Ebd., S. 20.

(7) – Oswald Speng­ler: Der Unter­gang des Abend­lan­des. Umris­se einer Mor­pho­lo­gie der Welt­ge­schich­te, Mün­chen 1923, S. 57.

(8) – Vgl. dazu die Ein­lei­tun­gen von Anton Mir­ko ­Kok­tanek zu den Speng­ler-­Bän­den Urfra­gen. Frag­men­te aus dem Nach­laß (1965) und Früh­zeit der Welt­ge­schich­te. Frag­men­te aus dem Nach­laß (1966).

(9) – Oswald Speng­ler: Der Mensch und die Tech­nik. Bei­trag zu einer Phi­lo­so­phie des Lebens, Mün­chen 1931, S. 13.

(10) – Ebd., S. 20.

(11) – Ebd., S. 56 f.

(12) – Ebd., S. 77.

(13) – Speng­ler: Unter­gang des Abend­lan­des, S. 1195.

(14) – Vgl. David Grae­ber, ­David Wen­grow: ­Anfän­ge. Eine neue Geschich­te der Mensch­heit, Stutt­gart ³2022.

(15) – Ebd., S. 559.

(16) – Ebd., S. 536.

(17) – Ebd., S. 462.

(18) – Ebd., S. 121.

(19) – Ebd., S. 135.

(20) – Ebd., S. 182.

(21) – Ebd., S. 230.

(22) – Ebd., S. 305.

(23) – Arnold Geh­len: »Das Bild des Men­schen im Lich­te der moder­nen Anthro­po­lo­gie«, in: ders.: Anthro­po­lo­gi­sche For­schung, Rein­bek bei Ham­burg 1961, S. 55 – 68, hier S. 67.

 

 

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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