Ovid gibt uns in seinen Metamorphosen vom Mythos des Narziß ausführlich Kunde: Dieser sechzehnjährige Jüngling war so schön, daß er von Männchen und Weibchen gleichermaßen begehrt wurde. Narziß aber erhörte niemanden, und als ihm ein Verschmähter an den Hals wünschte, er möge sich selbst einmal verlieben und nicht erhört werden, folgte die Nemesis, das Schicksal, diesem Fluch.
Als der Knabe nämlich sein eigenes Spiegelbild im Wasser erblickte, verliebte er sich in dieses, versank vollkommen in seinem Ich als einem anderen, der auf alle seine Regungen analog zu reagieren schien. Doch konnte Narziß sich nicht mit seinem Gegenüber vereinen – die Tränen, die er darüber vergoß, tropften ins Wasser und ließen sein Bild verschwimmen. Schließlich begriff er: Iste ego sum, ich bin es selbst, der mir in diesem Bild gegenübertritt. Narziß starb darob vor Kummer, und statt eines Leichnams fand man später dort »ein Blümlein / Safrangelb, um die Mitte besetzt mit schneeigen Blättern«: die Narzisse. (1)
Einen solchen Spiegel erkennen wir »dann und nur dann als Spiegel, wenn wir wissen, daß wir ein Andres in ihm sehen«, (2) ließe sich mit Joachim Schickel eine generelle Einsicht aus diesem Mythos formulieren. Indes hat sich der Mensch wohl durch Wasserschalen den Spiegeleffekt schon in seiner Frühzeit gezielt zunutze gemacht, also den Spiegel als solchen erkannt und im Laufe der Jahrtausende technisch immer weiter verbessert: Zunächst polierte er Obsidian- oder Bronzeplatten so, daß die Lichtstrahlen und ‑wellen parallel blieben, wenn sie auf diese Oberfläche trafen, und in der Reflexion ein exaktes Abbild des sich davor Befindenden entstehen konnte.
Damit ist der Spiegel ein genuin technisches Medium, mittels dessen der Mensch sich selbst gegenübertreten und sich auch bewußt geistig reflektieren kann. Dementsprechend nutzt die Verhaltensforschung den Spiegel für einen Test, der Indizien für das Selbstbewußtsein und die Abstraktionsfähigkeit von Lebewesen liefern soll: ob eben das Spiegelbild als Abbild, sodann ob es als Abbild der eigenen Persona erkannt wird oder nicht. Menschenkinder bestehen diesen Test in der Regel sicher im Alter von rund zwei Jahren; von den meisten Primaten und von Rabenvögeln ist diese Fähigkeit auch bezeugt.
Die Gabe, sich selbst in einem Gegenüber, einem anderen zu erkennen, hat sich im Laufe der Evolution bei den Lebewesen in unterschiedlichem Maße herausgebildet, bei den meisten Vertretern von Fauna und Flora indes offenbar gar nicht. Die Fähigkeit jedoch, jenen Spiegeleffekt durch das technische Erzeugen eines Mittels gezielt herbeizuführen, scheint etwas spezifisch Menschliches zu bleiben: Die Abstraktionsleistung des Homo sapiens sapiens, das Reflexionsgesetz im Wasser zu erahnen und schließlich auch zu erkennen, es auf polierte Flächen zu übertragen, diese herzustellen und seit dem 19. Jahrhundert durch avancierte technische Verfahren zu perfektionieren, das macht ihm bislang noch kein Affe und auch kein Rabe nach.
Der Spiegel wird überdies nicht nur als Reflexionsmedium benutzt, sondern eignet sich auch zur Übermittlung von Informationen durch das Weiterspiegeln des Sonnenlichts: Schon in der Antike soll der sogenannte Heliograph eingesetzt worden sein, um militärische Signale zu übermitteln. Wir haben hier eine weitere Abstraktionsstufe vor uns, die sich im Mediengebrauch wieder verdinglicht: Das Sonnenlicht wird mittels des Spiegels als Übertragungsmedium zu einem Zeichen, das notwendigerweise in ein ganzes Zeichensystem eingebunden sein muß, um erst einmal Bedeutung entfalten zu können.
Der Mensch, der solches kann, erscheint uns nun nicht unbedingt als ein Lebewesen, das »sinnesarm, waffenlos, nackt, in seinem gesamten Habitus embryonisch, in seinen Instinkten verunsichert« ist, (3) wie es Arnold Gehlen formuliert hatte: Aus Gehlens Perspektive sind ja technische Instrumente wie Medien dafür da, fehlende Organe zu ersetzen oder vorhandene, aber schlecht ausgebildete zu verstärken oder zu entlasten – was zweifelsohne richtig und gerade für den Medienbegriff auch wichtig ist. Gehlen meinte allerdings seine Rede vom Menschen als instinktunsicherem Mängelwesen »ausdrücklich nicht als ›Substanzbegriff‹«, sondern habe ihr »nur ›transitorischen Wert‹ für die Analyse zugeschrieben«, wie der Germanist Karl Eibl in seiner Studie Kultur als Zwischenwelt festhält. (4)
Der Mensch wäre gleichsam ein Mängelwesen, wenn man sich Hand, Hirnstruktur, damit zusammenhängend Sprache und technische Medien wegdächte, wie auch der Löwe ein Mängelwesen wäre, wenn man sich ihn ohne Zähne vorstellte. Der Witz ist aber eben der, daß der Mensch aufgrund seiner evolutionären Ausprägung genau diese Ausstattung hat, die ihn als eine Spezies in allen Räumen der Welt überleben läßt, während etwa die Ameise »nicht weniger als 12 000 hochspezialisierte Arten« braucht, »um die Welt zu besiedeln«. (5)
Was wir am Beispiel des Spiegels als Medium gut erkennen, ist jene »ex-zentrische Positionalität«, die Helmuth Plessner in den 1920er Jahren als Wesen des Menschen ausmachte und in seiner Anthropologie der Sinne und der Wahrnehmung zu entwickeln suchte. (6) Während die Tiere für ihn zentrisch geschlossen und Pflanzen azentrisch offen organisiert sind, geht der Mensch nicht auf im Hier und Jetzt seiner direkten Umwelt, sondern kann imaginär aus sich und ihr heraustreten. Diese typische Verfassung des Menschen funktioniert vor allem über seine Fähigkeit zur Medialität, und hier ist der bisher entwickelte materiell-technische Medienbegriff nun zu erweitern, wenn wir den Zusammenhang von Mensch und Medien, also einen medienanthropologischen Zusammenhang, besser in den Griff bekommen wollen.
Medialität, also Medien und Mediengebrauch des Menschen, von der Sprache bis hin zum Geigerzähler oder dem Medienverbund des Internets, ist Folge dessen, was Gehlen den menschlichen »Hiatus« nannte, einer Lücke, die sich zwischen seinen Bedürfnissen und Antrieben einerseits und den damit verbundenen Handlungen andererseits auftut – der Antrieb führt bei uns Menschen meist nicht gleich zur Handlung, idealtypisch gesprochen, sondern es gibt dazwischen einen Moment des institutionalisierten Innehaltens. Der baltendeutsche Biologe Jakob Johann von Uexküll, der 1864 als Untertan des russischen Zaren im heutigen Estland geboren wurde, ist der wohl wichtigste Pate dieser Einsicht, die nicht nur Gehlen, Plessner und andere aufgegriffen haben, um sie für das eigene anthropologische Konzept zu nutzen. Uexküll übte mit seinen biologischen und daraus entwickelten philosophischen Ideen großen Einfluß auf die Philosophie und Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, auch auf Literaten wie Alfred Döblin, Ernst Jünger oder Gottfried Benn. Am prägnantesten hat sich der aus Breslau stammende Philosoph Ernst Cassirer in seinem späten Versuch über den Menschen auf Uexküll bezogen und den Menschen auf dieser Basis als »animal symbolicum« gefaßt: »Verglichen mit den anderen Wesen, lebt der Mensch nicht nur in einer reicheren, umfassenderen Wirklichkeit; er lebt sozusagen in einer neuen Dimension der Wirklichkeit«, nicht mehr nur »in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum«. (7)
Dieses »symbolisch« konstituierte menschliche Universum, das sich gleichsam aus Gehlens »Hiatus« ausdifferenzierte, ist für uns unhintergehbar, weshalb auch die gängige vulgärkonstruktivistische, gern im Entlarvungsgestus vorgetragene Aussage, soziale Gebilde wie Nation oder Familie seien »nur Konstrukte«, weder eine neue Erkenntnis bilden noch diese Gebilde entwerten: »Näher kommt man dem Konstruktionscharakter, wenn man die kulturelle Leistung in einer Interpretation der biologischen Vorgaben sieht, die dann auch handlungsleitend werden kann.« (8) In dieser weltoffenen, zugleich auf die unablässige Arbeit des symbolischen Verzeichnens jener Welt verwiesenen Anlage des Menschen liegt auch seine Medialität begründet, was Folgen hat.
Indem unser Geist tatsächlich seine Funktionsweise über die Medienentwicklung via Wissenschaft und Technik zu einer sinnlich wahrnehmbaren Maschine veräußerlicht und damit verdinglicht, nehmen wir die Welt auch über diese externalisierten Formen wahr, das heißt, die so konstruierten Modelle und Maschinen formen und verändern unser Denken, was zunächst einmal eine Banalität ist. Medientheoretisch gesehen, ist es aber so, daß tatsächlich die habituelle Nutzung bestimmter Medien, seien es Denkmodelle oder tatsächlich greifbare Medienmaschinen wie Smartphone, Rechner oder Bücher, nicht nur unser Denken, sondern auch unsere Erfahrungen formiert. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann sprach in diesem Sinne von »Gußformen für mögliche Erfahrungen«: Diese können wir freilich nicht nur als Konventionen, als »Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln«, (9) begreifen; der Mediengebrauch formiert unsere Wahrnehmungen, damit unsere Erfahrungen, unser Denken und Fühlen auch ganz konkret – beispielsweise wenn wir das menschliche Denken vom Computer her verstehen wollen. (10)
Vom Spiegel über die Camera obscura zur Filmkamera, vom Buch über die elektronischen Medien bis zur digitalisierten Welt, vom Spiel mit handfesten Dingen und Menschen im Dreck über das Brettspiel, wo symbolische Figuren über ein symbolisches Feld bewegt werden, zur elektronisch-digitalen Spieleumgebung und zur digitalen Welt des »Second Life« (Linden Lab, 2003) ist nun eine kulturell-technische Evolution dieser Medien zu konstatieren, die sich in den letzten 200 Jahren ungeheuer beschleunigt hat und in alle Richtungen wie auf allen Ebenen auf den Menschen zurückwirkt.
Wie Narziß im Spiegel des Wassers seine Welt verlor und im Widerschein seines Bildes versank, so läßt sich heute ein solcher Weltverlust bisweilen beobachten, wenn wir an das Agieren des Menschen in digitalen Medien-Verbünden wie Facebook, Instagram, WhatsApp, Twitter, Reddit, TikTok, Minecraft e tutti quanti denken. Es soll hier keinesfalls einer grundsätzlichen Ablehnung dieser Medienevolution das Wort geredet werden, denn sie liegt, das sollte deutlich geworden sein, im Wesen des Menschen begründet und läßt sich nicht einfach negieren – wie auch? Die Unvermeidlichkeit und der Nutzen vieler solcher Entwicklungen sind kaum bestreitbar.
Das Problem, das zu umreißen ist, liegt vielmehr in den Abhängigkeitsverhältnissen, die sich aus der qualitativ neuen Dichte dieses nach außen gestülpten »Symbolnetzes« des Menschen (Cassirer) und der damit verbundenen Durchdringung der menschlichen Lebenswelt ergeben. Daß uns hier ein Weltverlust droht, begründet sich erstens in einer perfektionierten Kultur der Zerstreuung und der Aufmerksamkeitszerstörung durch die digitalisierte Kulturindustrie, zweitens in der digitalen Bindung des Nutzers, die ihn einer »sanften«, scheinbar zwanglosen Überwachung und Disziplinierung ausliefert.
Dies ist mit einer schleichenden Enteignung persönlicher Daten und Datenhoheit verbunden, der Zerstörung jener segensreichen bürgerlichen Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, die schließlich in die Superstruktur eines Surveillance Capitalism mündet, wie sie Shoshana Zuboff beschreibt. (11) Die durch das Corona-Regime ebenso beschleunigte wie der menschlichen Bequemlichkeit willkommene Verlagerung des Handels samt Bezahlvorgängen auf digitale Plattformen sowie Recherche, Lektüre und Meinungsäußerung im Internet bzw. in »Social Media« verankern das global ausgreifende neue System des Überwachungskapitalismus fest in unserem Alltag, so daß ein Weg ins »wilde Draußen« immer schwerer zu bahnen sein wird.
Inzwischen treten immerhin Pioniere dieser Entwicklung wie Jaron Lanier an, um die Mechanismen der Verhaltensmodifikationen über die digitalen Netzwerke und deren ökonomische Logik im traditionellen Medium des Buchs herauszustellen und dafür zu werben, man solle wenigstens eine Zeitlang seine Social-Media-Accounts löschen und etwas in der analogen Welt tun. (12) Wenn wir Bernard Stiegler folgen, kann ein solcher individueller Entschluß zur zeitweiligen Medienenthaltsamkeit freilich nur einen ersten Schritt zur persönlichen Befreiung aus einer neuen Unmündigkeit bilden: Für ihn gilt es, vielmehr eine »Schlacht der Intelligenz« für und um die Intelligenz zu führen – diese müsse sich gegen jene »Psychopolitik« richten, die »nicht länger von Nationalstaaten und ihren Programminstitutionen abhängig« sei, »sondern vielmehr von deterritorialisierten ökonomischen Kräften« ausgehe. (13)
Damit ist freilich ein altes Problem unter modernen Bedingungen aufgerufen: Muß und kann die Wirtschaft, die mit Walther Rathenau zweifelsohne unser Schicksal ist, durch die Politik gebändigt werden, um ein freies Gemeinwesen zu ermöglichen? Welche Politik, und vor allem: welcher Politiker wäre in der Lage, dies überhaupt als Problem zu formulieren? Darüber muß nachgedacht werden, auch von jenen, die sich mit Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek oder Murray Rothbard in einer im Mittelstand gegründeten Wirtschaft den Hort der Freiheit angesichts übergriffiger Staatsgewalt erhoffen. Wenn wir als Medientiere die Funktionsweisen unserer Medien sowie die damit zusammenhängenden ökonomischen Verwertungsmechanismen in Gegenwart und Zukunft nicht durchdringen, ist die Welt für unsere Welt verloren.
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(1) – Ovids Metamorphosen. Übersetzt von Reinhart Suchier. Erster Theil. Stuttgart 1858, S. 94 (V 509 f.).
(2) – Joachim Schickel: Der Logos des Spiegels. Struktur einer spekulativen Metapher, Bielefeld 2014, S. 23 f.
(3) – Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 8.
(4) – Karl Eibl: Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive, Frankfurt a. M. 2009, S. 12.
(5) – Ebd., S. 47.
(6) – Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975 (zuerst 1928), bes. S. 288 – 293.
(7) – Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur, Hamburg 2007 (zuerst 1944), S. 51, 49, 50.
(8) – Eibl: Kultur als Zwischenwelt, S. 29.
(9) – Zit. nach ebd., S. 43.
(10) – Vgl. dazu Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge. Der Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien, Frankfurt a. M. 2008; ders.: Von der Biopolitik zur Psychomacht. Die Logik der Sorge I.2, Frankfurt a. M. 2009.
(11) – Vgl. Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a. M. / New York 2018.
(12) – Vgl. Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen mußt, Hamburg 2018.
(13) – Stiegler: Von der Biopolitik zur Psychomacht, S. 12, 49.