Während zunächst vor allem frühere hohe Wehrmachtoffiziere ihre Erlebnisse und Schlußfolgerungen publizierten, bekam die Diskussion im Jahre 1989 durch die Bücher Der Eisbrecher und Der Tag M des ehemaligen Offiziers des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU, Viktor Suworow, neuen Schub. Suworow alias Wladimir Resun kam allein durch Analyse offiziell zugänglichen Sowjetmaterials zu dem Schluß, daß Stalin einen Angriff auf Westeuropa geplant hatte.
In dem kurzen Zeitfenster der teilweisen Öffnung bisher verschlossener Sowjetarchive in den 1990er Jahren wurden Dutzende von Büchern, Artikeln und Reportagen zum Thema veröffentlicht, auch unter reger Beteiligung von russischen Forschern. Das wohl größte Verdienst russischer Wissenschaftler war im Jahr 1998 die Herausgabe des Dokumentenwerkes Das Jahr 1941, das erstmals in großer Fülle bisher unbekannte sowjetische Quellen präsentiert, die die Aggressionsabsichten Stalins belegen. Das wohl wichtigste Schriftstück darin ist die Lageeinschätzung des sowjetischen Verteidigungsministers Timoschenko und des Generalstabschefs der Roten Armee Schukow für Stalin vom 15. Mai 1941, in dem es u. a. heißt: »In Betracht ziehend, daß Deutschland gegenwärtig seine Armee einschließlich rückwärtiger Dienste mobilisiert hält, kann es uns beim Aufmarsch zuvorkommen und einen Überraschungsschlag führen.« So ist es ja dann auch gekommen.
Dieser Sammelband stieß in Deutschland auf wenig Resonanz und wurde nicht ins Deutsche übersetzt. Nur wenige Historiker – Heinz Magenheimer, Walter Post, Stefan Scheil – berücksichtigten die neue Quellenlage in ihren Arbeiten. Auch der frühere NVA-General Bernd Schwipper gehört dazu. Er hat mit seinem Erstlingswerk, Deutschland im Visier Stalins, durch Auswertung sowjetischer Dokumente die Angriffsvorbereitungen der Roten Armee klar herausgearbeitet. Zugute kamen ihm seine Kenntnisse der russischen Sprache sowie die Ausbildung an der Akademie des Generalstabs der Sowjetunion mit dem Abschluß eines Diplommilitärwissenschaftlers. Er ist mit der Denkweise sowjetischer Militärs vertraut. Als Soldat beherrscht er die militärische Terminologie und kann Generalstabskarten lesen. Eine Fähigkeit, die vielen westlichen Militärhistorikern abgeht.
Nun hat sich Schwipper in einer zweiteiligen Untersuchung mit dem damaligen deutschen Kenntnisstand über die immer stärker werdende Konzentration von Sowjettruppen an der Westgrenze der UdSSR auseinandergesetzt und kommt zu dem Schluß, die Wehrmachtführung habe über die zunehmende Bedrohung Bescheid gewußt, ohne sie jedoch in ihrer ganzen Dimension zu erfassen. Zunächst schildert der Autor Organisation und Aufgaben der Gegneraufklärung auf deutscher Seite, etwa Funkaufklärung, Luftraumbeobachtung, Nachrichtendienst, die Lageberichte der Wehrmacht über Rußland oder Aktenfunde aus Kurierflugzeugen.
In der Phase der »friedlichen Koexistenz« nach dem Abschluß des »Nichtangriffspaktes« im August 1939 bis zur Annexion der baltischen Staaten durch Stalin im Juni 1940 war die Masse der Wehrmacht 1939 in Polen und 1940 in Frankreich konzentriert. Als die für die Gegnerbeobachtung zuständige Wehrmachtabteilung Fremde Heere Ost im Sommer 1940 feststellte, daß die Sowjetarmee 97 Divisionen und zwölf motorisierte Brigaden – rund 116 Divisionen in den westlichen Militärbezirken insgesamt – unmittelbar an der sowjetischen Westgrenze disloziert hatte, war sie den wenigen und kaum schlagkräftigen deutschen Divisionen haushoch überlegen. Diese Aufklärungserkenntnisse flossen ein in eine Vortragsnotiz »über Rußland« vom 24. Juli 1940 für Hitler.
Für Schwipper handelt es sich hier um ein Schlüsseldokument, das ein Umdenken der deutschen Seite einleitete. Denn statt die eigentlich geplante umfangreiche Demobilisierung deutscher Divisionen durchzuführen, um Arbeitskräfte für die Wirtschaft freizubekommen, mußte die deutsche Seite reagieren. Der Hitler zugeschriebene Satz »Russisches Problem in Angriff nehmen« ist einerseits mit der Angliederung Estlands, Lettlands und Litauens durch Stalin und zum anderen mit dem nun erkannten Aufmarsch der Roten Armee zu erklären. Im Sommer 1940 befand sich in Ostpreußen und im »Generalgouvernement« lediglich die deutsche 18. Armee mit 15 nichtmotorisierten Infanteriedivisionen. Alle deutschen Luftstreitkräfte waren im Westen gebunden. In den kommenden Wochen wurden nun Zug um Zug freigewordene Truppen ins besetzte Polen verlegt.
Schwipper arbeitet die Genese des Plans »Barbarossa« nachvollziehbar heraus. Er zeigt, wie militärische Aufklärungsergebnisse und politische Ereignisse – etwa die Annäherung zwischen der Sowjetunion und Großbritannien – die strategischen Überlegungen Hitlers beeinflußten. Nach dem ernüchternden Besuch von Sowjetaußenminister Molotow im November 1940 in Berlin mit seiner provokanten Präsentation weitgehender politisch-territorialer Forderungen und der Ablehnung aller deutschen Kompromißvorschläge nahm das Aufmarschtempo auf beiden Seiten zu, und die Nachrichtenmenge schwoll an. Auch die zunehmenden sowjetisch-britischen Aktivitäten auf dem Balkan, den Hitler unbedingt aus dem Krieg heraushalten wollte, trieben die Eskalation voran.
Schwipper publiziert viele Quellen in Faksimile. Es handelt sich um sowjetische Beutedokumente der Wehrmacht, deren Echtheit durch Angaben der Herkunft, der Bearbeiter, des Datums, der Geheimhaltungsvermerke, durch Unterschriften, Eingangsstempel, Vermerke und deutliche Gebrauchsspuren belegt wird. Sie haben eine gänzlich andere Qualität als etwa das berühmte »Hoßbach-Protokoll«. Stringent gegliedert und mit einordnenden Kommentaren versehen, zeigen sie, daß die Wehrmacht durchaus wußte, was sich im Osten anbahnte. Kleines Manko am Rande: Dem Werk hätte ein gründliches Lektorat gutgetan.
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Bernd Schwipper: Die Aufklärung der Bedrohung aus dem Osten. Die Prävention durch die Wehrmacht, Band 1: 1939 bis Dezember 1940, 480 S., 29,80 €; Band 2: Januar bis 22. Juni 1941, 640 S., 34,80 €. Bautzen: Verlag für Frieden, Freiheit & Wahrheit 2022
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