Bernd Schwipper: Die Aufklärung der Bedrohung aus dem Osten

von Olaf Haselhorst --

Der wissenschaftliche Streit um die Frage, ob die deutsche Wehrmacht mit ihrem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 einer Invasion der Roten Armee im letzten Moment zuvorgekommen war, ist nie abgerissen.

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Wäh­rend zunächst vor allem frü­he­re hohe Wehr­macht­of­fi­zie­re ihre Erleb­nis­se und Schluß­fol­ge­run­gen publi­zier­ten, bekam die Dis­kus­si­on im Jah­re 1989 durch die Bücher Der Eis­bre­cher und Der Tag M des ehe­ma­li­gen Offi­ziers des sowje­ti­schen Mili­tär­ge­heim­diens­tes GRU, Vik­tor Suwo­row, neu­en Schub. Suwo­row ali­as Wla­di­mir Resun kam allein durch Ana­ly­se offi­zi­ell zugäng­li­chen Sowjet­materials zu dem Schluß, daß Sta­lin einen Angriff auf West­europa geplant hatte.

In dem kur­zen Zeit­fens­ter der teil­wei­sen Öff­nung bis­her ver­schlos­se­ner Sowjet­ar­chi­ve in den 1990er Jah­ren wur­den Dut­zen­de von Büchern, Arti­keln und Repor­ta­gen zum The­ma ver­öf­fent­licht, auch unter reger Betei­li­gung von rus­si­schen For­schern. Das wohl größ­te Ver­dienst rus­si­scher Wis­sen­schaft­ler war im Jahr 1998 die Her­aus­ga­be des Doku­men­ten­wer­kes Das Jahr 1941, das erst­mals in gro­ßer Fül­le bis­her unbe­kann­te sowje­ti­sche Quel­len prä­sen­tiert, die die Aggres­si­ons­ab­sich­ten Sta­lins bele­gen. Das wohl wich­tigs­te Schrift­stück dar­in ist die Lage­ein­schät­zung des sowje­ti­schen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ters Timo­schen­ko und des Gene­ral­stabs­chefs der Roten Armee Schu­kow für Sta­lin vom 15. Mai 1941, in dem es u. a. heißt: »In Betracht zie­hend, daß Deutsch­land gegen­wär­tig sei­ne Armee ein­schließ­lich rück­wär­ti­ger Diens­te mobi­li­siert hält, kann es uns beim Auf­marsch zuvor­kom­men und einen Über­ra­schungs­schlag füh­ren.« So ist es ja dann auch gekommen.

Die­ser Sam­mel­band stieß in Deutsch­land auf wenig Reso­nanz und wur­de nicht ins Deut­sche über­setzt. Nur weni­ge His­to­ri­ker – Heinz ­Magen­hei­mer, ­Wal­ter Post, Ste­fan Scheil – berück­sich­tig­ten die neue Quel­len­la­ge in ihren Arbei­ten. Auch der frü­he­re NVA-Gene­ral Bernd Schwip­per gehört dazu. Er hat mit sei­nem Erst­lings­werk, Deutsch­land im Visier Sta­lins, durch Aus­wer­tung sowje­ti­scher Doku­men­te die Angriffs­vor­be­rei­tun­gen der Roten Armee klar her­aus­ge­ar­bei­tet. Zugu­te kamen ihm sei­ne Kennt­nis­se der rus­si­schen Spra­che sowie die Aus­bil­dung an der Aka­de­mie des Gene­ral­stabs der Sowjet­uni­on mit dem Abschluß eines Diplom­mi­li­tär­wis­sen­schaft­lers. Er ist mit der Denk­wei­se sowje­ti­scher Mili­tärs ver­traut. Als Sol­dat beherrscht er die mili­tä­ri­sche Ter­mi­no­lo­gie und kann Gene­ral­stabs­kar­ten lesen. Eine Fähig­keit, die vie­len west­li­chen Mili­tär­his­to­ri­kern abgeht.

Nun hat sich Schwip­per in einer zwei­tei­li­gen Unter­su­chung mit dem dama­li­gen deut­schen Kennt­nis­stand über die immer stär­ker wer­den­de Kon­zen­tra­ti­on von Sowjet­trup­pen an der West­gren­ze der UdSSR aus­ein­an­der­ge­setzt und kommt zu dem Schluß, die Wehr­macht­füh­rung habe über die zuneh­men­de Bedro­hung Bescheid gewußt, ohne sie jedoch in ihrer gan­zen Dimen­si­on zu erfas­sen. Zunächst schil­dert der Autor Orga­ni­sa­ti­on und Auf­ga­ben der Geg­ner­auf­klä­rung auf deut­scher Sei­te, etwa Funk­auf­klä­rung, Luft­raum­be­ob­ach­tung, Nach­rich­ten­dienst, die Lage­be­rich­te der Wehr­macht über Ruß­land oder Akten­fun­de aus Kurierflugzeugen.

In der Pha­se der »fried­li­chen Koexis­tenz« nach dem Abschluß des »Nicht­an­griffs­pak­tes« im August 1939 bis zur Anne­xi­on der bal­ti­schen Staa­ten durch Sta­lin im Juni 1940 war die Mas­se der Wehr­macht 1939 in Polen und 1940 in Frank­reich kon­zen­triert. Als die für die Geg­ner­be­ob­ach­tung zustän­di­ge Wehr­macht­ab­tei­lung Frem­de Hee­re Ost im Som­mer 1940 fest­stell­te, daß die Sowjet­ar­mee 97 Divi­sio­nen und zwölf moto­ri­sier­te Bri­ga­den – rund 116 Divi­sio­nen in den west­li­chen Mili­tär­be­zir­ken ins­ge­samt – unmit­tel­bar an der sowje­ti­schen West­gren­ze dis­lo­ziert hat­te, war sie den weni­gen und kaum schlag­kräf­ti­gen deut­schen Divi­sio­nen haus­hoch über­le­gen. Die­se Auf­klä­rungs­er­kennt­nis­se flos­sen ein in eine Vortrags­notiz »über Ruß­land« vom 24. Juli 1940 für Hitler.

Für Schwip­per han­delt es sich hier um ein Schlüs­sel­do­ku­ment, das ein Umden­ken der deut­schen Sei­te ein­lei­te­te. Denn statt die eigent­lich geplan­te umfang­rei­che Demo­bi­li­sie­rung deut­scher Divi­sio­nen durch­zu­füh­ren, um Arbeits­kräf­te für die Wirt­schaft frei­zu­be­kom­men, muß­te die deut­sche Sei­te reagie­ren. Der Hit­ler zuge­schrie­be­ne Satz »Rus­si­sches Pro­blem in Angriff neh­men« ist einer­seits mit der Anglie­de­rung Est­lands, Lett­lands und Litau­ens durch Sta­lin und zum ande­ren mit dem nun erkann­ten Auf­marsch der Roten Armee zu erklä­ren. Im Som­mer 1940 befand sich in Ost­preu­ßen und im »Gene­ral­gou­ver­ne­ment« ledig­lich die deut­sche 18. Armee mit 15 nicht­mo­to­ri­sier­ten Infan­te­rie­di­vi­sio­nen. Alle deut­schen Luft­streit­kräf­te waren im Wes­ten gebun­den. In den kom­men­den Wochen wur­den nun Zug um Zug frei­ge­wor­de­ne Trup­pen ins besetz­te Polen verlegt.

Schwip­per arbei­tet die Gene­se des Plans »Bar­ba­ros­sa« nach­voll­zieh­bar her­aus. Er zeigt, wie mili­tä­ri­sche Auf­klä­rungs­er­geb­nis­se und poli­ti­sche Ereig­nis­se – etwa die Annä­he­rung zwi­schen der Sowjet­uni­on und Groß­bri­tan­ni­en – die stra­te­gi­schen Über­le­gun­gen ­Hit­lers beein­fluß­ten. Nach dem ernüch­tern­den Besuch von Sowjetaußen­minister ­Molo­tow im Novem­ber 1940 in Ber­lin mit sei­ner pro­vo­kan­ten Prä­sen­ta­ti­on weit­ge­hen­der poli­tisch-ter­ri­to­ria­ler For­de­run­gen und der Ableh­nung aller deut­schen Kom­pro­miß­vor­schlä­ge nahm das Auf­marsch­tem­po auf bei­den Sei­ten zu, und die Nach­rich­ten­men­ge schwoll an. Auch die zuneh­men­den sowje­tisch-bri­ti­schen Akti­vi­tä­ten auf dem Bal­kan, den Hit­ler unbe­dingt aus dem Krieg her­aus­hal­ten woll­te, trie­ben die Eska­la­ti­on voran. 

Schwip­per publi­ziert vie­le Quel­len in Fak­si­mi­le. Es han­delt sich um sowje­ti­sche Beute­dokumente der Wehr­macht, deren Echt­heit durch Anga­ben der Her­kunft, der Bear­bei­ter, des Datums, der Geheim­hal­tungs­ver­mer­ke, durch Unter­schrif­ten, Ein­gangs­stem­pel, Ver­mer­ke und deut­li­che Gebrauchs­spu­ren belegt wird. Sie haben eine gänz­lich ande­re Qua­li­tät als etwa das berühm­te »Hoß­bach-Pro­to­koll«. Strin­gent geglie­dert und mit ein­ord­nen­den Kom­men­ta­ren ver­se­hen, zei­gen sie, daß die Wehr­macht durch­aus wuß­te, was sich im Osten anbahn­te. Klei­nes Man­ko am Ran­de: Dem Werk hät­te ein gründ­li­ches Lek­to­rat gutgetan.

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Bernd Schwip­per: Die Auf­klä­rung der Bedro­hung aus dem Osten. Die Prä­ven­ti­on durch die Wehr­macht, Band 1: 1939 bis Dezem­ber 1940, 480 S., 29,80 €; Band 2: Janu­ar bis 22. Juni 1941, 640 S., 34,80 €. Baut­zen: Ver­lag für Frie­den, Frei­heit&Wahr­heit 2022 

 

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