Josef Braml (Jg. 1968) macht schon im Untertitel deutlich, worauf er hinauswill: auf die Selbstbehauptung in einer unsicher gewordenen Zeit. Damit nimmt er den Mund recht voll, wenn man sich seine Ratschläge dazu anschaut, die alle darauf hinauslaufen, die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen. Mit dem »wir« im Titel ist also die EU gemeint. Nun wissen wir aus leidiger Erfahrung, daß etwas, was der EU oder anderen EU-Staaten nützt, noch lange nicht im deutschen Interesse sein muß. Die Einführung des Euro ist ein Beispiel dafür. Bramls Ratschläge zur Handels- und Finanzpolitik bewegen sich aber grundsätzlich in diese Richtung, wenn er beispielsweise empfiehlt, daß Deutschland im Interesse der europäischen Partner seine Handelsbilanzüberschüsse abbauen sollte.
Auch wenn sich Braml hier der europäischen Illusion erlegen zeigt, ist seine Entzauberung der Vereinigten Staaten lesenswert. Der bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik für die transatlantischen Beziehungen zuständige Politikwissenschaftler sieht nicht nur die heikle Lage der amerikanischen Staatsfinanzen richtig, sondern diagnostiziert auch ein Abnehmen der Strahlkraft des Liberalismus. Unter Trump sei die Abkehr der Amerikaner von ihrer Rolle als weltweite Schutzmacht der Demokratien deutlich geworden, die sich schon vorher abgezeichnet habe. Amerika werde sich in Zukunft verstärkt auf sich selbst und den Wettstreit mit China konzentrieren. Daher besteht die transatlantische Illusion nach Braml darin, daß hierzulande weiterhin davon ausgegangen wird, daß die Vereinigten Staaten auch in Zukunft unsere Sicherheit verteidigen und uns einen privilegierten Zugang zu ihrer Wirtschaft gewähren würden.
Das ist vielleicht keine besonders originelle Einsicht, nachdem die Amerikaner sang- und klanglos aus Afghanistan abgezogen sind, allerdings müßten die Konsequenzen dieser Einsicht angesichts des Krieges in der Ukraine sehr weit gehend sein: Wenn die Amerikaner unsere Sicherheit nicht mehr gegen die Atommacht Rußland verteidigen werden, sollten wir uns nicht von ihnen in einen Krieg gegen die Russen hineinziehen lassen. So müßte die Konsequenz zumindest lauten, wenn da nicht die westlichen »Werte« wären, die dort angeblich verteidigt werden.
Braml ist auch hier erstaunlich deutlich, wenn er zeigt, daß das deutsche bzw. europäische »wertebasierte« Interesse an einer regelbasierten internationalen Ordnung von den Amerikanern zunehmend weniger geteilt wird. Das ist insofern problematisch, da weder Deutschland noch die EU diese Ordnung durchsetzen können, wenn die Amerikaner nicht mehr mitziehen. Denn es könnte sich eines Tages herausstellen, so Braml, daß sich die USA mit Rußland verständigen müssen, um China etwas entgegensetzen zu können.
Auch wenn die Wertebasis der amerikanischen Außenpolitik noch nie besonders ausgeprägt war, ist es verdienstvoll von Braml, daß er, wenn auch im Rahmen seiner europäischen Illusion, Deutschland und Frankreich empfiehlt, eine gemeinsame Sicherheitsstrategie zu verfolgen, die auch die nukleare Abschreckung beinhaltet. Über diese verfügt Frankreich, ohne sie bislang in eine europäische Gesamtstrategie einzubringen. Fraglich bleibt, ob Frankreich das überhaupt will und welche Kröten Deutschland dafür schlucken müßte.
Allerdings ließe sich im Falle einer Umsetzung auch besser mit Rußland verhandeln, das Europa nicht ernst nehmen kann, solange dieses ein Vasall der Amerikaner ist.
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Josef Braml: Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können, München: C. H. Beck 2022. 176 S., 16,95 €
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