Ein solcher Befund indiziert ein Unbehagen am Selbstverständnis der amerikanisch-europäischen Moderne, wie sie sich im 18. Jahrhundert herauskristallisiert hat. Deren zentrale Stoßrichtung (Individualismus, Recht der Kritik, Autonomie des Handels und so fort), aber auch Ambivalenzen und Totalismen verschiedener Art sind bis in die Gegenwart einflußreich.
Die vielfältige Verschlungenheit von Hyper- und Gegenmoderne, Aufklärung und Mythos, Historie und Posthistorie ist von Nietzsche, der »Drehscheibe der Postmoderne« (Habermas), bis Habermas prominent dargestellt worden. Letzterer ist vor rund vier Jahrzehnten mit einer besonders einseitigen Interpretation hervorgetreten. In seinen Vorlesungen zum philosophischen »Diskurs der Moderne« identifiziert er Postmoderne zuvörderst mit neostrukturalistischer Vernunftkritik und neokonservativer Fortschrittsopposition.
Derart unterkomplex kommt der Philosoph und Publizist Daniel-Pascal Zorn nicht daher. Seine umfangreiche Schrift ist eine ausgiebige Wanderung über Gipfel und Täler der Gegenwartsphilosophie und deren Vorläufer bis in die Frühe Neuzeit hinein. Dem Leser wird einiges abverlangt. Er erhält aber auch gewinnbringende Aussichten.
Der Autor findet seinen roten Faden durch die Stoffmassen vor allem in der Analyse des Absoluten, das zu allen Zeiten eine zentrale Rolle in philosophischen Auseinandersetzungen spielt. Seit dem 17. Jahrhundert kommt die Begründung der Transzendenz und der absoluten Herrschaft vermehrt in die Krise. Schnell sind aber Surrogate auf verschiedenen Ebenen (Glaube, Gesellschaft etc.) gefunden: der Mensch (in diversen Renaissance-Philosophien), Denken (Descartes), Natur (Spinoza), Vernunft (Hegel), Proletariat (Marx) und Rasse (Nationalsozialismus), die für ihre Vertreter allesamt Medien zur innerweltlichen Sinnerfüllung darstellen.
Protagonist einer solchen Übersetzungsleistung des Absoluten ist der Philosoph Hegel, der wie kaum ein anderer Denker den Riß zwischen Herkunft und Zukunft exponiert. Er versucht, die für die Moderne charakteristische Gemengelage von Fortschritt und Entfremdung auf den Begriff zu bringen.
Jedoch kennt die Geistesgeschichte neben ganzheitlichen Systematikern auch deren relativistische Antipoden, etwa den Philosophen David Hume. Er kann als wichtiger Vorläufer der Kritik absoluter (Erkenntnis-)Fundamente gelten. Zorn erörtert darüber hinaus ausführlich die (weithin gegensätzlich gesinnten) Professoren Theodor W. Adorno und Joachim Ritter im Umkreis des postmodernen Umbruchs. Sie rechnet man gemeinhin nicht zu den Kritikern der großen sinnstiftenden Erzählungen (wie der Ideologien), deren Verabschiedung ein wichtiges Motiv von Postmoderne-Vertretern ist.
Zorn arbeitet gründlich exzellente Vertreter, die die Krise des Absoluten thematisieren, heraus: Foucault, Derrida, Deleuze, Lyotard, Rorty, Wittgenstein und andere. Während der gleichfalls erwähnte Carl Schmitt (und einzelne seiner Anhänger wie Koselleck) nur am Rande solcher Ansätze wirkte, wird ein zentraler Gelehrter wie Paul Feyerabend ignoriert. Dessen berühmte Devise »Anything goes« und seine Befürwortung des Methoden-Pluralismus dürfen als wesentliches Motiv postmoderner Kritik an der angeblich zu monologisch-eindimensionalen Moderne gelten. Zu den folgenreichsten Transformationen, die Zorn nicht entgehen, zählt die Daseinsrelativierung des Menschen durch intelligente Apparate – Kontroversen, die seit den 1940er Jahren die »Abschaffung des Menschen« (C. S. Lewis) am Horizont aufleuchten lassen.
Wenngleich sich Zorn an einigen Stellen zu sehr vom Fabulieren mitreißen läßt, setzt seine Schrift Maßstäbe. Ein Personen- und ein Sachregister wären für den Rezipienten hilfreich gewesen.
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Daniel-Pascal Zorn: Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können,
Stuttgart: Klett-Cotta 2022. 648 S., 38 €
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