Der Philosoph verwies in seiner Replik als Grund für die Beschäftigung auf die Nachwirkungen modernekritischer Traktate in der frühen Nachkriegszeit: von Romano Guardinis Abhandlung Das Ende der Neuzeit über Hans Sedlmayrs Sezierung von Symbolen der modernen Kunst bis zu Eric Voegelins Verdikt, die Neuzeit sei von gnostischen Ansätzen durchzogen.
Was bereits Mitte der 1960er Jahre zutraf, als der öffentliche Durchbruch progressiver Ideologien schon zu bemerken war, gilt heute a fortiori. Überblickt man die öffentlichen Debatten der letzten Jahre – exemplarisch sind Gender-Mainstreaming, Inklusion und Migrations-Euphorie zu nennen –, so kann man kein Abweichen von der Grundtendenz der kulturellen Moderne feststellen, die die Loslösung aus überlieferten Herkunftsstrukturen zum obersten Ziel politischen Handelns erhebt.
Intellektuelle Spürnasen, die stets Ausschau nach regressiven Erscheinungen halten, freuen sich über vereinzelte Stürme im Wasserglas, die medial gern aufgebauscht werden. Der Publizist Karl-Heinz Ott trägt einige zusammen: die vermeintliche Eroberung des Reichstages durch ominöse Querdenker; skurrile Schamanen dringen ins Washingtoner Kapitol ein; Pegida-Demonstranten protestieren medienwirksam gegen Islamisierung. Diese Ereignisse passen gut zur Konjunktur von Verschwörungstheorien in Corona-Zeiten. Kurzum: Zentrale Theoreme der Neuzeit – wie der Individualismus – drohen auf den Prüfstand gestellt zu werden. So eine bestimmte Narration.
Der umfangreiche Essay Otts hält sich aber nur wenig mit Gegenwartsanalysen auf. Eine illustre Mischung von Antimodernen wird kurz dargestellt, so der polnische Rechtskatholik Ryszard A. Legutko, der frühere Reformkommunist Roger Garaudy, der später als angeblicher Holocaust-Leugner ins Gerede kam, sowie der ehemalige US-Justizminister William Barr.
Hauptsächlich setzt sich der Autor mit bedeutenden Neuzeit-Kritikern auseinander: Eric Voegelin, der den Verfall von Ordnungsstrukturen in der Moderne analysierte, Leo Strauss auf der Basis einer naturrechtlichen Argumentation und Carl Schmitt, der den zunehmenden staatlichen Souveränitätsverlust beklagte. Weiter spielen Gelehrte wie Karl Löwith und François-René de Chateaubriand eine Rolle.
Gemeinsam ist diesen Denkern der Widerspruch gegen eine verabsolutierte Vernunft, wie sie sich seit der mit dem Namen Descartes verbundenen Wende abzeichnet. Ott zeigt anhand von Beispielen, etwa der Belletristik, wie gegen rationalistische Einseitigkeiten Einsprüche vorgebracht wurden, besonders pointiert in Cervantes’ Epos Don Quijote, aber auch in anderen Romanen wie in Victor Hugos Notre-Dame de Paris. Ott hätte auch Pascals Schaudern über die unendlichen Räume des Kosmos thematisieren können, die sich als Folge der astronomischen Beobachtungen von Kopernikus über Galilei bis Kepler eröffnet haben. Moderne Konzeptionen stehen überall neben modernekritischen und bringen diese quasi dialektisch hervor.
Ungeachtet dieser zustimmungsfähigen These, ist doch der offenkundig sprunghafte Duktus Otts für oberflächliche Aussagen (»Die Vernunft kann nur die Oberhand behalten, wenn sie ihre Gegner kennt«) und Analysen verantwortlich. Verdächtigungen und Insinuationen lugen zwischen den Zeilen hervor. Die anspruchsvollen Passagen des Buches deuten aber an, wie wichtig es wäre, die Problematik der politischen Reaktion systematisch und ohne volkspädagogischen Ton zu entfalten.
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Karl-Heinz Ott: Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens, München: Carl Hanser Verlag 2022. 431 S., 26 €
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