Kuzias: Das Selbstgespräch der Zeit in der deutschen Hölderlinrezeption

von Ivor Claire --

Das Hölderlin-Erlebnis habe in kaum einer intellektuellen Biographie der Zwischenkriegszeit gefehlt, schrieb Henning Bothe 1992 in einer Studie zur Rezeption dieses Dichters.

 Druckausgabe

Beitrag aus der Druckausgabe der Sezession. Abonnieren Sie!

Zwar ist es kei­nes­wegs so, daß Höl­der­lin im 19. Jahr­hun­dert ver­ges­sen war – Nietz­sche hat­te sich mit ihm befaßt, schon vor der Jahr­hun­dert­wen­de erschien man­cher tri­via­le Höl­der­lin-Roman, und man begann, sich phi­lo­lo­gisch mit der Edi­ti­on sei­ner Wer­ke zu beschäf­ti­gen. Als sich aber Geor­ge und sein Kreis des schwä­bi­schen Dich­ters annah­men, im Grun­de aus­ge­löst durch die berühmt gewor­de­ne Edi­ti­on von ­Höl­der­lins Gedich­ten durch Nor­bert von Hel­ling­rath, erhielt jene Rezep­ti­on eine neue Qua­li­tät. ­Hel­ling­raths Tod 1916 in der Schlacht von Ver­dun trug in der Wei­ma­rer Repu­blik zur Kano­ni­sie­rung sei­ner Höl­der­lin-­Aus­ga­be bei.

Der Geor­ge­kreis adap­tier­te und pro­pa­gier­te den repu­bli­ka­ni­schen Dich­ter der Zeit um 1800 als vater­län­di­schen, und so wur­de ­Höl­der­lin ein renom­mee­träch­ti­ger Gegen­stand der deut­schen Phi­lo­lo­gie und der bür­ger­li­chen Bil­dung. Dies soll­te die Sys­te­me über­dau­ern, denkt man an die Höl­der­lin-Exege­sen Mar­tin Heid­eg­gers in der NS-Zeit oder sei­ne mit brü­chi­ger Stim­me vor­ge­tra­ge­ne Gedicht­re­zi­ta­ti­on in der frü­hen BRD. Noch weit in der Nach­kriegs­zeit fin­den sich auch in der DDR und der zwei­ten öster­rei­chi­schen Repu­blik deut­li­che Spu­ren des Man­nes aus dem Tübin­ger Turm, in der Lite­ra­tur eben­so wie in den damals noch leben­di­gen Geisteswissenschaften.

Es gibt inzwi­schen viel Fach­li­te­ra­tur, die phi­lo­lo­gi­sche Pro­duk­ti­ons­ma­schi­ne­rie läuft wei­ter wie geölt: So wird die his­to­risch-kri­ti­sche Aus­ga­be von Franz Zinker­nagel neu ediert, auch das Höl­der­lin-Hand­buch ist 2020 in einer erwei­ter­ten Auf­la­ge erschie­nen, die nun neue Arti­kel zur ost­eu­ro­päi­schen Rezep­ti­on ent­hält. Trotz fort­schrei­ten­der Digi­ta­li­sie­rung blei­ben indes älte­re Rezep­ti­ons­zeug­nis­se meist noch eher müh­sam zu fin­den – und die­se lesen sich dann oft anders, als man es aus der Lek­tü­re man­cher Sekun­där­li­te­ra­tur her­aus ver­mu­ten wür­de. Daher ist es rich­tig und wich­tig, sol­che Zeug­nis­se selbst bereit­zu­stel­len, wie dies Alfred Kell­etat schon 1961 getan hat und nun der Leip­zi­ger Phi­lo­soph ­Tho­mas Kuzi­as erneut angeht.

Mit sei­ner so ambi­tio­nier­ten wie umfang­rei­chen Samm­lung knüpft er erklär­ter­ma­ßen an sei­nen Vor­gän­ger an, trägt die dort nicht abge­deck­te Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik nach und doku­men­tiert auch das Inter­es­se an Höl­der­lin vor ­Hel­ling­rath. So ver­sam­melt Kuzi­as sei­ne Rezeptions­zeugnisse in chro­no­lo­gi­scher Ord­nung, die sich in die drei »Epo­chen« der »Kai­ser­zeit«, der »Wei­ma­rer Repu­blik« und des »Drit­ten Rei­ches« glie­dert. Für die­je­ni­gen, die sich nur für einen der behan­del­ten Zeit­ab­schnit­te inter­es­sie­ren, bie­tet der Ver­lag jede die­ser »Epo­chen« als bro­schier­ten Ein­zel­band an. Es fin­den sich dar­in man­che Pre­zio­sen wie die sei­ner­zei­ti­ge Erst­pu­bli­ka­ti­on eines Briefs des Dich­ters durch den Zio­nis­ten Lud­wig Strauß, einen bedeu­ten­den Höl­der­lin­for­scher, des­sen Kom­men­tar die Gemenge­la­ge der Zwi­schen­kriegs­zeit schön erhellt.

Es ist zu hof­fen, daß die­ses ver­dienst­vol­le Unter­neh­men wei­ter­ge­führt wird, um Rezep­ti­ons­zeug­nis­se aus der DDR und der BRD zu ver­sam­meln, auch wenn dies ein aka­de­mi­sches Unter­fan­gen bleibt, denn all­zu vie­le Leser wird man damit nicht errei­chen, selbst in der Uni­ver­si­täts­ger­ma­nis­tik nicht mehr. Aber war Höl­der­lin nicht eh stets einer für nur wenige?

– – –

Tho­mas Kuzi­as (Hrsg.): Das Selbst­ge­spräch der Zeit in der deut­schen Höl­der­lin­re­zep­ti­on. Zeug­nis­se aus drei Epo­chen, Leip­zig: Leip­zi­ger Uni­ver­si­täts­ver­lag 2020. 752 S., 72 €

 

Die­ses Buch kön­nen Sie auf antaios.de bestellen.

 

 Druckausgabe

Beitrag aus der Druckausgabe der Sezession. Abonnieren Sie!

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)