Zwar ist es keineswegs so, daß Hölderlin im 19. Jahrhundert vergessen war – Nietzsche hatte sich mit ihm befaßt, schon vor der Jahrhundertwende erschien mancher triviale Hölderlin-Roman, und man begann, sich philologisch mit der Edition seiner Werke zu beschäftigen. Als sich aber George und sein Kreis des schwäbischen Dichters annahmen, im Grunde ausgelöst durch die berühmt gewordene Edition von Hölderlins Gedichten durch Norbert von Hellingrath, erhielt jene Rezeption eine neue Qualität. Hellingraths Tod 1916 in der Schlacht von Verdun trug in der Weimarer Republik zur Kanonisierung seiner Hölderlin-Ausgabe bei.
Der Georgekreis adaptierte und propagierte den republikanischen Dichter der Zeit um 1800 als vaterländischen, und so wurde Hölderlin ein renommeeträchtiger Gegenstand der deutschen Philologie und der bürgerlichen Bildung. Dies sollte die Systeme überdauern, denkt man an die Hölderlin-Exegesen Martin Heideggers in der NS-Zeit oder seine mit brüchiger Stimme vorgetragene Gedichtrezitation in der frühen BRD. Noch weit in der Nachkriegszeit finden sich auch in der DDR und der zweiten österreichischen Republik deutliche Spuren des Mannes aus dem Tübinger Turm, in der Literatur ebenso wie in den damals noch lebendigen Geisteswissenschaften.
Es gibt inzwischen viel Fachliteratur, die philologische Produktionsmaschinerie läuft weiter wie geölt: So wird die historisch-kritische Ausgabe von Franz Zinkernagel neu ediert, auch das Hölderlin-Handbuch ist 2020 in einer erweiterten Auflage erschienen, die nun neue Artikel zur osteuropäischen Rezeption enthält. Trotz fortschreitender Digitalisierung bleiben indes ältere Rezeptionszeugnisse meist noch eher mühsam zu finden – und diese lesen sich dann oft anders, als man es aus der Lektüre mancher Sekundärliteratur heraus vermuten würde. Daher ist es richtig und wichtig, solche Zeugnisse selbst bereitzustellen, wie dies Alfred Kelletat schon 1961 getan hat und nun der Leipziger Philosoph Thomas Kuzias erneut angeht.
Mit seiner so ambitionierten wie umfangreichen Sammlung knüpft er erklärtermaßen an seinen Vorgänger an, trägt die dort nicht abgedeckte Zeit der Weimarer Republik nach und dokumentiert auch das Interesse an Hölderlin vor Hellingrath. So versammelt Kuzias seine Rezeptionszeugnisse in chronologischer Ordnung, die sich in die drei »Epochen« der »Kaiserzeit«, der »Weimarer Republik« und des »Dritten Reiches« gliedert. Für diejenigen, die sich nur für einen der behandelten Zeitabschnitte interessieren, bietet der Verlag jede dieser »Epochen« als broschierten Einzelband an. Es finden sich darin manche Preziosen wie die seinerzeitige Erstpublikation eines Briefs des Dichters durch den Zionisten Ludwig Strauß, einen bedeutenden Hölderlinforscher, dessen Kommentar die Gemengelage der Zwischenkriegszeit schön erhellt.
Es ist zu hoffen, daß dieses verdienstvolle Unternehmen weitergeführt wird, um Rezeptionszeugnisse aus der DDR und der BRD zu versammeln, auch wenn dies ein akademisches Unterfangen bleibt, denn allzu viele Leser wird man damit nicht erreichen, selbst in der Universitätsgermanistik nicht mehr. Aber war Hölderlin nicht eh stets einer für nur wenige?
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Thomas Kuzias (Hrsg.): Das Selbstgespräch der Zeit in der deutschen Hölderlinrezeption. Zeugnisse aus drei Epochen, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2020. 752 S., 72 €
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