Moral und Hypermoral

von Georg Nachtmann -- PDF der Druckfassung aus Sezession 108/ Juni 2022

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Ein typi­scher Unter­schied zwi­schen lin­ker und rech­ter Theo­rie­bil­dung besteht wohl dar­in, daß Rech­te in der Regel einen Rea­li­täts­sinn für sich bean­spru­chen kön­nen, der Lin­ken zumeist abgeht. Rea­li­täts­sinn zu haben heißt ins­be­son­de­re, von der kon­kre­ten his­to­risch-poli­ti­schen Lage her zu den­ken und dabei auch der mensch­li­chen Natur Rech­nung zu tragen.

Arnold Geh­len – neben Max Sche­ler und ­Hel­muth Pless­ner Haupt­ver­tre­ter der Phi­lo­so­phi­schen Anthro­po­lo­gie im 20. Jahr­hun­dert – darf als ein Den­ker gel­ten, der in höchs­tem Maße über Rea­li­täts­sinn ver­füg­te. Nicht umsonst wur­de er von Armin Moh­ler als »Denk­meis­ter der Kon­ser­va­ti­ven« geprie­sen. Von Jür­gen ­Haber­mas, der mit sei­ner Theo­rie des herr­schafts­frei­en Dis­kur­ses viel­leicht das links­in­tel­lek­tu­el­le Luft­schloß des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts erdacht hat, wur­de er dage­gen als ein »aus dem Tritt gera­te­ner Rechts­intellektueller« geschmäht.

Die Schrift Geh­lens, an der sich sowohl das rech­te Lob als auch die lin­ke Ableh­nung am deut­lichs­ten nach­voll­zie­hen läßt, ist sei­ne letz­te, 1969 erschie­ne­ne Mono­gra­phie Moral und Hyper­mo­ral. Eine plu­ra­lis­ti­sche Ethik. In ihrem Zen­trum steht die The­se, daß es ent­ge­gen der übli­chen Ansicht nicht nur eine Moral gibt, son­dern vier nicht auf ein Gemein­sa­mes redu­zier­ba­re Ethosformen:

1. Das Ethos der Gegen­sei­tig­keit, das dar­auf zie­le, sowohl im Posi­ti­ven als auch im Nega­ti­ven Glei­ches mit Glei­chem zu ver­gel­ten. 2. Die soge­nann­ten phy­sio­lo­gi­schen Tugen­den, »die in klar umschrie­be­nen Situa­tio­nen eine ein­deu­tig art­erhal­ten­de Zweck­mä­ßig­keit zei­gen«. Zu den­ken ist ins­be­son­de­re an das Kind­chen­sche­ma, das über­all, wo es auf­tritt, Zunei­gung und Hil­fe evo­ziert. 3. Das fami­li­en­be­zo­ge­ne Ethos, das Geh­len aber nicht pri­mär durch die natür­li­che Fami­li­en­ein­heit von Vater, Mut­ter und Kind ver­kör­pert sieht, son­dern durch die zur Sip­pe erwei­te­re Groß­fa­mi­lie. In ihr gel­te das »Ethos der Fried­lich­keit und Gefahr­lo­sig­keit des Nah­ver­hält­nis­ses«, dem gemäß sich die Mit­glie­der der Sip­pe soli­da­risch als Glei­che aner­ken­nen. 4. Das Ethos der Insti­tu­tio­nen, wobei Geh­len unter »Insti­tu­tio­nen« alle regel­haf­ten sozia­len Ord­nun­gen ver­steht, die dazu die­nen, das Han­deln des instinkt­ar­men und affekt­reichen Men­schen auf Dau­er zu stellen.

Nach Geh­len besteht zwi­schen die­sen ver­schie­de­nen Moral­ty­pen eine unter­grün­di­ge Span­nung, die unter bestimm­ten Umstän­den zu einem hand­fes­ten Gegen­satz wer­den kann. Zum Kon­flikt und damit auch zur Frei­set­zung von Aggres­si­on kommt es ins­be­son­de­re im Zuge von Mono­po­li­sie­rungs­ten­den­zen einer Ethos­form: »Hier ist Raum für eine Erin­ne­rung an die wohl­be­kann­te Grau­sam­keit der rei­nen Tugend – ein Son­der­fall der stei­gen­den Aggres­si­vi­tät bei Allein­herr­schaft eines der ethi­schen Impul­se: Es gibt nicht nur den blu­ti­gen Staats­mann, es gibt auch die bor­niert ego­is­ti­sche Klein­fa­mi­lie und den gif­ti­gen Pazi­fis­ten. Wer die ›Rea­li­sie­rung‹ einer Idee anstrebt, wird leicht die rea­len Wider­stän­de als unmo­ra­li­sche emp­fin­den, als Uneben­hei­ten der Wirk­lich­keit, die man mit der Guil­lo­ti­ne abschlei­fen muß.«

Beson­ders kri­tisch sieht Geh­len die »Huma­ni­ta­ris­mus« genann­te Aus­deh­nung der Fami­li­en­mo­ral auf das zur Mensch­heits­fa­mi­lie ver­klär­te Abs­trak­tum »Mensch­heit«. In der Moder­ne erkennt Geh­len eine Ver­schmel­zung des Huma­ni­ta­ris­mus mit einer uti­li­ta­ris­ti­schen »Ethik des Mas­sen­le­bens­wer­tes« (Wer­ner Som­bart), die den mate­ri­el­len Wohl­stand der Mas­sen zur pri­mä­ren Staats­auf­ga­be erklärt. Die aus die­ser Ver­ei­ni­gung ent­sprin­gen­de Hyper­mo­ral zei­tigt, wie unten noch näher erläu­tert wer­den soll, kata­stro­pha­le Fol­gen für das Ethos der Insti­tu­tio­nen, ins­be­son­de­re für das staat­li­che Ethos.

Auf den ers­ten Blick könn­te es schei­nen, als ver­fah­re Geh­lens plu­ra­lis­ti­sche Ethik rein deskrip­tiv, als gehe es nur um die »Dar­stel­lung« unter­schied­li­cher »Sozi­al-Regu­la­tio­nen«. Dage­gen spricht, daß Geh­lens Kri­tik an Moralmono­polen im all­ge­mei­nen und an der Allein­herr­schaft des moder­nen Huma­ni­ta­ris­mus im beson­de­ren einen nor­ma­ti­ven Impe­tus hat: Die Über­deh­nung der Fami­li­en­mo­ral auf Kos­ten des staat­li­chen Ethos ist kein neu­tra­ler Fakt, son­dern ein Übel, für das Geh­len den wert­ge­la­de­nen Begriff der Moral­hy­per­tro­phie gebraucht.

Dar­über hin­aus läßt sich fra­gen, ob trotz allem Plu­ra­lis­mus nicht auch eine über­grei­fen­de ethi­sche Per­spek­ti­ve ange­nom­men wer­den muß. Wenn die vier Mora­len Geh­lens näm­lich wirk­lich inkom­men­su­ra­bel neben­ein­an­der stün­den, dann lie­ße sich kei­ne nor­ma­ti­ve Kri­tik an ethi­schen Mono­po­li­sie­rungs­ten­den­zen arti­ku­lie­ren und das Elend der huma­ni­ta­ris­ti­schen Hyper­mo­ral nicht anpran­gern. Um den Huma­ni­ta­ris­mus als aus den Fugen gera­te­ne Fami­li­en­mo­ral kri­ti­sie­ren zu kön­nen, muß also ein wei­te­res, höher­stu­fi­ges ethi­sches Prin­zip vor­aus­ge­setzt wer­den. Es besagt, daß die mög­li­chen Kon­flik­te zwi­schen den ver­schie­de­nen Ethos­for­men latent gehal­ten wer­den sol­len, indem jede, so gut es geht, auf den ihr ange­stamm­ten Bereich beschränkt wird.

Daß Geh­len das selbst so nicht gese­hen hat, macht sei­ne Ana­ly­se der Hyper­mo­ral aber nicht weni­ger tref­fend. Mit Blick auf das letz­te Drit­tel von Moral und Hyper­mo­ral, in dem Geh­len den Kon­flikt von huma­ni­ta­ris­ti­scher Ethik und Staats­ethos fokus­siert, kommt man als Leser im Jahr 2022 aus dem Stau­nen kaum her­aus. Der mehr als fünf­zig Jah­re alte Text liest sich wie eine brand­ak­tu­el­le Bestim­mung der poli­tisch-geis­ti­gen Lage der Bun­des­re­pu­blik. Karl­heinz Weiß­mann hat 2004 in der Sezes­si­on daher zu Recht emp­foh­len, man sol­le Moral und Hyper­mo­ral »als pro­phe­ti­sches Buch lesen«. Drei beson­ders hell­sich­ti­ge Beob­ach­tun­gen Geh­lens sei­en hier hervorgehoben.

Ers­tens ist Geh­lens Beschrei­bung der Kor­rup­ti­on des Staats­ethos durch den moder­nen Huma­ni­ta­ris­mus zu erwäh­nen. Indem die eigen­tüm­li­chen Auf­ga­ben des Staa­tes durch die Ideen von Mas­sen­wohl­fahrt und all­ge­mei­ner Menschen­liebe ver­drängt wer­den, »nimmt der ­Levia­than mehr und mehr die Züge einer Milch­kuh an, die Funk­tio­nen als Pro­duk­ti­ons­hel­fer, Sozi­al­ge­setz­ge­ber und Aus­zah­lungs­kas­se tre­ten in den Vor­der­grund, und man hat dem huma­ni­tär-­eu­dai­mo­nis­ti­schen Ethos die Tore so weit geöff­net, daß das eigent­lich der Insti­tu­ti­on ange­mes­se­ne Dienst- und Pflicht­ethos aus der öffent­li­chen Spra­che und aus den Kate­go­rien der Mas­sen­me­di­en voll­stän­dig ver­schwun­den ist und dort nur noch Geläch­ter auslöst.«

Bes­ser kann man die Tat­sa­che, daß die BRD zur Beu­te von Partikular­interessen gewor­den ist, kaum auf den Punkt brin­gen. Der Staat als poli­ti­sche Instanz ist hand­lungs­un­fä­hig gewor­den und kann die sub­stan­ti­el­len Inter­es­sen des eige­nen Vol­kes – Exis­tenz und Sicher­heit – nicht mehr selbst gewähr­leis­ten. Er hat, mit ande­ren Wor­ten, sei­ne Sou­ve­rä­ni­tät ver­lo­ren hat. Sou­ve­rän im eigent­li­chen Sin­ne sind nach Geh­len daher nur jene Staa­ten, die in der Lage sind, das »Ethos der Macht« zu pflegen.

Eine zwei­te Dia­gno­se Geh­lens, die bedau­er­li­cher­wei­se nichts von ihrer Gül­tig­keit ver­lo­ren hat, lau­tet: »Par­al­lel mit der Hyper­tro­phie des huma­ni­tär-eudai­mo­nis­ti­schen Ethos ver­fal­len die Sit­ten und nimmt die inner­so­zia­le Gereizt­heit zu.« Der Huma­ni­ta­ris­mus bedingt den Sit­ten­ver­fall und ver­un­si­chert, weil er das insti­tu­tio­nel­le Ethos zer­setzt. Die Insti­tu­tio­nen aber besit­zen eine Ent­las­tungs­funk­ti­on, die zugleich not­wen­dig ist für die inhalt­lich kon­kre­te Frei­heit des einzelnen.

»Das ist«, so Geh­len, »unser Lebens­ge­setz: Ver­en­gung der Mög­lich­kei­ten, aber gemein­sa­mer Halt und gemein­sa­me Abstüt­zung; Ent­las­tung zu beweg­li­cher Frei­heit, aber inner­halb begrenz­ter Gefü­ge.« Ohne Insti­tu­tio­nen bleibt nur das nack­te Indi­vi­du­um zurück, das in kei­ner­lei geord­ne­te Distanz zu sich selbst tre­ten kann und somit sitt­lich ver­wahr­lost. Somit erwei­sen sich die ver­meint­li­chen Gegen­sät­ze von gren­zen­lo­ser Mensch­heits­lie­be und ato­mi­sier­tem Indi­vi­dua­lis­mus in Wahr­heit als Kor­re­la­te ein und der­sel­ben Moralverzerrung.

Drit­tens sei auf Geh­lens Intel­lek­tu­el­len­kri­tik hin­ge­wie­sen. Es sind die Intel­lek­tu­el­len, die Geh­len zufol­ge für die Hyper­mo­ra­li­sie­rung aller Lebens­be­rei­che ver­ant­wort­lich sind. Ihr beson­de­res Pri­vi­leg besteht dabei dar­in, daß sie »die Fol­gen ihrer Agi­ta­ti­on nicht zu ver­ant­wor­ten haben, weil sie die­se man­gels Real­kon­takt gar nicht ermes­sen oder sich alles erlau­ben kön­nen«. Nur so kön­nen sie es sich leis­ten, durch ätzen­de Dau­er­kri­tik die Insti­tu­tio­nen zu zer­set­zen. Zugleich set­zen sie die mono­po­li­sier­te Moral der Mensch­lich­keit als Waf­fe ein.

Das zeigt sich beson­ders ein­drück­lich an der Hyper­mo­ra­li­sie­rung der Spra­che und des Dis­kur­ses. Lan­ge bevor der Aus­druck »Can­cel Cul­tu­re« exis­tier­te, ent­larv­te Geh­len schon den zugrun­de­lie­gen­den Mecha­nis­mus, indem er auf »Beu­te­be­grif­fe wie ›Dis­kus­si­on‹, ›Demo­kra­ti­sie­rung‹ oder ›auto­ri­tär‹, die sofort jeden Sach­wi­der­spruch zum Schwei­gen brin­gen«, ver­wies. Auf die­se Wei­se ver­hin­dert die Unkul­tur der Hyper­mo­ral letzt­lich das Aus­spre­chen der Wahr­heit. Geh­len erweist sich – mira­bi­le dic­tu – als gro­ßer Mora­list der Kon­ser­va­ti­ven, wenn er die­sen Vor­gang nicht nur als unethisch, son­dern als gera­de­zu dia­bo­lisch brand­markt; denn »teuf­lisch ist, wer das Reich der Lüge auf­rich­tet und ande­re Men­schen zwingt, in ihm zu leben.«

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