Ein typischer Unterschied zwischen linker und rechter Theoriebildung besteht wohl darin, daß Rechte in der Regel einen Realitätssinn für sich beanspruchen können, der Linken zumeist abgeht. Realitätssinn zu haben heißt insbesondere, von der konkreten historisch-politischen Lage her zu denken und dabei auch der menschlichen Natur Rechnung zu tragen.
Arnold Gehlen – neben Max Scheler und Helmuth Plessner Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert – darf als ein Denker gelten, der in höchstem Maße über Realitätssinn verfügte. Nicht umsonst wurde er von Armin Mohler als »Denkmeister der Konservativen« gepriesen. Von Jürgen Habermas, der mit seiner Theorie des herrschaftsfreien Diskurses vielleicht das linksintellektuelle Luftschloß des vergangenen Jahrhunderts erdacht hat, wurde er dagegen als ein »aus dem Tritt geratener Rechtsintellektueller« geschmäht.
Die Schrift Gehlens, an der sich sowohl das rechte Lob als auch die linke Ablehnung am deutlichsten nachvollziehen läßt, ist seine letzte, 1969 erschienene Monographie Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. In ihrem Zentrum steht die These, daß es entgegen der üblichen Ansicht nicht nur eine Moral gibt, sondern vier nicht auf ein Gemeinsames reduzierbare Ethosformen:
1. Das Ethos der Gegenseitigkeit, das darauf ziele, sowohl im Positiven als auch im Negativen Gleiches mit Gleichem zu vergelten. 2. Die sogenannten physiologischen Tugenden, »die in klar umschriebenen Situationen eine eindeutig arterhaltende Zweckmäßigkeit zeigen«. Zu denken ist insbesondere an das Kindchenschema, das überall, wo es auftritt, Zuneigung und Hilfe evoziert. 3. Das familienbezogene Ethos, das Gehlen aber nicht primär durch die natürliche Familieneinheit von Vater, Mutter und Kind verkörpert sieht, sondern durch die zur Sippe erweitere Großfamilie. In ihr gelte das »Ethos der Friedlichkeit und Gefahrlosigkeit des Nahverhältnisses«, dem gemäß sich die Mitglieder der Sippe solidarisch als Gleiche anerkennen. 4. Das Ethos der Institutionen, wobei Gehlen unter »Institutionen« alle regelhaften sozialen Ordnungen versteht, die dazu dienen, das Handeln des instinktarmen und affektreichen Menschen auf Dauer zu stellen.
Nach Gehlen besteht zwischen diesen verschiedenen Moraltypen eine untergründige Spannung, die unter bestimmten Umständen zu einem handfesten Gegensatz werden kann. Zum Konflikt und damit auch zur Freisetzung von Aggression kommt es insbesondere im Zuge von Monopolisierungstendenzen einer Ethosform: »Hier ist Raum für eine Erinnerung an die wohlbekannte Grausamkeit der reinen Tugend – ein Sonderfall der steigenden Aggressivität bei Alleinherrschaft eines der ethischen Impulse: Es gibt nicht nur den blutigen Staatsmann, es gibt auch die borniert egoistische Kleinfamilie und den giftigen Pazifisten. Wer die ›Realisierung‹ einer Idee anstrebt, wird leicht die realen Widerstände als unmoralische empfinden, als Unebenheiten der Wirklichkeit, die man mit der Guillotine abschleifen muß.«
Besonders kritisch sieht Gehlen die »Humanitarismus« genannte Ausdehnung der Familienmoral auf das zur Menschheitsfamilie verklärte Abstraktum »Menschheit«. In der Moderne erkennt Gehlen eine Verschmelzung des Humanitarismus mit einer utilitaristischen »Ethik des Massenlebenswertes« (Werner Sombart), die den materiellen Wohlstand der Massen zur primären Staatsaufgabe erklärt. Die aus dieser Vereinigung entspringende Hypermoral zeitigt, wie unten noch näher erläutert werden soll, katastrophale Folgen für das Ethos der Institutionen, insbesondere für das staatliche Ethos.
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als verfahre Gehlens pluralistische Ethik rein deskriptiv, als gehe es nur um die »Darstellung« unterschiedlicher »Sozial-Regulationen«. Dagegen spricht, daß Gehlens Kritik an Moralmonopolen im allgemeinen und an der Alleinherrschaft des modernen Humanitarismus im besonderen einen normativen Impetus hat: Die Überdehnung der Familienmoral auf Kosten des staatlichen Ethos ist kein neutraler Fakt, sondern ein Übel, für das Gehlen den wertgeladenen Begriff der Moralhypertrophie gebraucht.
Darüber hinaus läßt sich fragen, ob trotz allem Pluralismus nicht auch eine übergreifende ethische Perspektive angenommen werden muß. Wenn die vier Moralen Gehlens nämlich wirklich inkommensurabel nebeneinander stünden, dann ließe sich keine normative Kritik an ethischen Monopolisierungstendenzen artikulieren und das Elend der humanitaristischen Hypermoral nicht anprangern. Um den Humanitarismus als aus den Fugen geratene Familienmoral kritisieren zu können, muß also ein weiteres, höherstufiges ethisches Prinzip vorausgesetzt werden. Es besagt, daß die möglichen Konflikte zwischen den verschiedenen Ethosformen latent gehalten werden sollen, indem jede, so gut es geht, auf den ihr angestammten Bereich beschränkt wird.
Daß Gehlen das selbst so nicht gesehen hat, macht seine Analyse der Hypermoral aber nicht weniger treffend. Mit Blick auf das letzte Drittel von Moral und Hypermoral, in dem Gehlen den Konflikt von humanitaristischer Ethik und Staatsethos fokussiert, kommt man als Leser im Jahr 2022 aus dem Staunen kaum heraus. Der mehr als fünfzig Jahre alte Text liest sich wie eine brandaktuelle Bestimmung der politisch-geistigen Lage der Bundesrepublik. Karlheinz Weißmann hat 2004 in der Sezession daher zu Recht empfohlen, man solle Moral und Hypermoral »als prophetisches Buch lesen«. Drei besonders hellsichtige Beobachtungen Gehlens seien hier hervorgehoben.
Erstens ist Gehlens Beschreibung der Korruption des Staatsethos durch den modernen Humanitarismus zu erwähnen. Indem die eigentümlichen Aufgaben des Staates durch die Ideen von Massenwohlfahrt und allgemeiner Menschenliebe verdrängt werden, »nimmt der Leviathan mehr und mehr die Züge einer Milchkuh an, die Funktionen als Produktionshelfer, Sozialgesetzgeber und Auszahlungskasse treten in den Vordergrund, und man hat dem humanitär-eudaimonistischen Ethos die Tore so weit geöffnet, daß das eigentlich der Institution angemessene Dienst- und Pflichtethos aus der öffentlichen Sprache und aus den Kategorien der Massenmedien vollständig verschwunden ist und dort nur noch Gelächter auslöst.«
Besser kann man die Tatsache, daß die BRD zur Beute von Partikularinteressen geworden ist, kaum auf den Punkt bringen. Der Staat als politische Instanz ist handlungsunfähig geworden und kann die substantiellen Interessen des eigenen Volkes – Existenz und Sicherheit – nicht mehr selbst gewährleisten. Er hat, mit anderen Worten, seine Souveränität verloren hat. Souverän im eigentlichen Sinne sind nach Gehlen daher nur jene Staaten, die in der Lage sind, das »Ethos der Macht« zu pflegen.
Eine zweite Diagnose Gehlens, die bedauerlicherweise nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat, lautet: »Parallel mit der Hypertrophie des humanitär-eudaimonistischen Ethos verfallen die Sitten und nimmt die innersoziale Gereiztheit zu.« Der Humanitarismus bedingt den Sittenverfall und verunsichert, weil er das institutionelle Ethos zersetzt. Die Institutionen aber besitzen eine Entlastungsfunktion, die zugleich notwendig ist für die inhaltlich konkrete Freiheit des einzelnen.
»Das ist«, so Gehlen, »unser Lebensgesetz: Verengung der Möglichkeiten, aber gemeinsamer Halt und gemeinsame Abstützung; Entlastung zu beweglicher Freiheit, aber innerhalb begrenzter Gefüge.« Ohne Institutionen bleibt nur das nackte Individuum zurück, das in keinerlei geordnete Distanz zu sich selbst treten kann und somit sittlich verwahrlost. Somit erweisen sich die vermeintlichen Gegensätze von grenzenloser Menschheitsliebe und atomisiertem Individualismus in Wahrheit als Korrelate ein und derselben Moralverzerrung.
Drittens sei auf Gehlens Intellektuellenkritik hingewiesen. Es sind die Intellektuellen, die Gehlen zufolge für die Hypermoralisierung aller Lebensbereiche verantwortlich sind. Ihr besonderes Privileg besteht dabei darin, daß sie »die Folgen ihrer Agitation nicht zu verantworten haben, weil sie diese mangels Realkontakt gar nicht ermessen oder sich alles erlauben können«. Nur so können sie es sich leisten, durch ätzende Dauerkritik die Institutionen zu zersetzen. Zugleich setzen sie die monopolisierte Moral der Menschlichkeit als Waffe ein.
Das zeigt sich besonders eindrücklich an der Hypermoralisierung der Sprache und des Diskurses. Lange bevor der Ausdruck »Cancel Culture« existierte, entlarvte Gehlen schon den zugrundeliegenden Mechanismus, indem er auf »Beutebegriffe wie ›Diskussion‹, ›Demokratisierung‹ oder ›autoritär‹, die sofort jeden Sachwiderspruch zum Schweigen bringen«, verwies. Auf diese Weise verhindert die Unkultur der Hypermoral letztlich das Aussprechen der Wahrheit. Gehlen erweist sich – mirabile dictu – als großer Moralist der Konservativen, wenn er diesen Vorgang nicht nur als unethisch, sondern als geradezu diabolisch brandmarkt; denn »teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben.«