Ökologische Betrachtungen (11) – Mahlstrom

PDF der Druckfassung aus Sezession 108/ Juni 2022

Mas­se ist aus sich her­aus nicht über­le­bens­fä­hig. Wo sich der Mensch zur Mas­se ballt, muß frü­her oder spä­ter Res­sour­ce von außen zuge­führt wer­den. Erst ein sicher­ge­stell­ter Zufluß macht Ver­mas­sung mög­lich und garan­tiert ihr Fortbestehen.

Die Stadt als Bal­lungs­raum, die Metro­pol­re­gi­on als Agglo­me­ra­ti­on von Han­del, Pro­duk­ti­on und Kon­sum­be­dürf­nis­sen und damit die Orga­ni­sa­ti­on des Men­schen in sozia­len Zusam­men­hän­gen, die den über­schau­ba­ren Ver­band hin­ter sich las­sen, ist die mani­fes­tier­te Struk­tur der Mas­se: »Mas­se gibt es und hat es zu allen Zei­ten nur in den gro­ßen Städ­ten gege­ben, denn in ihnen allein lie­gen die Bedin­gun­gen vor, wel­che zur Mas­sen­bil­dung füh­ren, so weit­hin immer das Mas­sen­den­ken auf das Land hin­aus­grei­fen mag«, schreibt Fried­rich Georg Jün­ger, geis­ti­ger Ahn­herr kon­ser­va­ti­ver Öko­lo­gie, in Die Per­fek­ti­on der Technik.

Mit der Ver­städ­te­rung des Men­schen beginnt außer­dem die Zeit rele­van­ter, vom Men­schen erzeug­ter Umwelt­zer­stö­run­gen, was auf den städ­ti­schen Res­sour­cen­hun­ger zurück­zu­füh­ren ist. Je grö­ßer die Bevöl­ke­rungs­zahl einer Stadt, je höher ihr Bedürf­nis­ni­veau anwächst, des­to brei­ter sind die Res­sour­cen­strö­me, die sie benö­tigt und ver­zehrt. Des­halb reicht das Gebiet, das für die Befrie­di­gung der städ­ti­schen Bedürf­nis­se in Deutsch­land her­hal­ten muß, bis nach Süd­ame­ri­ka und, wie wir seit Aus­bruch des Krie­ges in der Ukrai­ne schmerz­lich erfah­ren, bis ins rus­si­sche Turuch­ansk in West­si­bi­ri­en. »Zu den Kenn­zei­chen der Mas­sen­bil­dung gehört«, so wie­der Jün­ger, »daß die Fähig­keit auf­hört, Ver­lus­te aus der eige­nen Lebens­sub­stanz zu erset­zen und daß ein Kon­sum statt­fin­det, der um so zeh­ren­der wird, je mehr die Mas­sen­bil­dung fortschreitet.«

Doch Mas­se wirkt der­weil nicht nur auf die uns umge­ben­de, son­dern auch auf unse­re inne­re Natur ein. Der ver­maß­te Mensch ist der von sei­nem Wesen abge­schnit­te­ne Mensch, gefan­gen in einem Mahl­strom, des­sen Fließ­rich­tung er nicht bestim­men kann. Die Zügel des Laufs der Geschich­te sind dem Indi­vi­du­um ent­glit­ten und auf die Zwän­ge gesell­schaft­li­cher Sys­te­me und ihrer Objek­ti­vi­tät über­ge­gan­gen. Die Ato­mi­sie­rung des ein­zel­nen in der Mas­se, sein Ver­lust an Eigen­ständigkeit bei gleich­zei­ti­ger Zunah­me von Abhän­gig­kei­ten, hat jedoch einen ent­schei­den­den Vor­teil, der den sozial­evo­lu­tio­nä­ren Erfolg der Mas­se- und Stadt­bil­dung sowie ihre her­vor­ge­ho­be­ne zivi­li­sa­to­ri­sche Rol­le erklärt: Arbeits­tei­lung. Die Stadt trieb als Sitz von Han­del und Gewer­be die Ver­fei­ne­rung der Pro­fes­sio­nen außer­halb der Land­wirt­schaft vor­an; sie ist das Zen­trum von Inno­va­tio­nen, die unter ande­rem die land­wirt­schaft­li­chen Erträ­ge erhöh­ten, wor­über wie­der­um ihr eige­nes Anwach­sen und das Fort­lau­fen der Arbeits­tei­lung gewähr­leis­tet wurden.

Die­se sozia­le Dyna­mik ist von sol­cher Durch­schlags­kraft, daß heu­te der gesam­te Glo­bus von gigan­ti­schen Metro­po­len über­zo­gen ist. Die aus­grei­fen­de Durch­drin­gung ihrer länd­li­chen Peri­phe­rie und ihre glo­ba­le Ver­net­zung wer­fen fer­ner die Fra­ge auf, ob das Land als eine von der Stadt unab­hän­gi­ge Struk­tur über­haupt noch exis­tiert, oder ob nicht jeder Teil der Erde der Logik der Metro­po­len und damit der Logik des Mahl­stroms unter­wor­fen ist.

Der Mahl­strom, den Jün­ger als einen Uni­ver­sal­ar­beits­plan »zur Bewirt­schaf­tung des in Mas­se leben­den Men­schen« erkann­te, mani­fes­tiert sich in der Errich­tung auf­ge­bläh­ter Ver­wal­tungs­struk­tu­ren, in der fort­schrei­ten­den Dif­fe­ren­zie­rung, die der US-ame­ri­ka­ni­sche Anthro­po­lo­ge David Grae­ber als »Bull­shit Jobs« bezeich­ne­te, und in der Kumu­la­ti­on sozia­ler Dys­funk­tio­nen pro­por­tio­nal zur Grö­ße der jewei­li­gen Gesell­schaft. Die aus der Ver­mas­sung her­vor­ge­hen­den Sozi­al­struk­tu­ren über­stei­gen die mensch­li­che Pro­blem­lö­sungs­kom­pe­tenz, die nur zur Bewäl­ti­gung sozia­ler Pro­ble­me klei­ne­rer Grup­pen aus­reicht, wie es der bri­ti­sche Anthro­po­lo­ge Robin Dun­bar mit sei­nen Arbei­ten nach­ge­wie­sen hat.

Mas­se bedeu­tet: Ent­frem­dung von der Natur, Ent­frem­dung von der Gemein­schaft und folg­lich die Ent­frem­dung von uns selbst. Der Ver­hal­tens­for­scher Kon­rad Lorenz beschrieb die Ver­stüm­me­lung mensch­li­cher Exis­tenz, die Ver­wüs­tung von Außen und Innen durch ein Leben in Mas­se. Am wenigs­ten mer­ke die zivi­li­sier­te Mensch­heit, »wie sehr sie im Ver­lau­fe die­ses bar­ba­ri­schen Pro­zes­ses an ihrer See­le Scha­den nimmt. Die all­ge­mei­ne und rasch um sich grei­fen­de Ent­frem­dung von der leben­den Natur trägt einen gro­ßen Teil der Schuld an der ästhe­ti­schen und ethi­schen Ver­ro­hung der Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen« (Die acht Tod­sün­den der zivi­li­sier­ten Mensch­heit, S. 28).

Der »bar­ba­ri­sche Pro­zeß« ent­wi­ckelt die­se Dyna­mik, da er all das, was »Leben« vor sei­ner Initi­ie­rung bedeu­te­te, auf­löst: Bevor uns die Indus­trie- und Kon­sum­ge­sell­schaf­ten west­li­cher Pro­ve­ni­enz über­ver­sorg­ten, »bedeu­te­te ›Leben‹«, laut dem spa­ni­schen Phi­lo­so­phen José Orte­ga y Gas­set, »vor allem Begren­zung, Ver­pflich­tung, Abhän­gig­keit, mit einem Wort, Druck« (Der Auf­stand der Mas­sen, S. 56). Das Weg­fal­len die­ses Drucks öff­net der Deka­denz und der Dege­ne­ra­ti­on der Mas­se Tür und Tor. Ver­bo­te und Hem­mun­gen sind auf­ge­ho­ben; es regiert die Befrie­di­gung von Gelüs­ten und Launen.

Indes­sen strebt die­se Befrie­di­gungs­lust das Gren­zen­lo­se an, denn die­se Welt bringt »ihren Bewoh­nern über­dies die fes­te Über­zeu­gung« bei, »daß sie mor­gen noch rei­cher, voll­kom­me­ner und wei­ter sein wird, als erfreue sie sich eines uner­schöpf­li­chen Wachs­tums aus eige­ner Kraft«, so wie­der Gas­set. Mas­se stellt dem­zu­fol­ge auch eine Anspruchs­hal­tung dar, näm­lich daß sich die eige­nen Lebens­wün­sche unge­hemmt aus­deh­nen können.

Gas­set ver­weist in die­sem Zusam­men­hang auf die Psy­cho­lo­gie des ver­wöhn­ten Kin­des, die sich im Mas­sen­men­schen des Über­flus­ses mani­fes­tiert. Tat­säch­lich sind die Bei­spie­le, die eine Infan­ti­li­sie­rung der All­ge­mein­heit in den Indus­trie- und Kon­sum­ge­sell­schaf­ten anzei­gen, Legi­on. Die­se Beob­ach­tung gewinnt zusätz­li­ches Gewicht, wenn man die Abhän­gig­keit des ein­zel­nen vom indus­tri­el­len Sys­tem betrach­tet. Obwohl die Indus­trie- und Kon­sum­ge­sell­schaf­ten west­li­cher Pro­ve­ni­enz ein Mehr an indi­vi­du­el­ler Frei­heit und Gestal­tungs­macht ver­spre­chen, steht die­sen Anprei­sun­gen die Ein­bet­tung in unzäh­li­ge Appa­ra­tu­ren und Netz­wer­ke gegen­über: Nah­rung, Bau­stof­fe, Wär­me, Strom und (Tele-)Kommunikation.

Die Eman­zi­pa­ti­on des moder­nen Mas­sen­men­schen ist an eine Viel­zahl tech­ni­scher Vor­aus­set­zun­gen gekop­pelt, ohne die er nicht über­le­bens­fä­hig wäre. Das kind­li­che Dasein und das Leben in den moder­nen Mas­sen­ge­sell­schaf­ten ähneln sich: Bei­de beru­hen auf Unselb­stän­dig­keit und Ver­sor­gungs­an­spruch. ­Jün­ger faßt die­se Gegen­sätz­lich­keit unter Berück­sich­ti­gung der Tech­nik anhand der neu­en Mobi­li­tät des Men­schen: »Ein Merk­mal der Tech­nik ist […], daß sie den Men­schen von allen Ver­bin­dun­gen, die nicht ratio­na­ler Art sind, befreit, ihn aber dafür ratio­na­len Bezie­hun­gen unter­wirft. Die wach­sen­de Mobi­li­tät des Men­schen steht im Zusam­men­hang mit dem Vor­drin­gen von Orga­ni­sa­ti­on und Appa­ra­tur, denn in die­sem Ver­hält­nis erhöht sich sei­ne Beweg­bar­keit.« (Die Per­fek­ti­on der Tech­nik, S. 133)

Mit der Her­aus­lö­sung der Mas­se aus ihrem Raum, mit ihrer Entor­tung nähern wir uns ihrem öko­lo­gi­schen Hun­ger. Die Men­schen ver­las­sen ihren Boden und wan­dern in die Städ­te ab. Wäh­rend­des­sen wird das Land mit Hil­fe gigan­ti­scher Tech­nik aus­ge­laugt, der Mensch von der Natur abge­trennt. Doch die­se tota­le Mobi­li­sie­rung schafft kei­ne nach­hal­ti­ge Struk­tur, in ihr domi­nie­ren Ent­gren­zung und letzt­lich das Cha­os. Aber durch die Ent­frem­dung der Mas­se von der Natur und die fort­ge­schrit­te­ne Aus­dif­fe­ren­zie­rung, die den ein­zel­nen zu einem abge­schot­te­ten Wirk­me­cha­nis­mus inner­halb kom­ple­xer Pro­zes­se wer­den las­sen, ist die Mas­se blind für die Zer­stö­rung, die sie anrichtet.

Sie immu­ni­siert sich förm­lich dage­gen, wenn sie die­se aus ihrem Nah- in den Fern­be­reich ver­drängt. Sobald sie aber wirk­mäch­tig in den eige­nen Vor­gar­ten kracht, wenn ein Wind­rad in der Nähe erbaut, ein Atom­müll­end­la­ger ein­ge­rich­tet, eine Uran­mi­ne aus­ge­ho­ben wer­den soll, dann geht der Bun­des­bür­ger, der ansons­ten in sei­nem Kon­sum behag­lich ein­ge­rich­te­te Mas­sen­mensch, auf die Stra­ße und wehrt sich mit allen Mit­teln dagegen.

Dabei bekommt er selbst dann nur einen Bruch­teil des­sen zu Gesicht, was sei­ne Ansprü­che für Wir­kung zei­ti­gen. Sobald es ans Ein­ge­mach­te geht, weicht man aus, denn der durch die fos­si­len Ener­gie­trä­ger unab­läs­sig bereit­ge­stell­te Ener­gie­über­fluß kor­ri­giert noch jede Bedro­hung und die Träg­heit des Sys­tems, die­se zu besei­ti­gen. Der kon­ser­va­ti­ve Ver­weis auf die anthro­po­lo­gi­schen Kon­stan­ten prallt an der alles durch­si­ckern­den, öli­gen Deka­denz ab. Den von Gas­set ange­führ­ten Druck auf die Men­schen aus­zu­üben, mei­det man.

Ledig­lich im öko­lo­gi­schen Dis­kurs besteht die Bereit­schaft, Begren­zung und Ver­pflich­tung als Tugen­den anzu­er­ken­nen, als man nur dort bereit ist, die Ver­wund­bar­keit des Sys­tems anzu­er­ken­nen. Das Ver­schlie­ßen der Augen vor den har­ten Rea­li­tä­ten wird jedoch nicht ändern kön­nen, daß alles in Bewe­gung gera­ten ist und jeg­li­che Sub­stanz vom Mahl­strom der Mas­se auf­ge­rie­ben wird.

 

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