Masse ist aus sich heraus nicht überlebensfähig. Wo sich der Mensch zur Masse ballt, muß früher oder später Ressource von außen zugeführt werden. Erst ein sichergestellter Zufluß macht Vermassung möglich und garantiert ihr Fortbestehen.
Die Stadt als Ballungsraum, die Metropolregion als Agglomeration von Handel, Produktion und Konsumbedürfnissen und damit die Organisation des Menschen in sozialen Zusammenhängen, die den überschaubaren Verband hinter sich lassen, ist die manifestierte Struktur der Masse: »Masse gibt es und hat es zu allen Zeiten nur in den großen Städten gegeben, denn in ihnen allein liegen die Bedingungen vor, welche zur Massenbildung führen, so weithin immer das Massendenken auf das Land hinausgreifen mag«, schreibt Friedrich Georg Jünger, geistiger Ahnherr konservativer Ökologie, in Die Perfektion der Technik.
Mit der Verstädterung des Menschen beginnt außerdem die Zeit relevanter, vom Menschen erzeugter Umweltzerstörungen, was auf den städtischen Ressourcenhunger zurückzuführen ist. Je größer die Bevölkerungszahl einer Stadt, je höher ihr Bedürfnisniveau anwächst, desto breiter sind die Ressourcenströme, die sie benötigt und verzehrt. Deshalb reicht das Gebiet, das für die Befriedigung der städtischen Bedürfnisse in Deutschland herhalten muß, bis nach Südamerika und, wie wir seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine schmerzlich erfahren, bis ins russische Turuchansk in Westsibirien. »Zu den Kennzeichen der Massenbildung gehört«, so wieder Jünger, »daß die Fähigkeit aufhört, Verluste aus der eigenen Lebenssubstanz zu ersetzen und daß ein Konsum stattfindet, der um so zehrender wird, je mehr die Massenbildung fortschreitet.«
Doch Masse wirkt derweil nicht nur auf die uns umgebende, sondern auch auf unsere innere Natur ein. Der vermaßte Mensch ist der von seinem Wesen abgeschnittene Mensch, gefangen in einem Mahlstrom, dessen Fließrichtung er nicht bestimmen kann. Die Zügel des Laufs der Geschichte sind dem Individuum entglitten und auf die Zwänge gesellschaftlicher Systeme und ihrer Objektivität übergegangen. Die Atomisierung des einzelnen in der Masse, sein Verlust an Eigenständigkeit bei gleichzeitiger Zunahme von Abhängigkeiten, hat jedoch einen entscheidenden Vorteil, der den sozialevolutionären Erfolg der Masse- und Stadtbildung sowie ihre hervorgehobene zivilisatorische Rolle erklärt: Arbeitsteilung. Die Stadt trieb als Sitz von Handel und Gewerbe die Verfeinerung der Professionen außerhalb der Landwirtschaft voran; sie ist das Zentrum von Innovationen, die unter anderem die landwirtschaftlichen Erträge erhöhten, worüber wiederum ihr eigenes Anwachsen und das Fortlaufen der Arbeitsteilung gewährleistet wurden.
Diese soziale Dynamik ist von solcher Durchschlagskraft, daß heute der gesamte Globus von gigantischen Metropolen überzogen ist. Die ausgreifende Durchdringung ihrer ländlichen Peripherie und ihre globale Vernetzung werfen ferner die Frage auf, ob das Land als eine von der Stadt unabhängige Struktur überhaupt noch existiert, oder ob nicht jeder Teil der Erde der Logik der Metropolen und damit der Logik des Mahlstroms unterworfen ist.
Der Mahlstrom, den Jünger als einen Universalarbeitsplan »zur Bewirtschaftung des in Masse lebenden Menschen« erkannte, manifestiert sich in der Errichtung aufgeblähter Verwaltungsstrukturen, in der fortschreitenden Differenzierung, die der US-amerikanische Anthropologe David Graeber als »Bullshit Jobs« bezeichnete, und in der Kumulation sozialer Dysfunktionen proportional zur Größe der jeweiligen Gesellschaft. Die aus der Vermassung hervorgehenden Sozialstrukturen übersteigen die menschliche Problemlösungskompetenz, die nur zur Bewältigung sozialer Probleme kleinerer Gruppen ausreicht, wie es der britische Anthropologe Robin Dunbar mit seinen Arbeiten nachgewiesen hat.
Masse bedeutet: Entfremdung von der Natur, Entfremdung von der Gemeinschaft und folglich die Entfremdung von uns selbst. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz beschrieb die Verstümmelung menschlicher Existenz, die Verwüstung von Außen und Innen durch ein Leben in Masse. Am wenigsten merke die zivilisierte Menschheit, »wie sehr sie im Verlaufe dieses barbarischen Prozesses an ihrer Seele Schaden nimmt. Die allgemeine und rasch um sich greifende Entfremdung von der lebenden Natur trägt einen großen Teil der Schuld an der ästhetischen und ethischen Verrohung der Zivilisationsmenschen« (Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, S. 28).
Der »barbarische Prozeß« entwickelt diese Dynamik, da er all das, was »Leben« vor seiner Initiierung bedeutete, auflöst: Bevor uns die Industrie- und Konsumgesellschaften westlicher Provenienz überversorgten, »bedeutete ›Leben‹«, laut dem spanischen Philosophen José Ortega y Gasset, »vor allem Begrenzung, Verpflichtung, Abhängigkeit, mit einem Wort, Druck« (Der Aufstand der Massen, S. 56). Das Wegfallen dieses Drucks öffnet der Dekadenz und der Degeneration der Masse Tür und Tor. Verbote und Hemmungen sind aufgehoben; es regiert die Befriedigung von Gelüsten und Launen.
Indessen strebt diese Befriedigungslust das Grenzenlose an, denn diese Welt bringt »ihren Bewohnern überdies die feste Überzeugung« bei, »daß sie morgen noch reicher, vollkommener und weiter sein wird, als erfreue sie sich eines unerschöpflichen Wachstums aus eigener Kraft«, so wieder Gasset. Masse stellt demzufolge auch eine Anspruchshaltung dar, nämlich daß sich die eigenen Lebenswünsche ungehemmt ausdehnen können.
Gasset verweist in diesem Zusammenhang auf die Psychologie des verwöhnten Kindes, die sich im Massenmenschen des Überflusses manifestiert. Tatsächlich sind die Beispiele, die eine Infantilisierung der Allgemeinheit in den Industrie- und Konsumgesellschaften anzeigen, Legion. Diese Beobachtung gewinnt zusätzliches Gewicht, wenn man die Abhängigkeit des einzelnen vom industriellen System betrachtet. Obwohl die Industrie- und Konsumgesellschaften westlicher Provenienz ein Mehr an individueller Freiheit und Gestaltungsmacht versprechen, steht diesen Anpreisungen die Einbettung in unzählige Apparaturen und Netzwerke gegenüber: Nahrung, Baustoffe, Wärme, Strom und (Tele-)Kommunikation.
Die Emanzipation des modernen Massenmenschen ist an eine Vielzahl technischer Voraussetzungen gekoppelt, ohne die er nicht überlebensfähig wäre. Das kindliche Dasein und das Leben in den modernen Massengesellschaften ähneln sich: Beide beruhen auf Unselbständigkeit und Versorgungsanspruch. Jünger faßt diese Gegensätzlichkeit unter Berücksichtigung der Technik anhand der neuen Mobilität des Menschen: »Ein Merkmal der Technik ist […], daß sie den Menschen von allen Verbindungen, die nicht rationaler Art sind, befreit, ihn aber dafür rationalen Beziehungen unterwirft. Die wachsende Mobilität des Menschen steht im Zusammenhang mit dem Vordringen von Organisation und Apparatur, denn in diesem Verhältnis erhöht sich seine Bewegbarkeit.« (Die Perfektion der Technik, S. 133)
Mit der Herauslösung der Masse aus ihrem Raum, mit ihrer Entortung nähern wir uns ihrem ökologischen Hunger. Die Menschen verlassen ihren Boden und wandern in die Städte ab. Währenddessen wird das Land mit Hilfe gigantischer Technik ausgelaugt, der Mensch von der Natur abgetrennt. Doch diese totale Mobilisierung schafft keine nachhaltige Struktur, in ihr dominieren Entgrenzung und letztlich das Chaos. Aber durch die Entfremdung der Masse von der Natur und die fortgeschrittene Ausdifferenzierung, die den einzelnen zu einem abgeschotteten Wirkmechanismus innerhalb komplexer Prozesse werden lassen, ist die Masse blind für die Zerstörung, die sie anrichtet.
Sie immunisiert sich förmlich dagegen, wenn sie diese aus ihrem Nah- in den Fernbereich verdrängt. Sobald sie aber wirkmächtig in den eigenen Vorgarten kracht, wenn ein Windrad in der Nähe erbaut, ein Atommüllendlager eingerichtet, eine Uranmine ausgehoben werden soll, dann geht der Bundesbürger, der ansonsten in seinem Konsum behaglich eingerichtete Massenmensch, auf die Straße und wehrt sich mit allen Mitteln dagegen.
Dabei bekommt er selbst dann nur einen Bruchteil dessen zu Gesicht, was seine Ansprüche für Wirkung zeitigen. Sobald es ans Eingemachte geht, weicht man aus, denn der durch die fossilen Energieträger unablässig bereitgestellte Energieüberfluß korrigiert noch jede Bedrohung und die Trägheit des Systems, diese zu beseitigen. Der konservative Verweis auf die anthropologischen Konstanten prallt an der alles durchsickernden, öligen Dekadenz ab. Den von Gasset angeführten Druck auf die Menschen auszuüben, meidet man.
Lediglich im ökologischen Diskurs besteht die Bereitschaft, Begrenzung und Verpflichtung als Tugenden anzuerkennen, als man nur dort bereit ist, die Verwundbarkeit des Systems anzuerkennen. Das Verschließen der Augen vor den harten Realitäten wird jedoch nicht ändern können, daß alles in Bewegung geraten ist und jegliche Substanz vom Mahlstrom der Masse aufgerieben wird.