Nachkriegsliteratur 2 – Tatsächliche Vielfalt

von Günter Scholdt -- PDF der Druckfassung aus Sezession 108/ Juni 2022

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Zuwei­len las­se ich als visu­el­len Ein­druck die Lite­ra­tur der Bun­des­re­pu­blik im Gedächt­nis ­Revue pas­sie­ren. Danach zeigt sich mir die aktu­el­le Buch­sze­ne in unfrei­er Düs­ter­nis mit weni­gen Farb­tup­fern, wäh­rend die End-1940er bis 1960er kun­ter­bunt erscheinen.

Liegt das an nost­al­gi­scher Ver­klä­rung einer Zeit, in der ein Jugend­li­cher noch mit schwär­me­ri­scher Gläu­big­keit las, oder steckt mehr dahin­ter? War­um soll­te aus­ge­rech­net die als mie­fig ver­ru­fe­ne ­Ade­nau­er-Epo­che, die noch etli­chen Besat­zungs­re­strik­tio­nen einer Demo­kra­tie unter Vor­be­halt unter­lag, Par­tei­en­ver­bo­te (SRP und KPD) prak­ti­zier­te und in allen Zonen hun­dert­sei­ti­ge ­Buch­in­di­zie­rungs­lis­ten führ­te, eine lite­ra­ri­sche Frei­heits­oa­se gewe­sen sein?

Unter­schlägt mein Gedächt­nis Wich­ti­ges? Den Umstand etwa, daß US-Zen­so­ren die belieb­te, von Alfred Andersch und Hans ­Wer­ner Rich­ter redi­gier­te Zeit­schrift Der Ruf ver­bo­ten oder die Bri­ten Ernst Jün­ger bis 1949 zu publi­zie­ren unter­sag­ten. Es gab doch nach dem 17. Juni 1953 einen Auf­ruf zum Thea­ter­boy­kott Brechts, der im hie­si­gen Lite­ra­tur­kli­ma aller­dings bald ver­puff­te. Ein kul­tu­rel­les KPD-Ver­bot ließ sich hier­zu­lan­de nie­mals durch­set­zen, obwohl vie­le Schrift­stel­ler noch anti­to­ta­li­tär fühl­ten (etwa Max Frisch: Bie­der­mann und die ­Brand­stif­ter, 1958, Joseph Breit­bach: Bericht über Bru­no, 1962). Natür­lich war auch die Lite­ra­tur im kal­ten Krieg star­ken Poli­te­inflüs­sen aus­ge­setzt. Der Kon­flikt der Welt­mäch­te, zuge­spitzt als kom­mu­nis­ti­sche Her­aus­for­de­rung der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­ord­nung, wirk­te sich aus.

Doch gera­de die­se Riva­li­tät leg­te es im Wes­ten nahe, die Zügel etwas locke­rer zu hal­ten und sich im Gegen­satz zur DDR über Kunst­frei­heit zu pro­fi­lie­ren. Das setz­te einer fun­da­men­ta­len Säu­be­rung der natio­na­len oder kon­ser­va­ti­ven Sze­ne wie einer Aus­schal­tung sozia­lis­ti­scher Sym­pa­thien Gren­zen. Als Wel­len­bre­cher gegen­über einem zu »pro­gres­si­ven« Zeit­geist erwie­sen sich zudem die Kir­chen. Ins­be­son­de­re der Katho­li­zis­mus erleb­te (auf­grund stär­ke­rer Immu­ni­tät gegen­über NS-Ver­füh­run­gen) sei­ne Renais­sance. Das för­der­te Autoren wie Ste­fan And­res, ­Wer­ner Ber­gen­gruen, Eli­sa­beth Lang­gäs­ser, Edzard Scha­per, Rein­hold Schnei­der, Ruth Schau­mann, Theo­dor Hae­cker oder Franz ­Wer­fel. Den Pro­tes­tan­tis­mus ver­tra­ten die glau­bens­fes­te ­Ger­trud von Le Fort eben­so wie Fried­rich Dür­ren­matt, des­sen Reli­gi­ons­zwei­fel in sei­ner frü­hen Pro­sa pro­duk­tiv zum Aus­druck kamen (Der Tun­nel, 1952).

Daß Reli­gio­si­tät auch ihre into­le­ran­te Schat­ten­sei­te besaß, belegt ein (spä­ter ein­ge­stell­tes) Straf­ver­fah­ren gegen Arno Schmidt ­wegen Gottes­lästerung und Por­no­gra­phie in des­sen Seeland­schaft mit Poca­hon­tas (1955). ­Lite­ra­risch prü­de war man gewiß in der alten Bundes­republik. Selbst Joa­chim Fer­n­au glaub­te dies als »Vor­rei­ter« ein­träg­lich ein wenig mil­dern zu müs­sen (1958: Und sie schä­me­ten sich nicht), und Gün­ter Grass konn­te in der Blech­trom­mel (1959) oder Katz und Maus (1961) mit ein­schlä­gig Anrü­chi­gem punk­ten. Def­ti­ge­res bezog man sei­ner­zeit jedoch eher per Import von Hen­ry ­Mil­ler oder Edward Albees Ehe­schlacht-Dra­ma Wer hat Angst vor Vir­gi­nia Woolf?.

Die hie­si­ge Lite­ra­tur hat aller­dings zügig auf­ge­holt und weist in Sachen Pan­se­xua­li­sie­rung der Bel­le­tris­tik heu­te kei­ne Defi­zi­te mehr auf. Wie aller »Fort­schritt« hat auch der sei­ne Kehr­sei­te. Denn die Ära der sub­til-iro­ni­schen Anspie­lun­gen, die uns noch Wer­ke wie Dür­ren­matts Grie­che sucht Grie­chin (1955) oder Curt Goetz’ Das Haus in Mon­te­vi­deo (1953) bescher­te, ist somit end­gül­tig pas­sé. Vor­bei wie die sei­ner­zeit noch belieb­te Gat­tung der anspruchs­vol­len Salon- oder ­Bou­le­vard­ko­mö­die, von Wil­de bis Shaw, die der Zeit­geist aus dem Pro­gramm mobb­te. Ohne­hin über­for­dern ­sprach­spie­le­ri­sche ­Fines­sen und Allu­sio­nen ein zuneh­mend »illi­te­ra­tes« Publikum.

Kon­ze­diert sei immer­hin, daß etli­che Zen­sur­maß­nah­men und Ein­schüch­te­run­gen frag­los exis­tier­ten. Aber ver­gli­chen mit dem uns heu­te ser­vier­ten lite­ra­ri­schen Ein­heits­brei und einer mehr oder weni­ger frei­wil­li­gen ideo­lo­gi­schen Gleich­schal­tung, bei der Buch­mes­se-Mora­lis­ten aus­ras­ten, wenn unter 7000 ­Aus­stel­lern tat­säch­lich mal eine Hand­voll Main­stream-Kri­ti­sches prä­sen­tiert, war die Mit­te der Gesell­schaft in jener Früh­pha­se der Bun­des­re­pu­blik noch von Libe­ra­li­tät und Bunt­heit geprägt, wie sie seit­dem nie mehr erreicht wur­den. Es gab noch nicht jene wider­spruchs­los akzep­tier­te »zivilreligiös«-orthodoxe Gesin­nung. Zen­tra­le Kunst­fra­gen wur­den noch ausgekämpft.

Die Neue­rer hat­ten sich noch einer Kon­kur­renz zu stel­len und ihre Angrif­fe mit Leis­tung zu beglau­bi­gen. Ver­la­ge und Publi­ka­ti­ons­or­ga­ne erlaub­ten noch Gegen­spiel. Die Kri­ti­ker­macht der Wal­ter Jens, Hans May­er, Wal­ter ­Höl­le­rer und des bald alle päpst­lich über­ra­gen­den Reich-­Ra­ni­cki fand noch Wider­spruch in Gün­ter ­Blö­cker, Curt Hohoff, Rudolf Krä­mer-Bado­ni, Armin Moh­ler oder Fried­rich Sieburg, der die »Grup­pe 47« als Ansamm­lung macht­hung­ri­ger Kar­rie­ris­ten atta­ckier­te, wor­auf sie ihm tage­lang Gar­ten­zwer­ge zuschick­te. Andersch nann­te den FAZ-Lite­ra­tur­chef sogar in deli­ka­ter Wort­wahl »die größ­te und stinkends­te Kanal­rat­te«. Auch hat­ten die Chro­nis­ten die­ser Lite­ra­tur­epo­che ihre Ergeb­nis­se noch nicht ein­di­men­sio­nal als kanon­re­le­van­te Fort­schritts­ge­schich­te zementiert.

Dabei sei nicht ver­hehlt, daß mir bis heu­te ein gewis­ses Ver­ständ­nis für die Rebel­li­on jener Jahr­gän­ge ver­blie­ben ist , mit der sie frü­he­ren (schein­ba­ren oder wirk­li­chen) kul­tu­rel­len Ver­diens­ten begeg­ne­ten. Kata­stro­phen för­dern sol­che Respekt­lo­sig­keit. Und es lag für Autoren der »Flak­hel­fer­ge­ne­ra­ti­on« ange­sichts dras­ti­scher Erleb­nis­se im Welt­krieg und Drit­ten Reich wohl nahe, den Bruch mit über­lie­fer­ten Wer­ten und Ästhe­ti­ken so rigo­ros zu voll­zie­hen. In Hans ­Magnus Enzens­ber­gers Lyrik­band Ver­tei­di­gung der Wöl­fe (1957) blätt­re ich noch heu­te mit Inter­es­se. Denn wer damals fürs Neue auf­schlug, stieß noch auf Widerstand.

Wie ver­ächt­lich nimmt sich dage­gen die gegen­wär­ti­ge Abde­cke­rei an Bil­dungs- und Ideen­lei­chen von frü­her aus, wie pein­lich das spöt­ti­sche Tri­umph­ge­schrei über am Schreib­tisch besieg­te »Kolos­se«, die längst am Boden lie­gen. Ver­tre­ter einer Lite­ra­tur­po­li­tik, deren Vor­stel­lun­gen gänz­lich in Redak­tio­nen, Ver­la­ge und Funk­häu­ser ein­ge­zo­gen sind, gerie­ren sich mit erborg­tem Renom­mee als todes­mu­ti­ge Ein­zel­kämp­fer gegen eine Pha­lanx von Unbe­lehr­ba­ren. Dabei ver­kün­den sie seit Jahr­zehn­ten nur das, was hier­zu­lan­de alle sagen und sagen dür­fen, betrei­ben gefahr­los Schat­ten­bo­xen gegen Mumi­en, denen man längst die Kon­ser­vie­rungs­stof­fe entzog.

Dem­ge­gen­über lohnt sich, die damals tat­säch­lich viel­fäl­ti­ge Kul­tur­sze­ne näher zu betrach­ten. Sie pro­fi­tier­te noch von der abend­län­di­schen Tra­di­ti­on als vie­len gemein­sa­mer Bezugs­punkt, selbst wenn man sich (par­odie­rend) davon absetz­te, wie etwa Hein­rich Böll im Titel Wan­de­rer, kommst du nach Spa… (1950). Das Gym­na­si­um defi­nier­te sich über Klas­si­ker-Ver­mitt­lung; dies­be­züg­li­che fun­da­men­ta­le Wis­sens­ein­brü­che datie­ren spä­ter. Das Thea­ter sekun­dier­te, solan­ge es nicht durch staat­li­che Hoch­sub­ven­ti­on vom ursprüng­li­chen Bil­dungs­pu­bli­kum gerei­nigt und per All­machts­ges­ten inno­va­ti­ons­süch­ti­ger Regis­seu­re kaputt­in­sze­niert war. Es ver­stand sich noch als Forum für psy­cho­lo­gisch prä­zi­se Dar­stel­lungs­kunst, jen­seits der aktu­ell fast stan­dar­di­sier­ten gro­tes­ken Ver­zer­rung eines ent­fes­sel­ten Regie­thea­ters. Beson­ders Klas­si­ker wie ­Ibsen, Haupt­mann oder Zuck­may­er boten gro­ße Cha­rak­ter­rol­len für genui­ne Schau­spie­ler. Als ech­tes Bil­dungs­me­di­um – es ist schwer, sich das heu­te vor­zu­stel­len – erwies sich der öffent­lich-recht­li­che Rund­funk. Eine Fül­le bedeu­ten­der Hör- und Fern­seh­spie­le zeu­gen davon, dazu regel­mä­ßig ver­film­te Thea­ter­auf­füh­run­gen, durch die man auch mit neue­rer Dra­ma­tik ver­traut wur­de. Die Ska­la reich­te von Fred von ­Hoer­schelm­anns Das Schiff Espe­ran­za (1953) über Sati­ren von Sla­vo­mir Mrožek bis zu den Schwei­zern Frisch und Dür­ren­matt, die das Hör­spiel und das Nach­kriegs­thea­ter bereicherten.

Aus­län­di­sche Autoren in die­sem Kon­text zu erwäh­nen hat sei­nen Grund. Denn ihnen waren deut­sche Ver­la­ge und Büh­nen stets auf­ge­schlos­sen mit Aus­nah­me der Jah­re 1933 bis 1945, als dies künst­lich behin­dert wur­de. Nun jedoch ström­ten wie­der Über­set­zun­gen ins Land mit wert­vol­len Anre­gun­gen: von Ernest ­Heming­way, John Stein­beck und Wil­liam Faul­k­ner über ­Somer­set Maug­ham bis Dashiell Ham­mett oder Ray­mond Chand­ler. Was zu uns kam, war meist die ers­te Gar­de, wäh­rend die Wirt­schafts­schwä­che ver­hin­der­te, daß unse­re Buch­sze­ne schon damals wie gegen­wär­tig gänz­lich kolo­nia­li­siert wur­de und ins Deut­sche über­setz­te Bücher aus dem angel­säch­si­schen Bereich das Hun­dert­fa­che deut­scher Über­tra­gun­gen ins Eng­li­sche betrugen.

Auch fran­zö­si­scher Ein­fluß kam gebüh­rend zur Gel­tung, dar­un­ter Autoren des »renou­veau catho­li­que« (Geor­ges Ber­na­nos, Paul Clau­del, Juli­en Green, Fran­cois Mau­riac im Ver­ein mit den Eng­län­dern Gra­ham Gree­ne oder T. S. Eli­ot). Wich­ti­ger noch waren exis­ten­tia­lis­ti­sche Anre­gun­gen, reprä­sen­tiert durch Namen wie Albert Camus (Der Mythos von Sisy­phos) oder Jean-Paul Sart­re (Der Ekel, Die schmut­zi­gen Hän­de). Gera­de Sart­re hat­te Deut­schen Beson­de­res zu sagen, vor­nehm­lich 1947 mit sei­nem Vor­wort zur deut­schen Aus­ga­be von Die Flie­gen, einem Stück, das einst gegen die Mut­lo­sig­keit vie­ler Fran­zo­sen nach der Nie­der­la­ge 1940 geschrie­ben wor­den war. Er woll­te sie aus einer im Schuld­kult gip­feln­den Pas­si­vi­tät her­aus­rei­ßen. »Heu­te«, schrieb er, »haben die Deut­schen das glei­che Pro­blem«. Auch für sie »ist Selbst­ver­leug­nung unfrucht­bar«. Man möge »die Erin­ne­rung an die Feh­ler der Ver­gan­gen­heit« nicht aus dem Gedächt­nis til­gen. Aber kei­ne »will­fäh­ri­ge Selbst­ver­leug­nung« ver­schaf­fe ihnen »jenen Par­don«, den »die Welt ihnen gewäh­ren kann.«

Wei­te­re hier­zu­lan­de wich­ti­ge Literatur­impulse erga­ben sich vom absur­den Thea­ter her. Auf beson­de­re Reso­nanz stie­ßen Eugè­ne ­Ionescos Die Nas­hör­ner (1959) oder Samu­el Becketts War­ten auf Godot (1952), Mons­ter­pa­ra­beln von zeit­über­grei­fen­der Gül­tig­keit. Deut­sche Eigen­produkte im Bereich des Absur­den stam­men von Wolf­gang Hildes­heimer (Lieb­lo­se Legen­den, 1952) und nicht zuletzt Kurt ­Kusen­berg, der bereits in den frü­hen 1940ern mit »selt­sa­men Geschich­ten« den Trend antizipierte.

Die qua­li­ta­ti­ve Inten­si­tät der Lite­ra­tur der ers­ten Nach­kriegs­jahr­zehn­te rührt auch daher, daß sie drei­fach gespeist war. Denn neben den erst nach dem 8. Mai 1945 geschrie­be­nen Tex­ten öff­ne­ten sich jetzt die Schub­la­den der Inne­ren Emi­gran­ten, die im Gegen­satz zu igno­ran­ten ger­ma­nis­ti­schen Kli­schees reich gefüllt waren. Zugleich dräng­ten Exi­lan­ten auf den deut­schen Buch­markt zurück. Daß man sie dar­an gehin­dert habe, ist, von sel­te­nen Aus­nah­men abge­se­hen, inter­es­sier­te Legen­de. Viel­mehr gehör­ten die Brecht, Wer­fel – ich erin­ne­re mich einer präch­ti­gen Fern­seh-­In­sze­nie­rung von Jaco­bow­sky und der Oberst –, Theo­dor Plie­vier, Vicki Baum, Fried­rich Tor­berg oder Her­mann Kes­ten schon früh und viel gele­sen wie­der zum Kanon. Zuck­may­er, Remar­que oder der im Exil ver­stor­be­ne Ste­fan Zweig erran­gen Mil­lio­nen­auf­la­gen. Schon früh reüs­sier­te Tho­mas Mann. Sein Dok­tor Faus­tus (1947) war Buch­mes­sen-Sen­sa­ti­on. Hans Habe wirk­te wie Ste­fan Heym als Kul­tur­of­fi­zier und Zeit­schrif­ten­re­dak­teur. Die lini­en­treue DDR-Pro­pa­gan­dis­tin Anna Seg­hers erhielt 1947 den Büch­nerpreis, Erwin Pis­ca­tor (1958 Gro­ßes Bun­des­ver­dienst­kreuz) insze­nier­te in West­deutsch­land bereits wie­der seit den frü­hen 1950ern, ab 1962 als Inten­dant der Frei­en Volksbühne.

Bel­le­tris­tik mit Anspruch auf höchs­te Gel­tung fokus­sier­te sich nicht nur auf »Bewäl­ti­gungs­li­te­ra­tur«, son­dern umfaß­te den gan­zen Kos­mos exis­ten­ti­el­ler The­men, von Lie­be über Tod bis zu den Alters­bi­lan­zen, wie sie Otto Fla­ke, impo­nie­rend nüch­tern, im Roman Old Man (1947) zog. Auch Humor besaß noch kein Nega­tiv­image. Die Natur­ly­rik jener Tage stand in vol­ler Blü­te. Ben­ns spä­te Gedich­te gänz­li­cher poli­ti­scher Ent­sa­gung zäh­len zur Welt­li­te­ra­tur. Es gab Aus­flü­ge in lite­ra­ri­sche Gegen­wel­ten dem uner­quick­li­chen All­tag zum Trotz (Wolf von Nie­bel­schütz, Ernst Kreu­der) und reli­giö­se Trost- und Ver­söh­nungs­dich­tung, von Ber­gen­gruen bis ­And­res (Die Hoch­zeit der Fein­de, 1947).

Doch auch der The­men­kom­plex »Drit­tes Reich« ließ man­che Auf­fas­sung zu, die heu­te umge­hend zur denun­zia­to­ri­schen Klas­si­fi­ka­ti­on »umstrit­ten« führt. Beson­ders die noch ein­mal davon­ge­kom­me­ne jün­ge­re Gene­ra­ti­on dräng­te es, sich schrei­bend see­lisch zu befrei­en, jen­seits gro­ßer Wor­te, deren Zeit vor­läu­fig vor­bei war. Sie pro­pa­gier­te scho­nungs­lo­sen Rea­lis­mus und gene­rel­le Sprach­skep­sis. Als authen­ti­scher Aus­druck die­ser Jahr­gän­ge und Exem­pel enga­gier­ter Bel­le­tris­tik erwei­sen sich ­Wolf­gang ­Bor­cherts lite­ra­ri­sche Empö­rungs­schreie (Drau­ßen vor der Tür, 1947) oder sein berühm­tes »Sag NEIN!« im Mani­fest Dann gibt es nur eins! (1947). Bölls trüm­mer­li­te­ra­ri­scher Ansatz vol­ler Rat­lo­sig­keit, sei­ne Mus­te­rung ethi­scher Rest­be­stän­de, mensch­li­cher Ver­lus­te und Schuld, wie­der­holt das »Nie wie­der!« Sein Kriegs­buch stellt bereits im Titel die bibli­sche Fra­ge, Wo warst du, Adam? (1951), und ant­wor­tet mit Theo­dor Hae­cker: »Ich war im Welt­krieg«. Auch Plie­viers minu­tiö­se Rekon­struk­ti­on der Kata­stro­phe von Sta­lin­grad läuft auf rigo­ro­se Bestands­auf­nah­me hinaus.

Als lite­ra­ri­sches Sprach­rohr für ­Kriegs­kri­tik dient der »klei­ne Mann« als ­Haupt­be­trof­fe­ner der Völ­ker­ge­met­zel. Ein kom­ple­xes Zeit­bild ergibt jedoch erst die Fül­le von Per­spek­ti­ven und Ein­zel­schick­sa­len zur Aus­leuch­tung eines Cha­os, das sich vor­schnel­ler Bilanz ver­wei­gert. Ernst ­Jün­gers Strah­lun­gen (1949) mus­tern die ­Schre­cken aus der Sicht Pari­ser Stabs­of­fi­zie­re, Felix Hart­laubs post­hum erschie­ne­ne Sati­re Im Dickicht des Süd­os­tens (1955) gar aus dem Füh­rer­haupt­quar­tier. Albrecht Goes’ Unru­hi­ge Nacht (1950) zeigt die pre­kä­re Rol­le eines Mili­tär­pfar­rers. In drei Kriegs­ta­ge­bü­chern (1948 – 1950) bewegt sich Ger­hard Nebel als kon­ser­va­ti­ver Anar­chist zwi­schen den Weltanschauungslinien.

Der Links-rechts-Ant­ago­nis­mus besaß lite­ra­risch noch nicht die heu­ti­ge Ste­ri­li­tät. Andersch ver­ehr­te Jün­ger, der wie­der­um Ver­ständ­nis für des­sen Deser­ti­on zeig­te. Der Ruf ver­trat auch eine patrio­ti­sche Lin­ke. Dabei lohnt ein Blick auf Hans Wer­ner Rich­ters Die ­Geschla­ge­nen (1949). Was Ober­ge­frei­ter Güh­ler, sein bei Mon­te ­Cas­si­no in US-Gefan­gen­schaft gera­te­ner Prot­ago­nist, dem unbe­darf­ten Dol­met­scher im Ver­hör ant­wor­tet, offen­bart die Bewußt­seins­kluft zwi­schen Sie­ger und Besieg­ten. Sol­dat sei er schlicht aus Zwang gewor­den. Deser­ti­on hal­te er für fei­ge. An ­Hit­lers End­sieg glau­be er eben­so­we­nig wie, ter­ror­be­dingt, an einen erfolg­rei­chen Auf­stand. Den Vor­wurf, nicht rebel­liert zu haben, quit­tiert er lako­nisch: »Ein Toter kann sich nicht wider­set­zen.« Dann folgt ein Wort­wech­sel, den die Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on umstands­los akzep­tier­te, wäh­rend er gemäß heu­ti­ger Ent­pro­ble­ma­ti­sie­rung tra­gi­scher Zwick­müh­len eher ideo­lo­gi­sche Zurück­ge­blie­ben­heit indiziert:

»›Kön­nen Sie mir sagen, wo Ihre Stel­lun­gen waren?‹

›Nein‹, sag­te Gühler.

›Sie sind doch ein Geg­ner der Nazis?‹

›Da oben lie­gen kei­ne Nazis, son­dern Kame­ra­den von mir.‹

›Sie hel­fen den Krieg abkürzen.‹

›Nein‹, sag­te Güh­ler lang­sam und stand dabei auf, ›der Krieg hat sei­ne eige­nen Geset­ze. Jede Stel­lung, die ich Ihnen sage, bedeu­tet drei­ßig bis vier­zig Voll­tref­fer für die Kame­ra­den, die jetzt noch eine Chan­ce haben, mit dem Leben davonzukommen.‹«

Gemein­sa­me Kata­stro­phen­er­fah­rung rela­ti­vier­te man­ches: Auch Fer­n­au oder Gai­ser, bei­de (wie per­sön­lich reser­viert auch immer) wer­bend für das Regime tätig, waren 1945 gänz­lich des­il­lu­sio­niert. Ihre Kriegs- und Heim­keh­rersto­rys ver­kün­den daher nichts weni­ger als Tages­po­li­tik. Der als Bel­li­zist ver­schrie­ne Ernst ­Jün­ger ver­faß­te längst kei­ne Stahl­ge­wit­ter mehr wie nach 1918, son­dern Schrif­ten wie Der Frie­de (1945). Hans Erich Nossack (Der Unter­gang, 1948) und der Kom­mu­nis­mus- und DDR-affi­ne Gert ­Ledig (Die Sta­lin­or­gel, 1955) pro­to­kol­lier­ten pures Grau­en, wobei Ledigs exzes­si­ver Veris­mus des geschil­der­ten Bom­ben­kriegs in Die Ver­gel­tung (1956) die Schmerz­gren­ze vie­ler Leser über­stieg. Man neigt heu­te dazu, nur in sol­cher Dar­stel­lungs­bru­ta­li­tät eine adäqua­te Hal­tung zum Krie­ge zu sehen und Schil­de­run­gen abzu­wer­ten wie die des Feld­arz­tes Peter Bamm (Die unsicht­ba­re Flag­ge, 1952), der im Bewußt­sein, »daß wir alle des Teu­fels waren«, gleich­wohl die abend­län­di­sche Kul­tur zitier­te und Bot­schaf­ten ver­lo­re­ner Huma­ni­tät versandte.

Gän­gi­gen Sim­pli­fi­ka­tio­nen zufol­ge dau­er­te es bis Mit­te der 1960er, bis end­lich die zuvor meist ver­dräng­te Juden­ver­fol­gung gebüh­rend zur Spra­che kam. Erst mit Rolf Hoch­huths Der Stell­ver­tre­ter (1963), der die päpst­li­che Diplo­ma­tie ange­sichts des Völ­ker­mords hef­tig tadel­te, und Peter Weiss’ Die Ermitt­lung (1965) als doku­men­ta­ri­sche Ver­an­schau­li­chung des Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zes­ses habe sich das grund­le­gend geän­dert. Zwar illus­trie­ren bei­de Wer­ke das Unge­heu­er­li­che beson­ders inten­siv. Aber die zeit­ge­nös­si­schen Autoren klam­mer­ten die­ses Kapi­tel deut­scher Geschich­te kei­nes­wegs aus. Nur genüg­ten zuvor (auch aus zurück­hal­ten­dem Respekt vor dem heik­len Stoff, der beson­ders für ideo­lo­gisch Kon­ta­mi­nier­te die Gefahr barg, in pein­li­che Spe­ku­la­ti­on zu mün­den) dosier­te­re Hin­wei­se oder (alle­go­ri­sche) Anspie­lun­gen. Denn veris­tisch auf­be­rei­te­te Details lie­fer­ten bereits in Hül­le und Fül­le täg­li­che Nürn­ber­ger Pro­zeß­be­rich­te, ent­spre­chen­de Fil­me und Deut­schen auf­er­leg­te Zwangs­be­su­che in KZs, die ver­tief­te Gewis­sens­er­for­schung durch mas­si­ve poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung auch mal behinderten.

Gemes­sen an heu­ti­gen »Auf­klä­rungs­stan­dards«, wonach wir im Jahr prak­tisch kei­nen Holo­caust-frei­en Tag mehr haben, moch­te das The­ma unter­be­han­delt erschei­nen, sonst jedoch nicht. Gab es doch von Anfang an wich­ti­ge Text­be­zü­ge: exem­pla­risch Ber­gen­gruens Die letz­te Epi­pha­nie in Dies irae (1945), Zuck­mayers Des Teu­fels Gene­ral (1946), Ernst ­Wie­cherts Der Toten­wald (1946), Lang­gäs­sers Sai­son­be­ginn (1947), ­Wolf­gang Koep­pens Bear­bei­tung von ­Jakob ­Litt­ners Auf­zeich­nun­gen aus einem Erd­loch (1948), Ilse Aichin­gers Die grö­ße­re Hoff­nung (1948), Bru­no E. ­Wer­ners Die Galee­re (1949), Jün­gers Strah­lun­gen und Helio­po­lis (bei­de 1949), Bölls Wo warst du, Adam? (1951), Gün­ter Eichs Träu­me (1951), Hoer­schelm­anns Die ver­schlos­se­ne Tür (1952), Bamms Die unsicht­ba­re Flag­ge (1952), Goes’ Das Brand­op­fer (1954), Anderschs San­si­bar oder der letz­te Grund (1957). ­Rein­hold ­Schnei­der rief zur Buße auf. Nel­ly Sachs wur­de umge­hend bekannt, das Tage­buch der Anne Frank mil­lio­nen­fach in Deutsch­land ver­brei­tet. Paul Cel­ans »Todes­fu­ge« erschien 1948 in Deutsch­land. Max Frischs Andor­ra (1961) erlang­te Schulklassiker-Status.

Kol­lek­tiv ver­schwie­gen wur­de also nichts. Eher nahm man sich noch die Frei­heit, den Natio­nal­so­zia­lis­mus und damit ver­bun­de­ne ethi­sche Fra­gen modell­haft-über­zeit­lich und nicht nur als sin­gu­lä­re Untat zu erfas­sen. Auch dis­kre­di­tier­te eine strik­te Opfer­hier­ar­chie noch nicht (wegen angeb­li­cher Rela­ti­vie­rung) die ange­mes­se­ne Behand­lung ande­rer Polit­ver­bre­chen wie der Ver­trei­bung (Wie­chert: Mis­sa sine nomi­ne, 1950). Und man ließ noch Ver­strick­te zum lite­ra­ri­schen Nach­kriegs­dis­kurs zu, wobei sich ohne­hin spä­ter ergab, daß die ver­meint­lich »Rei­nen« viel rarer waren, als ihr neu­ge­bas­tel­tes »Bewältiger«-Image nahe­leg­te (sie­he Gün­ter Grass). Schließ­lich hat­ten auch poli­tisch Invol­vier­te, sofern sie sich bil­li­ger Apo­lo­gie ent­hiel­ten, Wich­ti­ges zur kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung beizutragen.

So bot etwa Gerd Gai­sers Flie­ger­epos Die ster­ben­de Jagd (1953) die sug­ges­ti­ve Schil­de­rung einer aus­sichts­lo­sen Lage, eben­so sein Gib acht in Domo­kosch (1959). Wal­ter Kol­ben­hoffs Von unserm Fleisch und Blut (1947) oder Die­ter Meichs­ners Versuch’s noch mal mit uns (1948) illus­trier­ten das Kriegs­en­de im Spie­gel ver­zwei­fel­ter indok­tri­nier­ter Jugend­li­cher. Ernst von ­Salo­mons Fra­ge­bo­gen (1951) lie­fer­te ein gewal­ti­ges auto­bio­gra­phi­sches State­ment gegen eine aus sche­ma­ti­schem Geist gebo­re­ne Ent­na­zi­fi­zie­rung, die Mil­lio­nen per Ja- oder Nein-For­ma­lis­mus schlicht in Gut und Böse klas­si­fi­zier­te. Ernst Jün­gers Wald­gang (1951) zog dar­aus ein Fazit für die Lage des Non­kon­for­mis­ten in einer zuneh­mend tota­li­tä­ren Moder­ne. Glä­ser­ne Bie­nen (1957) wie­der­um the­ma­ti­siert nicht ohne Selbst­iro­nie Fall­stri­cke für Dienstbereite.

Ein anspruchs­vol­les Zeit­bild ergibt sich erst aus dem Ensem­ble von mög­lichst vie­len Ein­zel­er­leb­nis­sen. Autor­schaft ver­schmilzt dabei für ernst­haf­te Schrift­stel­ler nicht lücken­los mit Volks­päd­ago­gik. Wer also aus ange­maß­ter Kennt­nis des rich­ti­gen oder fal­schen Bewußt­seins so selbst­si­cher über fort­schritt­li­che oder gest­ri­ge Lite­ra­ten urteilt, mag alles sein, nur kein bei­spiel­ge­ben­der Lite­r­ar­his­to­ri­ker. Er ist im Grun­de ledig­lich ein Betra­gens­no­ten ver­tei­len­der Geschichts­kon­struk­teur, der ein- und aus­grenzt. Wie das kon­kret geschah, zei­gen die nächs­ten Folgen.

 

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