Zuweilen lasse ich als visuellen Eindruck die Literatur der Bundesrepublik im Gedächtnis Revue passieren. Danach zeigt sich mir die aktuelle Buchszene in unfreier Düsternis mit wenigen Farbtupfern, während die End-1940er bis 1960er kunterbunt erscheinen.
Liegt das an nostalgischer Verklärung einer Zeit, in der ein Jugendlicher noch mit schwärmerischer Gläubigkeit las, oder steckt mehr dahinter? Warum sollte ausgerechnet die als miefig verrufene Adenauer-Epoche, die noch etlichen Besatzungsrestriktionen einer Demokratie unter Vorbehalt unterlag, Parteienverbote (SRP und KPD) praktizierte und in allen Zonen hundertseitige Buchindizierungslisten führte, eine literarische Freiheitsoase gewesen sein?
Unterschlägt mein Gedächtnis Wichtiges? Den Umstand etwa, daß US-Zensoren die beliebte, von Alfred Andersch und Hans Werner Richter redigierte Zeitschrift Der Ruf verboten oder die Briten Ernst Jünger bis 1949 zu publizieren untersagten. Es gab doch nach dem 17. Juni 1953 einen Aufruf zum Theaterboykott Brechts, der im hiesigen Literaturklima allerdings bald verpuffte. Ein kulturelles KPD-Verbot ließ sich hierzulande niemals durchsetzen, obwohl viele Schriftsteller noch antitotalitär fühlten (etwa Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter, 1958, Joseph Breitbach: Bericht über Bruno, 1962). Natürlich war auch die Literatur im kalten Krieg starken Politeinflüssen ausgesetzt. Der Konflikt der Weltmächte, zugespitzt als kommunistische Herausforderung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, wirkte sich aus.
Doch gerade diese Rivalität legte es im Westen nahe, die Zügel etwas lockerer zu halten und sich im Gegensatz zur DDR über Kunstfreiheit zu profilieren. Das setzte einer fundamentalen Säuberung der nationalen oder konservativen Szene wie einer Ausschaltung sozialistischer Sympathien Grenzen. Als Wellenbrecher gegenüber einem zu »progressiven« Zeitgeist erwiesen sich zudem die Kirchen. Insbesondere der Katholizismus erlebte (aufgrund stärkerer Immunität gegenüber NS-Verführungen) seine Renaissance. Das förderte Autoren wie Stefan Andres, Werner Bergengruen, Elisabeth Langgässer, Edzard Schaper, Reinhold Schneider, Ruth Schaumann, Theodor Haecker oder Franz Werfel. Den Protestantismus vertraten die glaubensfeste Gertrud von Le Fort ebenso wie Friedrich Dürrenmatt, dessen Religionszweifel in seiner frühen Prosa produktiv zum Ausdruck kamen (Der Tunnel, 1952).
Daß Religiosität auch ihre intolerante Schattenseite besaß, belegt ein (später eingestelltes) Strafverfahren gegen Arno Schmidt wegen Gotteslästerung und Pornographie in dessen Seelandschaft mit Pocahontas (1955). Literarisch prüde war man gewiß in der alten Bundesrepublik. Selbst Joachim Fernau glaubte dies als »Vorreiter« einträglich ein wenig mildern zu müssen (1958: Und sie schämeten sich nicht), und Günter Grass konnte in der Blechtrommel (1959) oder Katz und Maus (1961) mit einschlägig Anrüchigem punkten. Deftigeres bezog man seinerzeit jedoch eher per Import von Henry Miller oder Edward Albees Eheschlacht-Drama Wer hat Angst vor Virginia Woolf?.
Die hiesige Literatur hat allerdings zügig aufgeholt und weist in Sachen Pansexualisierung der Belletristik heute keine Defizite mehr auf. Wie aller »Fortschritt« hat auch der seine Kehrseite. Denn die Ära der subtil-ironischen Anspielungen, die uns noch Werke wie Dürrenmatts Grieche sucht Griechin (1955) oder Curt Goetz’ Das Haus in Montevideo (1953) bescherte, ist somit endgültig passé. Vorbei wie die seinerzeit noch beliebte Gattung der anspruchsvollen Salon- oder Boulevardkomödie, von Wilde bis Shaw, die der Zeitgeist aus dem Programm mobbte. Ohnehin überfordern sprachspielerische Finessen und Allusionen ein zunehmend »illiterates« Publikum.
Konzediert sei immerhin, daß etliche Zensurmaßnahmen und Einschüchterungen fraglos existierten. Aber verglichen mit dem uns heute servierten literarischen Einheitsbrei und einer mehr oder weniger freiwilligen ideologischen Gleichschaltung, bei der Buchmesse-Moralisten ausrasten, wenn unter 7000 Ausstellern tatsächlich mal eine Handvoll Mainstream-Kritisches präsentiert, war die Mitte der Gesellschaft in jener Frühphase der Bundesrepublik noch von Liberalität und Buntheit geprägt, wie sie seitdem nie mehr erreicht wurden. Es gab noch nicht jene widerspruchslos akzeptierte »zivilreligiös«-orthodoxe Gesinnung. Zentrale Kunstfragen wurden noch ausgekämpft.
Die Neuerer hatten sich noch einer Konkurrenz zu stellen und ihre Angriffe mit Leistung zu beglaubigen. Verlage und Publikationsorgane erlaubten noch Gegenspiel. Die Kritikermacht der Walter Jens, Hans Mayer, Walter Höllerer und des bald alle päpstlich überragenden Reich-Ranicki fand noch Widerspruch in Günter Blöcker, Curt Hohoff, Rudolf Krämer-Badoni, Armin Mohler oder Friedrich Sieburg, der die »Gruppe 47« als Ansammlung machthungriger Karrieristen attackierte, worauf sie ihm tagelang Gartenzwerge zuschickte. Andersch nannte den FAZ-Literaturchef sogar in delikater Wortwahl »die größte und stinkendste Kanalratte«. Auch hatten die Chronisten dieser Literaturepoche ihre Ergebnisse noch nicht eindimensional als kanonrelevante Fortschrittsgeschichte zementiert.
Dabei sei nicht verhehlt, daß mir bis heute ein gewisses Verständnis für die Rebellion jener Jahrgänge verblieben ist , mit der sie früheren (scheinbaren oder wirklichen) kulturellen Verdiensten begegneten. Katastrophen fördern solche Respektlosigkeit. Und es lag für Autoren der »Flakhelfergeneration« angesichts drastischer Erlebnisse im Weltkrieg und Dritten Reich wohl nahe, den Bruch mit überlieferten Werten und Ästhetiken so rigoros zu vollziehen. In Hans Magnus Enzensbergers Lyrikband Verteidigung der Wölfe (1957) blättre ich noch heute mit Interesse. Denn wer damals fürs Neue aufschlug, stieß noch auf Widerstand.
Wie verächtlich nimmt sich dagegen die gegenwärtige Abdeckerei an Bildungs- und Ideenleichen von früher aus, wie peinlich das spöttische Triumphgeschrei über am Schreibtisch besiegte »Kolosse«, die längst am Boden liegen. Vertreter einer Literaturpolitik, deren Vorstellungen gänzlich in Redaktionen, Verlage und Funkhäuser eingezogen sind, gerieren sich mit erborgtem Renommee als todesmutige Einzelkämpfer gegen eine Phalanx von Unbelehrbaren. Dabei verkünden sie seit Jahrzehnten nur das, was hierzulande alle sagen und sagen dürfen, betreiben gefahrlos Schattenboxen gegen Mumien, denen man längst die Konservierungsstoffe entzog.
Demgegenüber lohnt sich, die damals tatsächlich vielfältige Kulturszene näher zu betrachten. Sie profitierte noch von der abendländischen Tradition als vielen gemeinsamer Bezugspunkt, selbst wenn man sich (parodierend) davon absetzte, wie etwa Heinrich Böll im Titel Wanderer, kommst du nach Spa… (1950). Das Gymnasium definierte sich über Klassiker-Vermittlung; diesbezügliche fundamentale Wissenseinbrüche datieren später. Das Theater sekundierte, solange es nicht durch staatliche Hochsubvention vom ursprünglichen Bildungspublikum gereinigt und per Allmachtsgesten innovationssüchtiger Regisseure kaputtinszeniert war. Es verstand sich noch als Forum für psychologisch präzise Darstellungskunst, jenseits der aktuell fast standardisierten grotesken Verzerrung eines entfesselten Regietheaters. Besonders Klassiker wie Ibsen, Hauptmann oder Zuckmayer boten große Charakterrollen für genuine Schauspieler. Als echtes Bildungsmedium – es ist schwer, sich das heute vorzustellen – erwies sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Eine Fülle bedeutender Hör- und Fernsehspiele zeugen davon, dazu regelmäßig verfilmte Theateraufführungen, durch die man auch mit neuerer Dramatik vertraut wurde. Die Skala reichte von Fred von Hoerschelmanns Das Schiff Esperanza (1953) über Satiren von Slavomir Mrožek bis zu den Schweizern Frisch und Dürrenmatt, die das Hörspiel und das Nachkriegstheater bereicherten.
Ausländische Autoren in diesem Kontext zu erwähnen hat seinen Grund. Denn ihnen waren deutsche Verlage und Bühnen stets aufgeschlossen mit Ausnahme der Jahre 1933 bis 1945, als dies künstlich behindert wurde. Nun jedoch strömten wieder Übersetzungen ins Land mit wertvollen Anregungen: von Ernest Hemingway, John Steinbeck und William Faulkner über Somerset Maugham bis Dashiell Hammett oder Raymond Chandler. Was zu uns kam, war meist die erste Garde, während die Wirtschaftsschwäche verhinderte, daß unsere Buchszene schon damals wie gegenwärtig gänzlich kolonialisiert wurde und ins Deutsche übersetzte Bücher aus dem angelsächsischen Bereich das Hundertfache deutscher Übertragungen ins Englische betrugen.
Auch französischer Einfluß kam gebührend zur Geltung, darunter Autoren des »renouveau catholique« (Georges Bernanos, Paul Claudel, Julien Green, Francois Mauriac im Verein mit den Engländern Graham Greene oder T. S. Eliot). Wichtiger noch waren existentialistische Anregungen, repräsentiert durch Namen wie Albert Camus (Der Mythos von Sisyphos) oder Jean-Paul Sartre (Der Ekel, Die schmutzigen Hände). Gerade Sartre hatte Deutschen Besonderes zu sagen, vornehmlich 1947 mit seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Die Fliegen, einem Stück, das einst gegen die Mutlosigkeit vieler Franzosen nach der Niederlage 1940 geschrieben worden war. Er wollte sie aus einer im Schuldkult gipfelnden Passivität herausreißen. »Heute«, schrieb er, »haben die Deutschen das gleiche Problem«. Auch für sie »ist Selbstverleugnung unfruchtbar«. Man möge »die Erinnerung an die Fehler der Vergangenheit« nicht aus dem Gedächtnis tilgen. Aber keine »willfährige Selbstverleugnung« verschaffe ihnen »jenen Pardon«, den »die Welt ihnen gewähren kann.«
Weitere hierzulande wichtige Literaturimpulse ergaben sich vom absurden Theater her. Auf besondere Resonanz stießen Eugène Ionescos Die Nashörner (1959) oder Samuel Becketts Warten auf Godot (1952), Monsterparabeln von zeitübergreifender Gültigkeit. Deutsche Eigenprodukte im Bereich des Absurden stammen von Wolfgang Hildesheimer (Lieblose Legenden, 1952) und nicht zuletzt Kurt Kusenberg, der bereits in den frühen 1940ern mit »seltsamen Geschichten« den Trend antizipierte.
Die qualitative Intensität der Literatur der ersten Nachkriegsjahrzehnte rührt auch daher, daß sie dreifach gespeist war. Denn neben den erst nach dem 8. Mai 1945 geschriebenen Texten öffneten sich jetzt die Schubladen der Inneren Emigranten, die im Gegensatz zu ignoranten germanistischen Klischees reich gefüllt waren. Zugleich drängten Exilanten auf den deutschen Buchmarkt zurück. Daß man sie daran gehindert habe, ist, von seltenen Ausnahmen abgesehen, interessierte Legende. Vielmehr gehörten die Brecht, Werfel – ich erinnere mich einer prächtigen Fernseh-Inszenierung von Jacobowsky und der Oberst –, Theodor Plievier, Vicki Baum, Friedrich Torberg oder Hermann Kesten schon früh und viel gelesen wieder zum Kanon. Zuckmayer, Remarque oder der im Exil verstorbene Stefan Zweig errangen Millionenauflagen. Schon früh reüssierte Thomas Mann. Sein Doktor Faustus (1947) war Buchmessen-Sensation. Hans Habe wirkte wie Stefan Heym als Kulturoffizier und Zeitschriftenredakteur. Die linientreue DDR-Propagandistin Anna Seghers erhielt 1947 den Büchnerpreis, Erwin Piscator (1958 Großes Bundesverdienstkreuz) inszenierte in Westdeutschland bereits wieder seit den frühen 1950ern, ab 1962 als Intendant der Freien Volksbühne.
Belletristik mit Anspruch auf höchste Geltung fokussierte sich nicht nur auf »Bewältigungsliteratur«, sondern umfaßte den ganzen Kosmos existentieller Themen, von Liebe über Tod bis zu den Altersbilanzen, wie sie Otto Flake, imponierend nüchtern, im Roman Old Man (1947) zog. Auch Humor besaß noch kein Negativimage. Die Naturlyrik jener Tage stand in voller Blüte. Benns späte Gedichte gänzlicher politischer Entsagung zählen zur Weltliteratur. Es gab Ausflüge in literarische Gegenwelten dem unerquicklichen Alltag zum Trotz (Wolf von Niebelschütz, Ernst Kreuder) und religiöse Trost- und Versöhnungsdichtung, von Bergengruen bis Andres (Die Hochzeit der Feinde, 1947).
Doch auch der Themenkomplex »Drittes Reich« ließ manche Auffassung zu, die heute umgehend zur denunziatorischen Klassifikation »umstritten« führt. Besonders die noch einmal davongekommene jüngere Generation drängte es, sich schreibend seelisch zu befreien, jenseits großer Worte, deren Zeit vorläufig vorbei war. Sie propagierte schonungslosen Realismus und generelle Sprachskepsis. Als authentischer Ausdruck dieser Jahrgänge und Exempel engagierter Belletristik erweisen sich Wolfgang Borcherts literarische Empörungsschreie (Draußen vor der Tür, 1947) oder sein berühmtes »Sag NEIN!« im Manifest Dann gibt es nur eins! (1947). Bölls trümmerliterarischer Ansatz voller Ratlosigkeit, seine Musterung ethischer Restbestände, menschlicher Verluste und Schuld, wiederholt das »Nie wieder!« Sein Kriegsbuch stellt bereits im Titel die biblische Frage, Wo warst du, Adam? (1951), und antwortet mit Theodor Haecker: »Ich war im Weltkrieg«. Auch Plieviers minutiöse Rekonstruktion der Katastrophe von Stalingrad läuft auf rigorose Bestandsaufnahme hinaus.
Als literarisches Sprachrohr für Kriegskritik dient der »kleine Mann« als Hauptbetroffener der Völkergemetzel. Ein komplexes Zeitbild ergibt jedoch erst die Fülle von Perspektiven und Einzelschicksalen zur Ausleuchtung eines Chaos, das sich vorschneller Bilanz verweigert. Ernst Jüngers Strahlungen (1949) mustern die Schrecken aus der Sicht Pariser Stabsoffiziere, Felix Hartlaubs posthum erschienene Satire Im Dickicht des Südostens (1955) gar aus dem Führerhauptquartier. Albrecht Goes’ Unruhige Nacht (1950) zeigt die prekäre Rolle eines Militärpfarrers. In drei Kriegstagebüchern (1948 – 1950) bewegt sich Gerhard Nebel als konservativer Anarchist zwischen den Weltanschauungslinien.
Der Links-rechts-Antagonismus besaß literarisch noch nicht die heutige Sterilität. Andersch verehrte Jünger, der wiederum Verständnis für dessen Desertion zeigte. Der Ruf vertrat auch eine patriotische Linke. Dabei lohnt ein Blick auf Hans Werner Richters Die Geschlagenen (1949). Was Obergefreiter Gühler, sein bei Monte Cassino in US-Gefangenschaft geratener Protagonist, dem unbedarften Dolmetscher im Verhör antwortet, offenbart die Bewußtseinskluft zwischen Sieger und Besiegten. Soldat sei er schlicht aus Zwang geworden. Desertion halte er für feige. An Hitlers Endsieg glaube er ebensowenig wie, terrorbedingt, an einen erfolgreichen Aufstand. Den Vorwurf, nicht rebelliert zu haben, quittiert er lakonisch: »Ein Toter kann sich nicht widersetzen.« Dann folgt ein Wortwechsel, den die Erlebnisgeneration umstandslos akzeptierte, während er gemäß heutiger Entproblematisierung tragischer Zwickmühlen eher ideologische Zurückgebliebenheit indiziert:
»›Können Sie mir sagen, wo Ihre Stellungen waren?‹
›Nein‹, sagte Gühler.
›Sie sind doch ein Gegner der Nazis?‹
›Da oben liegen keine Nazis, sondern Kameraden von mir.‹
›Sie helfen den Krieg abkürzen.‹
›Nein‹, sagte Gühler langsam und stand dabei auf, ›der Krieg hat seine eigenen Gesetze. Jede Stellung, die ich Ihnen sage, bedeutet dreißig bis vierzig Volltreffer für die Kameraden, die jetzt noch eine Chance haben, mit dem Leben davonzukommen.‹«
Gemeinsame Katastrophenerfahrung relativierte manches: Auch Fernau oder Gaiser, beide (wie persönlich reserviert auch immer) werbend für das Regime tätig, waren 1945 gänzlich desillusioniert. Ihre Kriegs- und Heimkehrerstorys verkünden daher nichts weniger als Tagespolitik. Der als Bellizist verschriene Ernst Jünger verfaßte längst keine Stahlgewitter mehr wie nach 1918, sondern Schriften wie Der Friede (1945). Hans Erich Nossack (Der Untergang, 1948) und der Kommunismus- und DDR-affine Gert Ledig (Die Stalinorgel, 1955) protokollierten pures Grauen, wobei Ledigs exzessiver Verismus des geschilderten Bombenkriegs in Die Vergeltung (1956) die Schmerzgrenze vieler Leser überstieg. Man neigt heute dazu, nur in solcher Darstellungsbrutalität eine adäquate Haltung zum Kriege zu sehen und Schilderungen abzuwerten wie die des Feldarztes Peter Bamm (Die unsichtbare Flagge, 1952), der im Bewußtsein, »daß wir alle des Teufels waren«, gleichwohl die abendländische Kultur zitierte und Botschaften verlorener Humanität versandte.
Gängigen Simplifikationen zufolge dauerte es bis Mitte der 1960er, bis endlich die zuvor meist verdrängte Judenverfolgung gebührend zur Sprache kam. Erst mit Rolf Hochhuths Der Stellvertreter (1963), der die päpstliche Diplomatie angesichts des Völkermords heftig tadelte, und Peter Weiss’ Die Ermittlung (1965) als dokumentarische Veranschaulichung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses habe sich das grundlegend geändert. Zwar illustrieren beide Werke das Ungeheuerliche besonders intensiv. Aber die zeitgenössischen Autoren klammerten dieses Kapitel deutscher Geschichte keineswegs aus. Nur genügten zuvor (auch aus zurückhaltendem Respekt vor dem heiklen Stoff, der besonders für ideologisch Kontaminierte die Gefahr barg, in peinliche Spekulation zu münden) dosiertere Hinweise oder (allegorische) Anspielungen. Denn veristisch aufbereitete Details lieferten bereits in Hülle und Fülle tägliche Nürnberger Prozeßberichte, entsprechende Filme und Deutschen auferlegte Zwangsbesuche in KZs, die vertiefte Gewissenserforschung durch massive politische Instrumentalisierung auch mal behinderten.
Gemessen an heutigen »Aufklärungsstandards«, wonach wir im Jahr praktisch keinen Holocaust-freien Tag mehr haben, mochte das Thema unterbehandelt erscheinen, sonst jedoch nicht. Gab es doch von Anfang an wichtige Textbezüge: exemplarisch Bergengruens Die letzte Epiphanie in Dies irae (1945), Zuckmayers Des Teufels General (1946), Ernst Wiecherts Der Totenwald (1946), Langgässers Saisonbeginn (1947), Wolfgang Koeppens Bearbeitung von Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch (1948), Ilse Aichingers Die größere Hoffnung (1948), Bruno E. Werners Die Galeere (1949), Jüngers Strahlungen und Heliopolis (beide 1949), Bölls Wo warst du, Adam? (1951), Günter Eichs Träume (1951), Hoerschelmanns Die verschlossene Tür (1952), Bamms Die unsichtbare Flagge (1952), Goes’ Das Brandopfer (1954), Anderschs Sansibar oder der letzte Grund (1957). Reinhold Schneider rief zur Buße auf. Nelly Sachs wurde umgehend bekannt, das Tagebuch der Anne Frank millionenfach in Deutschland verbreitet. Paul Celans »Todesfuge« erschien 1948 in Deutschland. Max Frischs Andorra (1961) erlangte Schulklassiker-Status.
Kollektiv verschwiegen wurde also nichts. Eher nahm man sich noch die Freiheit, den Nationalsozialismus und damit verbundene ethische Fragen modellhaft-überzeitlich und nicht nur als singuläre Untat zu erfassen. Auch diskreditierte eine strikte Opferhierarchie noch nicht (wegen angeblicher Relativierung) die angemessene Behandlung anderer Politverbrechen wie der Vertreibung (Wiechert: Missa sine nomine, 1950). Und man ließ noch Verstrickte zum literarischen Nachkriegsdiskurs zu, wobei sich ohnehin später ergab, daß die vermeintlich »Reinen« viel rarer waren, als ihr neugebasteltes »Bewältiger«-Image nahelegte (siehe Günter Grass). Schließlich hatten auch politisch Involvierte, sofern sie sich billiger Apologie enthielten, Wichtiges zur kollektiven Erinnerung beizutragen.
So bot etwa Gerd Gaisers Fliegerepos Die sterbende Jagd (1953) die suggestive Schilderung einer aussichtslosen Lage, ebenso sein Gib acht in Domokosch (1959). Walter Kolbenhoffs Von unserm Fleisch und Blut (1947) oder Dieter Meichsners Versuch’s noch mal mit uns (1948) illustrierten das Kriegsende im Spiegel verzweifelter indoktrinierter Jugendlicher. Ernst von Salomons Fragebogen (1951) lieferte ein gewaltiges autobiographisches Statement gegen eine aus schematischem Geist geborene Entnazifizierung, die Millionen per Ja- oder Nein-Formalismus schlicht in Gut und Böse klassifizierte. Ernst Jüngers Waldgang (1951) zog daraus ein Fazit für die Lage des Nonkonformisten in einer zunehmend totalitären Moderne. Gläserne Bienen (1957) wiederum thematisiert nicht ohne Selbstironie Fallstricke für Dienstbereite.
Ein anspruchsvolles Zeitbild ergibt sich erst aus dem Ensemble von möglichst vielen Einzelerlebnissen. Autorschaft verschmilzt dabei für ernsthafte Schriftsteller nicht lückenlos mit Volkspädagogik. Wer also aus angemaßter Kenntnis des richtigen oder falschen Bewußtseins so selbstsicher über fortschrittliche oder gestrige Literaten urteilt, mag alles sein, nur kein beispielgebender Literarhistoriker. Er ist im Grunde lediglich ein Betragensnoten verteilender Geschichtskonstrukteur, der ein- und ausgrenzt. Wie das konkret geschah, zeigen die nächsten Folgen.