Heute schreibt sich der Ort Zimnice Wielkie. Er gehört zu Proskau (polnisch: Prósków) und hieß im 3. Reich, in das hinein auch meine Mutter geboren wurde, superdeutsch „Groß Schimmendorf.“
Tante Maria – ich fand erst als großes Kind heraus: es war nur eine Nenn-Tante! – war für mich stets ein Angelpunkt. Wir verbrachten so viele Ferien bei Tante Maria! Und es war immer abenteuerlich und toll. Sie war, wie man heute sagen würde, einfach gut drauf. Warm und resolut, diese schöne Mischung.
Mein Vater (1946 vertriebener Niederschlesier) schimpfte als temperamentvoller Polemiker immer mit der Tante, daß es doch eine Schande sei, daß ihre Kinder, obwohl Deutsche, dennoch die deutsche Sprache nicht mehr beherrschten – bis auf die eine Tochter, die „im Westen“ lebte.
Der Papa fand, das sei doch ihre, Tante Marias, Aufgabe, die Sprache zu tradieren, auch zu Zeiten, wo ihr Gebrauch selbst in privaten Räumen behördlich verfolgt wurde. Ich erinnere mich an zahlreiche Diskussionen zwischen dem Vater und Tante Maria, wo die Fetzen flogen. Meine ganze Familie ist eben agonal veranlagt …
Zuletzt waren wir 2018 mit allen sieben Kindern dort, bei Tante Maria. Sie bewohnte das letzte Haus im Ort. Von dort sind es knapp zwei Kilometer, über immer noch traumhafte Feldwege, vorbei an Marterln bis zu Oder, in der man längst wieder schwimmen kann. Dieses malerische Gebiet war damals, Januar und Februar 1945, eine Hauptkampflinie.
Für mich bleibt Groß Schimnitz ein Traumziel, ein Wurzelort. Immerhin der Ort, in dem mein Großvater Vinzenz (als Reichsbahner ein Zivilist) 1945 auf grauenhafteste Art vor den Augen meiner Großmutter Franziska von Angehörigen der russischen Armee ermordet wurde: Er wurde erschossen und dann von einem Panzer dem Erdboden gleichgemacht. Vinzenz hatte sich mit Kollegen in den umliegenden Wäldern versteckt gehalten und war ins Dorf geschlichen, um sein jüngstes von fünf Kindern (eben meine Mutter Elisabeth) anzuschauen. Ein Nachbar hatte ihn (sicher in Not) an die Russen verraten.
Tante Maria war so fromm wie die meisten meiner Vorfahren. Sogar meine niederschlesische Verwandtschaft (dort neigte man eigentlich eher dem Protestantentum zu) war streng katholisch. „Bibel- TV“ und ähnliches lief rund um die Uhr auf diesem altmodisch kleinen Bildschirm in der Küche; Maria war bibelfest und zänkisch zugleich.
Was übrigens das „Deutschtum“ angeht – für sie, die im Alltag natürlich polnisch sprach, umgeben von lauter deutschstämmigen „Neupolen“ – war es ein weiteres Lebensthema neben dem Katholischen.
Die Poler [kein Tippfehler] sagen so, die Deutschen sagen so. Ich bin Schlesierin. Wir sagen es so:…
Übrigens sind die Enkel von Tante Maria mittlerweile ganz gut im Deutschsprechen. Youtube et al haben es möglich gemacht; interessante Allianzen!
Als eine Art Testament hat mir Tante Maria auf meinen Wunsch einen kleinen, bescheidenen Erlebnisbericht vermacht: Wie es war, damals, 1945, als sie zwölf Jahre alt war. Das wird die historische Forschung nicht umstürzen; „nichts Neues unter der Sonne“.
Ich mag es dennoch veröffentlichen; es ist so direkt. Es weist auf Vergessenes hin, das wir dringend erinnern sollten. “Im Film sieht alles anders aus…”
Maiordomus
Solche Geschichten sind von höchster Relevanz, Bestandteil eines hoffentlich langfristig nicht zu unterdrückenden "Narrativs". Von 1921 bis 1937 wirkte in Oberschlesien der vormalige Schweizer Bundesrat und Justizminister Felix Calonder zusammen mit seinem Schwiegersohn als neutraler Vorsitzender eines Vermittlungsausschusses bei den ab 1921 immer wieder auch tödlich endenden Konflikten zwischen der polnischen und der deutschen Volksgruppe. Das war eine vernünftige Handhabung der Schweizer Neutralität, wobei das Ende der Mission 1937 Schlimmeres erahnen liess.