Sie konnte sich somit gegenüber neuen Wählermilieus und alternativen Koalitionsoptionen öffnen. Schwarz-Grüne Bündnisse sind schon lange nicht mehr nur politische Experimentierfelder, sondern in vielen Bundesländern bereits die administrative Normalität.
2018 konnte sich jeder vierte Unionsanhänger vorstellen, alternativ auch die Grünen zu wählen. Unter Merkel verstand es die Union, dass unter den Bedingungen eines Fünf-Parteiensystems und zunehmend fragmentierten Sozialmilieus Wahlen für die großen Volksparteien nicht mehr über die festen und gebundenen Stammwählerschaften gewonnen werden, sondern über dynamische Wechselwählerschaften.
Heute rechnen Demoskopen bei der Union nur noch mit einer festen Stammwählerschaft von ca. 20%. In den 80er Jahren lag dieser Wert noch bei weit über 30%. Auch in der politischen Selbstverortung ihrer Wählerschaft scheint sich das Mitte-Rechts Lager in der Union zunehmend zu marginalisieren.
Zwar sieht sich die Unions-Anhängerschaft immer noch leicht rechts der Mitte, aber spätestens mit dem Aufkommen der AfD hat sich auch hier ein erhöhtes Abgrenzungsbedürfnis nach rechts gezeigt, wodurch die CDU mit ihrer Wählerschaft zusammen weiter in die linke Mitte gewandert ist. 1981 verorteten sich noch 38% der Westdeutschen als rechts der Mitte. Heute sind es nur noch knapp 10%.
Für eine Studie der Konrad Adenauer Stiftung gaben 68% an, dass sie die CDU nicht mehr wählen, weil die Partei nicht mehr auf der „Höhe der Zeit“ agiert. Nur 12% hingegen meinten, dass die CDU vor allem ihr christlich-konservatives Profil verloren habe und sie deswegen die Partei nicht mehr wählten. Unter den stabilen Unions-Anhängern gibt ebenfalls nur noch eine Minderheit an, dass das Vertreten von „konservativen Werten“ für sie ein entscheidendes Kriterium für die Wahlunterstützung der CDU sei.
Bei den Sinus-Milieuanalysen mußte die CDU bei den Bundestagswahlen 2017 vor allem in ihren sozialen Kerngruppen Federn lassen, die noch am ehesten als traditionell-konservativ beschrieben werden können. Sowohl in der bürgerlichen Mitte als auch dem Konservativ-Etablierten Milieu musste sie teilweise zweistellige Verluste hinnehmen.
Der Kampf um die eigentliche gesellschaftliche Mitte der Gesellschaft wird jedoch schon lange nicht mehr im konservativen Raum, sondern im Dreieck der progressiv- und wohlstandsorientierten linken Milieus geführt, wo die Union am stärksten mit den Grünen konkurriert. Nicht umsonst haben auch die Grünen ihr Image und ihre Wahlkampfführung so weit umgestellt, dass sie auch für klassische CDU-Milieus als Alternative in Frage kämen.
Zuletzt zeigten sich bei den Unionsparteien auch immer mehr Verwundbarkeiten in Richtung der linken Parteien. Anders als auch manche AfD-Funktionäre behaupten, ist und waren die Unionsparteien nie eine geschlossene konservative Formation, sondern immer an einer Art „Median-Wähler“ ausgerichtet.
Etwas anders sieht das Bild jedoch im Osten der Republik aus. Seit der Wende verlor die CDU knapp die Hälfte ihrer Wählerschaft. Lediglich in Sachsen-Anhalt behielt sie einen recht robusten Stammwählerkern, der größeren Schwankungsbreiten widerstehen konnte. Zwischen 2014 bis 2021 gingen 69,2% der Gesamtverluste in Richtung der AfD.
Insbesondere in der CDU-Hochburg Sachsen, wo man in den 90er Jahren mit dem Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf absolute Mehrheiten erreichen konnte, fürchtet man nun um den Verlust von sämtlichen Mehrheitsoptionen, wenn alle potentiellen Koalitionspartner der CDU im Zweikampf mit der AfD zerrieben werden. Im Osten zeigt sich sehr deutlich, dass die AfD natürlich auch Ergebnis der Brüche und Schwächen in der konservativen Bindungskraft der CDU ist.
Etwas anders sieht die Lage jedoch in den CDU-Westverbänden aus. In Bayern oder Baden-Württemberg haben die Wählerwanderungen der letzten Landtagswahlen eindeutig in Richtung der Grünen gewiesen. Die Wechselbereitschaft eines heutigen Unionsanhängers ist im Bundesschnitt 6x wahrscheinlicher in Richtung einer Mitte-links Partei als in Richtung der AfD.
Der AfD-Europaabgeordnete Maximilian Krah sprach im letzten „Am Rande der Gesellschaft“ Podcast in Schnellroda davon, dass die Erfolgsbedingung des europäischen Rechtspopulismus der Niedergang der europäischen Christdemokratie sein wird. Diese These ist zunächst naheliegend.
Nach dem Zerfall des Ostblocks fehlte den Christdemokraten das antikommunistische Feindbild, die Kirchenbindung nahm überall ab und der postmaterialistische Wertewandel bewirkte eine neue progressive Offenheit. Die christdemokratische Parteienfamilie war dadurch orientierungslos und strategisch handlungsunfähig. Im Gegensatz zu ihren Parteipendants in anderen europäischen Ländern hat die CDU ihre Wähler und Anhänger mit auf die Reise in den linksliberalen Mainstream genommen.
Der Aufstieg der AfD hat ihr zwar ohne Frage Risse in das Mauerwerk zugefügt. Dennoch war die Union soweit anpassungsfähig an den Zeitgeist, um sich auch in der linken Mitte wählbar zu machen. Dass der Leidensdruck der CDU so groß werden würde, dass sie sich auch AfD-Bündnissen öffnen würde, kann maximal für Ostdeutschland spekuliert werden. Im Rest der Republik würde sich für sie aktuell kein strategischer Vorteil daraus ziehen lassen.
Zugleich würde ich die Marginalisierung der Christdemokratie nicht zwangsläufig in einen Kausalzusammenhang mit dem vielschichtigen Phänomen des Rechtspopulismus setzen. In den 80er Jahren war es vor allem die SPD, die über den Aufstieg der Republikaner jubelte, da sie angeblich das konservative Wählerspektrum der Union demobilisieren würde. Spätestens als die Republikaner jedoch auch überdurchschnittliche Erfolge im Ruhrpott und einigen Berliner Arbeitersiedlungen feiern konnte verging auch der SPD das Lachen.
Ähnlich verhält es sich mit der AfD. Geographisch betrachtet gewinnt die AfD vor allem in den Regionen mit früheren starken Industriesektoren und einer breiten Arbeiterschaft. Die klassischen CDU-Hochburgen sind für die Partei jedoch noch nicht zu knacken, wie sich selbst im Osten an Beispielen wie dem Norden Sachsen-Anhalts oder dem thüringischen Eichsfeld beobachten lassen.
Manche Demoskopen vermuten, dass die hohen Zuströme für die AfD aus dem Nichtwählerspektrum auch zu großen Teilen aus verloren gegangenen SPD-Anhängerschaften der 2000er Jahre stammen könnten. Nur etwas mehr als 20% der Nichtwähler werden auch als dauerhafte Wahlverweigerer eingestuft. Der Rest hat in der Vergangenheit durchaus an demokratischen Abstimmungsprozessen teilgenommen. Allerdings ist die Forschungslage hierzu noch zu dünn, als dass man konkrete Rückschlüsse auf länger zurückliegendes Wahlverhalten der Nichtwähler treffen könnte.
AfD und CDU-Wählerschaft weisen in vereinzelten soziostrukturellen Merkmalen gewisse Ähnlichkeiten auf. Das Mobilisierungspotential für die AfD ist hier zwar begrenzt, aber nicht unerreichbar. Für die CDU dient ihre konservative Substanz im Elektorat jedoch nur noch als Anhängsel. Sie braucht ihre konservativen Milieus nur noch als stabilisierende Teilmenge einer alten Traditionswählerschaft.
Die tatsächlichen Wachstumsoptionen hat die Union jedoch längst in der linken Mitte identifiziert, worauf sich im Bund und im Westen auch ihre Bündnisstrategie ausrichten wird. CDU und CSU sind Machtmaschinen, die aus den alten Illusionen einer stabilen Wohlstands- und Mittelschichtsgesellschaft heraus politisch überleben. Ihre Wähler zeigen sich mit am gesellschaftlich zufriedensten, ökonomisch stabilsten und sind allein durch die Altersstruktur nur bedingt wechselwillig in Richtung rechter Alternativangebote.
Dennoch müssen wir festhalten, dass die CDU es schaffte über Jahrzehnte rechte Wählerpotential zuverlässig zu integrieren, obwohl sie diesen nie ein ernsthaftes Angebot bieten konnte. Die heimatlosen konservativen Milieus haben selbstverständlich in der AfD eine adäquate Wahlalternative gefunden und sollten dementsprechend auch als Mobilisierungsfaktor Berücksichtigung finden. Doch zur Wahrheit gehört dazu, dass Union und AfD langfristig zwei recht unterschiedliche strategische Wege verfolgen.
Die Union steht an der engen Frontlinie im Kampf um die linksliberale Mitte, wo sie sich im immer engeren Austausch mit SPD und Grünen befindet. Und die AfD hofft auf eine weitere Aufzerrung und Absetzbewegung konservativer Milieus, um daraus eine eigenständige Sammlungsbewegung zu formen, die den politischen Raum rechts der Mitte in Alleinvertretung beanspruchen kann. Die Chance für die AfD liegt in dieser Mission allerdings nicht in der unmittelbaren Formierung neuer rein demoskopischer Mehrheitsverhältnisse, sondern in einer metapolitischen Mobilmachung und Aktivierung ihres eigenen sicheren politischen Geländes, dass zunächst nur als Druckmittel fungieren kann, um daraus ein satisfaktionsfähiges Fundament für den Kulturkampf aufzubauen.
Laurenz
Im Rest der Republik würde sich für sie aktuell kein strategischer Vorteil daraus ziehen lassen.
Wenn eine aktuelle CDU-Kanzlerschaft mit einem Kanzler Merz kein strategischer Vorteil ist, will ich das mal so stehen lassen, auch wenn ich Ihre Sicht der Dinge nicht teilen kann.
Heute rechnen Demoskopen bei der Union nur noch mit einer festen Stammwählerschaft von ca. 20%.
Was im Artikel völlig zu kurz kommt, ist die Altersdemographie. Bis vor ein paar Jahren starben in Deutschland pro Jahr um die 900k Menschen, was in 2021, Dank der Impfungen, auf knapp über 1 Mio. gestiegen ist. Wir können davon ausgehen, das sind zu 2/3 - 3/4 Unionswähler & der Rest SPD-Wähler. (Spahn & Lauterbach eliminierten quasi ihre eigenen Alt-Wähler). Das läßt sich einfach nicht mehr kompensieren. Wenn jetzt die geburtenstarken Jahrgänge in die Rente gehen, wird die aktuelle Rentenpolitik nicht mehr durchzuhalten sein. Auch dadurch werden die Altparteien, CDU & SPD Schwierigkeiten mit ihrer alten Anhängerschaft bekommen.