So dramatisch wir das unmittelbar Gegenwärtige erfahren, die Getroffenheiten von Schmerz und Trauer etwa, nivelliert sich dieses Dramatische aber hin zum Banalen, insofern sich offenbar tatsächlich die ewige Wiederkehr des Gleichen vollzieht und nichts zu erleben ist, was nicht vielfach von allen anderen erlebt wurde und wieder und wieder erlebt werden wird. Ödes Einerlei, ob nun das Gute und Schöne oder das Häßliche, Böse und Grausame.
So beschreiben es die Tiere von Nietzsches „Zarathustra“:
Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.
Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.
In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.
Sieht man auf das Große, auf die Geschichte und Beschaffenheit des Universums und seine grundlegenden Gesetze, erscheint man unweigerlich allzu winzig, geradezu atomisiert, was sich aushalten läßt und ausgehalten werden muß, wenn man in einem mächtigen Fluß der Kausalitäten und Kontingenzen so mittreibt und allenfalls nach undeutlichen Zeichen abzuspüren versucht, wohin es mit einem will.
Betrachtet man hingegen das Übersichtliche, etwa das Politische, so mutet es lächerlich bis absurd an, insbesondere der Ernst, mit dem andere es nehmen, weil sie meinen, entscheidend davon abzuhängen – oder glauben wollen, von der einen oder anderen Richtung gar gerettet zu werden, wenn deren jeweilige Funktionäre verkünden, sie wüßten nun endlich, nach Jahrhunderttausenden Menschheitsgeschichte, wie Welt und Mensch zu helfen sei. Und zwar final und letztgültig. – Wenn nur erst märchenhaft das Böse niedergerungen wäre, gegenwärtig also Putin und das Kohlendioxid.
So wie das Universum von nur vier fundamentalen Wechselwirkungen abhängt, dürfte meine unmittelbare Existenz an Zahl nicht viel mehr an Grundbedürfnissen aufweisen. Das meiste, was rundum auf politischen Transparenten hochgehalten wird, gehört überhaupt nicht dazu.
Eingestanden, man ist der Politik und ihren jeweiligen „Machenschaften“ (M. Heidegger) ausgeliefert, mindestens als Verwaltungsobjekt, und wenn es einem möglich ist, sollte man eingreifen. Aber gibt es wirklich ein negatives Wertegefälle zwischen einem irrsinnig unkonzentrierten Leben in der gegenwärtigen Mediengesellschaft des Jahres 2022 und dem Dasein um 1910, wo auch immer man sich genau zur jeweiligen Zeit befände?
Leid und Schmerz sind durch die Zeiten hinweg in Konstanz dieselben, allenfalls die Möglichkeiten der Betäubung und Regulierung andere.
Was wiederum neben der Zeit den Ort unsrer jeweiligen Existenz betrifft, so macht es selbstverständlich einen Unterschied, ob ich in einer lichten, vom solventen Papa bezahlten Wohnung im Friedrichshain lebe oder auf einer Müllkippe von Sao Paulo. Hier spüre ich, was ich eigentlich zum Leben brauche, dort jedoch weniger.
Das Leben ein Traum? Mindestens staunen wir über das, was ist, auch darüber, daß wir selbst gerade da sind. Und bewahren uns gegenüber der mysteriösen Vielfalt des Seienden ein waches Sensorium, das gern über den Radius des sogenannten Tatsächlichen hinaus Fühlung nehmen möchte und nach Gehaltenheit in einem alles Umgreifenden und Umfassenden sucht.
Epikureische Traurigkeit bedingt nun mal metaphysische Sehnsucht oder religiöse Heilserwartung, und noch das einfachste Gemüt transzendiert, selbst wenn es sich eine höhere Glückseligkeit von einem Porsche-Kauf oder dem nächsten Pokalgewinn durch den FC Bayern München verspricht.
In der Rückschau träumen wir sowieso:
Was habe ich noch mit jenem Jungen gemein, der an irgendeinem Winterabend des Jahres 1970 erschöpft seinen Schlitten von Rodelberg nach Hause zog, sich freuend auf ein behaglich von Braunkohlenbriketts durchwärmtes Elternhaus und auf das Abendbrot mit Wurststulle und Tee mit Zitrone?
Der dort mit Pudelmütze und in schneenasser Wolle durch die leise fallenden Flocken seinen Schlitten zieht und nicht viel mehr überblickt als die eng vertraute Heimat seines Dorfes, sein Kinderzimmer und das Bücherregal, der sich von den Eltern absolut geborgen weiß und sich auf Weihnachten freut, bin oder war das wirklich ich?
Und später: Der Unterfeldwebel im Kalten Krieg an der deutsch-deutsch-Grenze, der Student an der Karl-Marx-Universität in Leipzig von 1985 bis 1990, also während einer anderen tatsächlichen Zeitenwende, was hat dieser Mensch mit mir zu tun?
Alles, was damals am Rodelberg, in der Kaserne und an einer DDR-Universität so wesentlich schien, weil man jeweils meinte, es ginge dort um alles, all das verblich doch vollständig und ist – abgesehen von ein paar diffusen Emotionen, Erkenntnissen und Orientierungen – völlig zu vernachlässigen. Selbst die erste so wichtige Liebe ist abgelegt wie ein schwerverkäufliches Buch im hinteren Regal eines Antiquariats.
Alle einst gültigen, für ewig gültig erklärten Werte, mindestens die politischen, sind längst, längst entschieden umgewertet. Obwohl die Mächtigen damals doch meinten, daran alles, aber auch wirklich alles festmachen und jeden Menschen einbinden zu müssen. Aber: Alles verweht. Gut so.
Es geht nie und nirgendwo um alles. Es geht jedoch stets um einen selbst, aber der Menschen sind schon im näheren Umkreis so viele, daß es nahezu bedeutungslos ist, was – neben all den anderen – ich selbst da empfinden, meinen und glauben mag. Ich interessiere die anderen kaum, und der ich gestern war, geht selbst mich heute beinahe ebensowenig an.
Wer bin ich? Ein Lebewesen, das ungefragt wie alle anderen auf die Welt kam und zu leben versucht, mit der dramatischen Zugabe eines Bewußtseins, das mir Distanz zu allem ermöglicht (oder aufzwingt), also Wahrnehmungen, Beobachtungen, immer neu zu revidierende Erkenntnisse und Urteile, ohne die meine Gattung offenbar nicht durchkommt – urtriebig sehnsuchtsbeladen, hoffnungsvoll und genau deswegen immer wieder am Drama der Freiheit verzweifelnd. Tiere weinen nicht, heißt es. Menschen schon.
Bewußtsein sagt sich so leichthin, aber: Es bleibt die Frage, wie die Teilchen und Verbindungen in unserem Gehirn – unserem Bewußtseins-Raum – mentale Zustände erzeugen. Selbst wenn man alles über die Physik des Hirns wüßte, so fände man darin nicht, wie sich der Geschmack von Schokolade manifestiert oder die Empfindungen beim Betrachten eines Gemäldes. Es ist das eine, die Physik der Teilchen zu begreifen, ganz etwas anderes jedoch, darüber zum Verstehen des Geistes zu kommen. (Eine genaue Befassung mit Frank C. Jacksons Gedankenexperiment „What Mary didn’t know“ lohnt sich nicht nur intellektuell.)
Alles botanische und zoologische Leben ist in einer geschlossenen paradiesischen Welt geborgen, nur unseres steht darüber hinaus. Gleichwohl sehnen wir uns doch oft nach der verlorenen Geschlossenheit zurück … -
Religion und Philosophie bieten dem, der überhaupt danach sucht und nicht einfach nur Stoffwechsel betreibt, Sinngebungen an. Grundsätzlich ähnliche. Viel mehr als die Hoffnung bleibt selbst davon nicht. Und sogar wer Religionen und gleich noch die Philosophien für sich verwirft, sucht dennoch weiter und weiter nach Gründen und Sinn.
Oder sucht überhaupt irgendwas – und sei es in der selbstverloren verzweifelten Weise des Rilkeschen Panthers.
Typen, die sich in Reduzierungen und Abständigkeit üben, haben ihre Hoffnung nicht begraben, sondern gewissermaßen gewendet. Und sind dennoch nicht stark genug, sich nicht zu freuen, wenn ihnen doch mal was Gutes widerfährt. Überhaupt ein schöner Gedanke – die Widerfahrnisse des Guten und der Gnade als Provokationen für einen sich abgehärtet wähnenden Reaktionär.
Bleiben noch Literatur, Kunst und Musik, um über das reine Jetzt hinauszuweisen. Bleibt das Vermögen, mindestens Notizen wie diese festzuhalten, belanglos vielleicht, aber auf einem Stück Papier immerhin physisch einen selbst überlebend. Überhaupt die Sprache: „Wir sterben. Das mag der Sinn des Lebens sein, Aber wir haben die Sprache. Das mag das Maß unseres Lebens sein.“ Sagte Toni Morrison.
Etwas wenigstens festzuhalten versuchen, was in allem Irrsal und Wirrsal bitte bleiben, also Bestand haben möge.
Deswegen hängen wir an Symbolen, an Schmuck, an Ritualen und Traditionen, an Zeichen und Abläufen, die, so wünschen wir, bestehen mögen und uns nicht sofort entrissen werden, wie wir Besitz, Gesundheit, Gemeinschaft nun mal verlieren können.
Während Tattoos früher Männern mit riskant abenteuerlicher Existenz vorbehalten blieben, Seeleuten und Kriminellen etwa, lassen sich heute selbst Zahnarzthelferinnen und Junglehrer welche stechen. Als im Leben immerhin weitgehend unveräußerlicher Besitz wird der eigene Körper, der letzte Rückzugsraum, mit magischen Zeichen verziert. Eine Art Weihehandlung?
Aber wenn du meinst, es ginge um nichts und alles Unbeständige wird dir entrissen, was fängst du dann selbst mit dir an? – Eine Antwort wäre: Stets herauszufinden versuchen, was wirklich existentiell ist. Wenn das fürs Eigene auch wenig sein mag, dann vielleicht mit Blick auf die anderen, die Menschen wie die Mitgeschöpfe, weit mehr.
Hieße probeweise: Suche die Ferne zum Politischen, also zu dem, was Heidegger treffend unter Machenschaften faßt. Sieh dir das zwar aufmerksam an, weil dich aus dieser Richtung mal der Schuß treffen kann, der dich erledigt, aber engagiere dich nicht, weil du so unwillkürlich in ganz schlechte Gesellschaft gerätst. Glaube nicht andauernd an die wechselnden Verheißungen im Diesseits.
Demonstriere nicht, handele. Halte dich an die Handwerker und nicht an – Götz Kubitscheks Begriff – die Maulwerker.
Vielleicht gibt es einen nützlichen Platz auf einem Bio-Hof, wo man Tieren was Frisches in die Raufe forkt. Oder man arbeitet mit unglücklichen Menschen, Suchtkranken etwa, um denen Mut zu geben, doch noch jenes Stück Zeitstrahl weiter entlang zu balancieren, das ihnen bleiben mag. Völlige Desillusionierung in vermeintlich asketischer Abgeklärtheit macht kalt, zynisch und arrogant.
Daß es auf weniger ankommt, als einem permanent glauben gemacht wird, mag entspannen, aber das Leben selbst bleibt ein Risiko: Welche Krebse mögen in mir ticken? Wird der abbiegende Laster mich auf meinem Fahrrad beachten oder plattmachen? Hält der faule Frieden hierzulande bis zu meinem Tod? „Wir werden geboren mit dem Strick um den Hals. Erst angesichts des Todes wird der Mensch der Gefahren im Leben inne, die stumm und verschlagen auf Schritte und Tritt ihn umlauern“, so Herman Melville in „Moby Dick“.
Obwohl von mir selbst wohl weniger abhängt als von den Umständen. Nur: Wenn man die Umstände nicht zu regieren vermag, so doch – in Grenzen – sich selbst.
Das Leben, die Existenz, ist kein Als-ob; die Politik erst, das „System“, zwingt uns ein teil albernes Rollenspiel auf. Ich bin da, ich existiere, und die Gesellschaft teilt mich irgendwo ein. Vielleicht passe ich dorthin, vielleicht suchte ich genau diesen Platz. Meist allerdings nicht.
Also bleibt auch rechts nur, was Existentialismus oder gar Liberalismus fordern: Nimm – verdammt noch mal – deine Verantwortung wahr und werde der, der du sein sollst. Nicht unbedingt ein Held, aber einer, der sich nicht von Floskeln, Losungen und sogenannten Grundvereinbarungen den Schneid abkaufen läßt. Kurz: Vermeide die hohle Phrase, die namentlich die Berliner Republik zur Hochkultur aufbläst, und werde eigentlich. Innerhalb des politischen „Diskurses“ kann man das nur als Sezessionist.
Neben der Inschrift „Erkenne dich selbst!“ soll sich auf einer Säule am Orakel von Delphi auch Forderung befunden haben: „Werde, der du bist!“ Heißt wohl: Der bist du nicht, der sollst du erst werden. Ja, auch politisch.
Franz Bettinger
Es kann nicht sein, dass alles im Grunde nur eine Wiederholung ist. Nein, es gibt die Verbesserung des gefühlten Daseins. Wem ist sie geschuldet? Dem technischen Fortschritt. Das ist eigentlich trivial. Denn man beantworte sich nur eine Frage: Wer möchte, wenn er denn könnte, irgendwann irgendwo in der Vergangenheit leben? (Vielleicht einzige Ausnahme: die glückliche Zeit von 1992 - 2010.) Wer möchte den Hunger, die Kriegsgräuel und Unfreiheiten alter Zeiten durchmachen? Voilà.