Wolfgang Heine (1861 – 1944) hatte sich als junger Jurist, „gerade durch Lassalle, seinen Idealismus, seine nationale Gesinnung angezogen“, der Sozialdemokratie angeschlossen, der er, „im Gegensatz zu den müden und lahmen Gesinnungen im Bürgertum, und namentlich auch der Intelligenz“, die Potenz einer kraftvollen vaterländischen Bewegung zuerkannte. Das „revisionistische“ Experiment einer Versöhnung des nationalen und des sozialen Gedankens, „eine nationale Sozial-Demokratie“, war mit der politischen Radikalisierung in Folge des Kapp-Lüttwitz-Putsches, wie Heine resignierend an Winnig schrieb, aber endgültig gescheitert und mußte den alten Negationsstrategien weichen: „Sie und ich haben uns nach besten Kräften jeder auf seinem Gebiete bemüht, eine positive nationale Politik zu treiben. Wir sind bei den Parteigenossen auf Unverständnis und Widerstand gestoßen“, und so stelle sich unweigerlich die Frage, „ob das, was wir uns vorgenommen hatten, nicht doch eine wohlgemeinte Utopie“ gewesen sei. Im März 1920 nahmen Winnig und Heine, ebenso wie der preußische Finanzminister Südekum und der Reichswehrminister Noske, ihre Entlassungen entgegen, und die Korrespondenz der beiden Politiker, die sich im Nachlaß Heines findet, ist ein Zeugnis des inneren Kampfes und der zunehmenden Entfremdung Winnigs nicht nur von der Sozialdemokratie und seinen politischen Freunden, sondern von der bürgerlichen Politik überhaupt, wobei Oswald Spengler als heimlicher Ideengeber diesem Prozeß die Richtung gibt.
Früh schon hatte Winnig „die Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus als dem Arbeiterwesen fremd empfunden“: „Ich mußte mir Gewalt antun, um diesen Erklärungen folgen zu können.“ Aber erst nach seiner Trennung von der Sozialdemokratischen Partei stellte sich ihm die Frage nach einem metaphysischen Ersatz. Bereits in Riga hatte er Spenglers Untergang des Abendlandes gelesen, und erklärte, er „wüßte wohl kein Buch zu nennen, das mich in meinen reiferen Jahren mehr beschäftigt und stärker beeinflußt hat als Oswald Spenglers Hauptwerk … Von dieser Zeit an fühlte ich mich Oswald Spengler verpflichtet und verbunden.“ Im Herbst 1920 stellte sich durch Paul Lensch – einen Sozialdemokraten, der eine ähnliche weltanschauliche Entwicklung wie Winnig genommen hatte – der persönliche Kontakt zu Spengler her, dessen philosophische Grundpositionen, so schrieb er ihm am 27. August, er „so zu beherrschen“ strebte, daß er sie „zu einem lückenlosen politischen System ausbauen könnte. Zunächst habe ich den Willen dazu.“ Winnigs Buch Frührot (1924) war dem „großen Heimatgenossen“ (auch Spengler stammte aus Blankenburg) gewidmet, und in seiner Schrift Der Glaube an das Proletariat (1926) preist er ihn als den Überwinder des Materialismus.
Wolfgang Heine, den Winnig verehrte und von dem er sich verstanden wissen wollte, verfolgte diese Entwicklung mit wachsendem Befremden, und in einem Brief an Julie Braun-Vogelstein vom 18. Oktober 1927 brachte er Winnigs „System“ auf folgenden Nenner: „August Winnig ist von Haus aus Arbeiter und ein höchst begabter Mensch, der stärker als manch andere die Notwendigkeit eingesehen hat, daß der deutsche Arbeiter sich als Träger des deutschen Volkstums und der deutschen Republik zu fühlen habe. Seine Kritik an dem Verhalten der Sozialdemokratie seit dem Zusammenbruch ist nicht durchweg unbegründet, wenn auch sehr einseitig. Aber merkwürdig ist die Theorie, die er sich zurecht gemacht hat: der deutsche Arbeiter ist nach ihm von Natur ‚national‘ gesinnt. Nur die Akademiker haben ihn durch Einflößung westländischer Ideen verdorben. Daß diese Behauptung falsch ist, darüber braucht man nicht viel zu sagen … Das Komische ist nun, daß auch Winnig diese Erkenntnis von dem schädlichen Einfluß der Akademiker nicht als Arbeiter gefunden hat, sondern auch eben erst, als er selbst Akademiker wurde und zwar unter dem Einfluß von Spengler.“
Von 1922 bis 1924 hatte Winnig, der Autodidakt, in Berlin Geschichte, Volkswirtschaft und öffentliches Recht studiert und dabei nach eigenem Bekunden „Gesichtspunkte aufgenommen und durchgearbeitet, die mir bis dahin fremd waren und die auch innerhalb der sozialistischen Literatur unbekannt sind. Ich muß gestehen, daß ich hierdurch zu einer Auffassung gekommen bin, in welcher der Sozialismus (in seiner heutigen Form) eine ganz andere Bedeutung hat, als ich ihm bis dahin beimaß“. In diesen Jahren widmete er sich der mühevollen Lektüre der Spenglerschen Schriften, die er, der „Geschichte nur vom Standpunkte des Arbeiters denken“ konnte, mit seiner proletarischen Identität in Einklang zu bringen suchte. Im Juli 1924 sandte er Heine Spenglers Neubau des deutschen Reiches zu, wovon sich dieser jedoch „auf das tiefste enttäuscht“ zeigte: „Die richtigen und guten Gedanken, an denen es darin nicht fehlt, sind nicht von Spengler, sondern sind gerade von denen ausgesprochen worden, die er am heftigsten bekämpft. Seine Kritik an gewissen Seiten des Kapitalismus steht ebenso bei Marx, seine Ausführungen über die Notwendigkeit, Führer auszubilden, bei Walt[h]er Rathenau, über die Vorzüge und Schwächen der alten Bürokratie habe ich mich schon lange vor dem Kriege, es kann 1910 gewesen sein, fast wörtlich ebenso im ‚März‘ ausgesprochen. Was er über die Schulreform sagt, haben liberale und sozialistische Schulreformer schon seit 30 Jahren gesagt und teilweise zum Beispiel in den freien Schulgemeinden durchgeführt. Ich sage das nicht aus Prioritätsschmerz, denn es handelt sich um allgemeine Wahrheiten der Zeit, die jeder zu finden das Recht hat, aber widerwärtig ist es, wenn einer Ströme des giftigsten Hasses und der Verleumdung auf die ausgießt, die in der Sache das gesagt haben, weswegen er sich als Führer der Zeit rühmen läßt. Daß ein gebildeter Mann den Hakenkreuzrummel und die Rassenübertreibung ablehnt, ist schließlich kein solcher Verdienst, daß man ihn deswegen feiern müßte, wie es vorschnell ein Teil der liberalen Presse bereits tut. Namentlich ist es kein Verdienst, wenn derselbe Mann, den seine Bildung davor schützen sollte, solchen Wahnsinn drucken läßt, wie die Behauptung, sozialdemokratische Minister hätten aus Freude über die Erniedrigung Deutschlands ein Fest mit Nackttänzerinnen gefeiert, oder, sie wären fähig, für einige Millionen Pfund heimlich Deutschland an England zu verkaufen, usw. Männern wie mir macht er zum Vorwurf, daß wir nach dem Austritt aus dem Ministerium unseren bürgerlichen Beruf wieder ergriffen hätten, was ihn aber nicht hindert, über die turmhohen Ministerpensionen zu zetern, die in Wahrheit gar nicht existieren, weshalb man eben gezwungen ist, sich bürgerlichem Erwerb zuzuwenden. Vieles ist tatsächlich einfach falsch, Spengler hätte nur den Geschichtskalender aufzuschlagen brauchen, um das zu sehen. Die Ausführungen über das römische Recht sind bis zur Kindlichkeit dilettantisch. Das schlimme ist, daß dieser Mann, der so gewissenlos mit der Wahrheit umgeht, der geistige Führer gerade des besten Teils der heranwachsenden Jugend geworden ist. Böse Aussichten für die Zukunft Deutschlands!“
Wolfgang Heine, der aus der Parteigeschichte die lähmende Wirkung einer rein ideologisch fixierten Politikauffassung, den „unheilvollen Einfluß ganz- oder halbstudierter Demagogen und unausgegorener Theorien“ kannte, der sich als Pragmatiker und Patriot verstand, konnte in Spenglers Konzepten nur einen gefährlichen Romantizismus erblicken, und in seinen Briefen an Winnig warnte er diesen unaufhörlich vor den Einflüsterungen der „Professoren“. Spenglers Preußentum und Sozialismus fand er sogar „noch wesentlich wertloser als die Aufbaubroschüre“, und er verteidigte Karl Marx gegen den Vorwurf eines undifferenzierten Revolutionsbegriffs: „Wie kann man Marx lediglich nach dem Kommunistischen Manifest beurteilen! Spengler kennt von Marx anscheinend weiter nichts. Die Einseitigkeiten des Marxismus, das konstruierte und abstrakte in seinem Begriff der Klasse, des Volkes und der Abhängigkeit des Geistigen vom Ökonomischen sind mir sehr klar, und ich habe mich schon vor 25 Jahren darüber ausgesprochen, aber es sind in Marx Wahrheiten oder Anläufe zu Wahrheiten, die nicht einfach weggeschüttet werden dürfen, weil kurzsichtige Professoren diese Juwelen nicht erkennen.“ Dagegen sah Winnig wie Spengler in Marx das Verhängnis des Sozialismus: Als bürgerlicher Außenseiter hätte er die Arbeiterbewegung unter die Herrschaft bürgerlicher Muster gezwungen und „von ihrer eigenen Lebenslinie abgedrängt“: „Es vollzog sich hier, was die Naturwissenschaft eine Pseudomorphose nennt: ein neues Leben mußte sich im Wachsen einer alten Hülle anpassen.“ Aus dem Materialismus sei der Klassenkampf, aus dem Rationalismus die Gottlosigkeit und aus dem Weltbürgertum eine vaterlandslose Internationalität geboren; und so gehe Spengler in seiner Kapitalismuskritik doch weit über Marx hinaus, indem er das Ende des bürgerlichen Zeitalters prophezeie und dem Arbeiter seine geschichtliche Mission zuweise.
Wie „der Adel seine große Aufgabe in der Organisation des Volks zur geschichtlich handelnden Nation“, wie „das Bürgertum seine große Aufgabe in der Schaffung der großen Wirtschaft“ wahrgenommen hätten, so sei auch das „Arbeitertum“ berufen, „das nationale Leben durch ein großes Werk zu erhöhen. Wäre es nicht berufen, so wäre seine ganze Bewegung eine subversive Emeute, so wäre sie ohne geschichtliches Recht. Dann wäre es ein Fluch, Arbeiter zu sein. Ich müßte aufhören, politisch zu denken, zu streben, wenn ich nicht die Gewißheit dieses großen Berufenseins der Arbeiter hätte.“ Diese historische Mission leitete Winnig von Spengler her, dessen Geschichtsmodell er sich mittlerweile umfassend „zu eigen gemacht“ hatte, und für die er die Arbeiter, „Gefäß eines neuen geschichtlichen Formwillens, eines noch jungen und unverbrauchten Blutes“, zu rüsten strebte. So also lebte er „in dem Gedanken an die Arbeiterbewegung der Zukunft. Dabei habe ich die Hoffnung aufgegeben, daß diese Bewegung aus der Sozialdemokratie hervorgehen könnte. Auf diesem Boden kann nichts mehr gedeihen.… Ich denke mir eine Arbeiterbewegung, deren Losung nicht Friede, Freiheit, Brot!, sondern Kampf, Gehorsam, Entbehrung! lautet. Eine Arbeiterbewegung also, die nicht ihr Recht zur Führung fordert, sondern die sich dies Recht nimmt, indem sie es sich verdient. Wäre eine solche Bewegung vorhanden und wäre ich ihr Führer, so würde ich in ihrem Namen die Arbeitszeit der Vorkriegsjahre dekretieren. Ich würde das Parlament zwingen, durch Gesetz ein Arbeitspflichtjahr einzuführen. Ich würde diese Bewegung siegreich machen durch die moralischen Eroberungen, durch das Vorbild, das sie der Nation durch ihren Gehorsam, durch Pflichtgeist und Hingabe an das Ganze gibt. Eine solche Bewegung brauchte nicht mehr um die Führung zu kämpfen, sie hätte sie kraft ihres Geistes und ihrer Taten.“
Winnigs politisches Programm, so schrieb er 1937, war „spenglerisch“; und im Frühjahr 1926 erschienen in rascher Folge seine zwei programmatischen Schriften Befreiung und Der Glaube an das Proletariat, die er als „das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung mit Spenglers Gedanken“ bezeichnete und in denen er die nationale Erhebung gegen Republik und Kapital, den militärischen Kampf gegen die Versailler Friedensmächte proklamierte. Die deutsche Arbeiterbewegung müsse sich der „geistigen Führung bürgerlichen Überläufertums“ endlich entwinden und die „Führung der Volkheit“ im nationalen Befreiungskampf übernehmen. Solchen Harakirikurs wollte Heine nicht mittragen, und der „Verehrung einer Gewalt, die wir dem Auslande gegenüber nicht haben und die im Inlande nur Unheil stiften würde“, hielt er den einzig gangbaren Weg einer zielklaren Revisions- und Erfüllungspolitik entgegen. Mit „Gefühlen und Worten“ sei die deutsche Knechtschaft nicht abzutun, und so sei Winnig, „mein lieber Freund und einstiger Kampfgenosse“, auch nur ein „Opfer ‚bürgerlicher‘ Theorien und Schlagworte, nämlich derer von heut, die, aus den Wirrnissen von Krieg und Niederlage geboren“, vor allem in Spengler ihren Propheten und in dem „Arbeiter“ ihr Werkzeug sähen: „Der deutsche Arbeiter aber, von dem Sie die Befreiung und nationale Erneuerung Deutschlands erwarten, besteht bisher nur in Ihrer Konstruktion und Phantasie. … Ich habe nicht das geringste dagegen, daß Sie ein solches Idealbild des Arbeiters, wie er sein sollte, für die Zukunft aufstellen und will gern zugeben, daß solche Phantasien sittlichen Wert haben können. Nur habe ich noch nie gefunden, daß im praktischen Leben Täuschung über das, was ist, förderlich gewesen wäre.“
Der Weg August Winnigs vom Sozialdemokraten zum jungkonservativen Publizisten und Programmatiker, der ohne Spengler nicht zu verstehen wäre, hatte sich damit erfüllt. Der „nationale Sozialismus“ war von einem Projekt der Linken zu einem Projekt der Rechten geworden, und während Heine, Südekum und Noske auf das Scheitern des „revisionistischen“ Experiments mit Verbitterung und parteipolitischem Verzicht reagierten, suchten jüngere Sozialdemokraten mit anderen Kräften das große Projekt doch noch zu verwirklichen. Im Sommer 1927 wurde August Winnig durch Ernst Niekisch, auch er ein sozialistischer Renegat, für die Altsozialistische Partei (ASP) gewonnen, eine Rechtsabspaltung der sächsischen Sozialdemokratie, deren nationalrepublikanisches Programm auch Wolfgang Heine begrüßte. Anders als Niekisch bemühte sich Winnig aber um die Anbindung der ASP an die nationalen Kampfbünde, an Jungdeutschen Orden und „Stahlhelm“. Damit war ein Weg beschritten, der Winnig – nach dem späteren Bruch mit Niekisch – sehr weit führte: über die Volkskonservativen zu den Nationalsozialisten zurück in den Schoß des evangelischen Christentums und auf die Seite des konservativen Widerstands. Immer fühlte er sich dabei Oswald Spengler, dem „großen Verführer und Seelenfänger“ (Ernst Niekisch), verpflichtet. Für die deutsche Linke war Winnig verloren, aber, so schrieb Heine an einen Freund: „es ist schade um Winnig“.