Die nordukrainische Stadt Butscha in der Oblast Kiew wurde am 27. Februar 2022 von russischen Truppen besetzt. Der Abzug begann nach langen, erbitterten Kämpfen Ende März, am 1. April erlangten ukrainische Truppen vollständige Kontrolle über die Stadt.
Zwei Tage später setzte eine konzertierte, internationale Medienkampagne ein: Angeblich hatte man in Butscha »Massengräber« von toten Zivilisten entdeckt, systematisch ermordet von den russischen Besatzern. Von drei- bis vierhundert Toten war die Rede, die britische Botschafterin bei der UNO sprach gar von »mehr als achthundert Leichen«.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski sah sich die Greueltaten vor Ort an, begleitet von Fernsehteams. Die Aufnahmen von seinem Besuch zeigten neben massiven Zerstörungen vor allem Tote, die verstreut auf den Straßen lagen, darunter etliche mit einer auffälligen weißen Armbinde, manche davon gefesselt und offenbar aus nächster Nähe exekutiert. Da waren sie, die »Beweise« für einen »Völkermord«, der »von der Welt anerkannt« werden müsse, wie Selenski formulierte. »Sie sehen, was passiert ist«, sagte er mit zerknirschtem Gesicht zu den internationalen Reportern. »Wir wissen, daß Tausende getötet und gefoltert, Gliedmaßen abgerissen, Frauen vergewaltigt und Kinder getötet wurden.«
Es gab keinerlei Zweifel an dieser Tatsache; allenfalls Details und Opferzahlen waren noch zu klären, das große Urteil aber war rasch gefällt, auch wenn formal nach »Aufklärung« gerufen wurde. Kaum ein Berichterstatter oder Politiker, der nicht schon haargenau Bescheid wußte, was passiert war, und der wußte, daß darauf nun weitere wirtschaftliche Sanktionen gegen Rußland folgen mußten. Wie immer waren es »die Bilder«, die nun »die Welt« zur Empörung und zum moralischen Handeln verpflichteten.
US-Außenminister Antony Blinken ließ die altbekannte Melodie anklingen, die »humanitären Interventionen« voranzugehen pflegt: »Das ist die Realität, die sich jeden Tag abspielt, solange Rußlands Brutalität gegen die Ukraine anhält. Deshalb muß es ein Ende haben.« Auch aus Europa erklang ein einstimmiger Chor: »Putins hemmungslose Gewalt löscht unschuldige Familien aus und kennt keine Grenzen«, konstatierte Annalena Baerbock aufgrund der »unerträglichen Bilder«, die sie im Fernsehen gesehen hatte. Auch Emmanuel Macron fand »die Bilder, die uns aus Butscha erreichen«, »unerträglich«, wie er auf Twitter schrieb. Der polnische Präsident Andrzej Duda äußerte, »die Bilder von Butscha« würden »den Glauben widerlegen, man müsse um jeden Preis einen Kompromiß finden.« Vor allen anderen Dingen brauchten die »Verteidiger der Ukraine« nun »Waffen, Waffen und noch mehr Waffen«.
Haben wir aber wirklich gesehen, was wir gesehen haben, was laut Joe Biden angeblich »jeder« gesehen hat? Das wahrnehmungssteuernde Framing wurde von Anfang an mitgeliefert. Ein YouTube-Video der Nachrichtenagentur AFP vom 4. April beispielsweise trägt den Titel »Ukraine’s President Zelensky visits Bucha, site of mass graves«, aber letztere sind in dem Video nirgends zu sehen. Andere Berichte zeigten einen offenen Graben auf einem Kirchhof, der Nachrichtenagentur Reuters zufolge etwa 13,7 Meter lang, in dem etliche Leichen in schwarzen Plastiksäcken lagen. Hatten ihn die russischen Mörder gegraben, aber nicht zugeschüttet, die Leichen nicht unter die Erde gebracht? Oder waren es die Einwohner der Stadt, die den Graben gegraben hatten, um die sich häufenden und überall herumliegenden Toten zu bestatten, wie ein Bericht der Agentur Agence France-Presse vom 8. April nahelegte?
Auf alternativen Kanälen tauchte bald ein Gegennarrativ auf, das weitgehend der offiziellen russischen Darstellung entsprach: Am 31. März hatte der Bürgermeister der Stadt, Anatoli Fedoruk, in einem Video die Befreiung Butschas gefeiert, lächelnd, gut gelaunt und ohne irgendein Massaker zu erwähnen. Am 3. April gab unter anderem die Seite ukranews.com eine Erklärung der Nationalen Polizei der Ukraine wieder: »Am 2. April begannen Spezialkräfte der ukrainischen Nationalen Polizei in der befreiten Stadt Butscha in der Region Kiew damit, das Gebiet von Saboteuren und Komplizen der russischen Truppen zu säubern«. Die weißen Armbinden, die viele Opfer trugen, sind üblicherweise das Kennzeichen von russischen Truppen und prorussischen Zivilisten, weshalb eine russische Täterschaft keinen Sinn ergäbe.
Waren die Toten auf den Straßen Butschas also in Wahrheit Opfer ukrainischer »Säuberungen« und Racheaktionen an »Kollaborateuren«, an denen auch das berüchtigte Asow-Regiment und andere radikale nationalistische Gruppen wie die »Bootsmann-Männer«, benannt nach dem Spitznamen ihres Anführers, beteiligt gewesen sein sollen? Oder waren sie zum Teil schlicht zufällig Opfer von Artilleriebeschuß der ukrainischen Armee?
Die »Faktenchecker« feuerten ebenso rasch zurück. Die New York Times veröffentlichte am 4. April Satellitenbilder, die beweisen sollten, daß schon seit dem 11. März Leichen insbesondere auf der Jablonska-Straße (Welt: »Die Straße des Horrors«) gelegen hatten. Hatten die Russen kein Interesse daran, die Spuren ihrer Untaten zu verwischen? Kann man auf einem Satellitenbild erkennen, woran ein Mensch gestorben ist? Beweise für systematische Exekutionen brachten diese Aufnahmen nicht: Angesichts der abgebildeten Zerstörungen nährten sie eher den Verdacht, daß es sich bei den Toten um zivile Opfer von Artilleriebeschuß handelte.
Wer sich durch die Flut von Propaganda und Gegenpropaganda mit all ihren großen und kleinen Geschichten gewühlt hat, wird bald die Grenzen seiner Urteilsfähigkeit eingestehen müssen. Bilder von Zerstörungen und Leichen sind immer schockierend und abstoßend, gehen direkt in die Eingeweide und lösen starke Emotionen aus. Aber für sich genommen, beweisen sie in der Regel wenig. Kurze, verwackelte, kontextlose Szenen von Gewalt, Kriegshandlungen und Tod, wie sie in den Sozialen Medien von Twitter bis Telegram seit Beginn des Kriegs von allen Seiten massenhaft hochgeladen werden, in Sprachen, die die meisten Menschen im Westen nicht verstehen, lassen sich nicht ohne weiteres auf den ersten Blick »einordnen«. Hinzu kommen die inzwischen außerordentlichen Möglichkeiten, Film- und Tonaufnahmen rasch und einfach zu »faken«. Daß auch Interviews und Zeugenaussagen für die Kamera »gestellt« werden können, sollte ebenfalls keine Neuigkeit sein.
Hinzu kommen merkwürdig naive Vorstellungen über den Ablauf eines Krieges. Im März begann die ukrainische Regierung, Waffen an Zivilisten und Kampfunerfahrene zu verteilen, um eine Art »Volkssturm« gegen die Russen zu mobilisieren; auch legal im Land lebenden Ausländern und Staatenlosen wurde gestattet, an den Kampfhandlungen teilzunehmen. Manche deutsche Medien haben diese Tatsache geradezu romantisch verklärt, wie überhaupt den gesamten ukrainischen Abwehrkampf. Daß die logische Folge mehr tote Zivilisten sind, haben sie wohl nicht bedacht, und auch nicht, daß Artilleriebeschuß einer Stadt unweigerlich zivile Opfer als »Kollateralschäden« fordert. Hinzu kommt, daß Zivilisten oft von beiden Seiten als »Schilder« benutzt werden, während zivile Opfer trefflich zu propagandistischen Zwecken ausgebeutet werden können.
Seit Kriegsbeginn wächst täglich der Umfang der internationalen Wikipedia-Artikel über »Kriegsverbrechen im russisch-ukrainischen Krieg«. Die deutsche Version stellt gleich im ersten Satz die Behauptung auf, diese seien »überwiegend durch Angehörige der russischen Streitkräfte« begangen worden, während Kriegsverbrechen auf ukrainischer Seite nur »vereinzelt« aufgetreten seien. Die englische Fassung räumt nicht einmal das ein: Im Einleitungsabschnitt ist ausschließlich von Kriegsverbrechen durch russische Autoritäten und Streitkräfte die Rede, die »sowohl gezielte Angriffe auf zivile Ziele als auch wahllose Angriffe in dicht besiedelten Gebieten« durchgeführt haben sollen. Auch angesichts von Butscha wurde rasch die Parole ausgegeben, daß es sich hier nicht um einen »Einzelfall« handle.
Russische Medien hingegen, die im Westen teilweise gesperrt oder nur auf Umwegen zu finden sind, zeichnen ein gänzlich anderes Bild: Sie zeigen unter anderem Folterungen und Tötungen von russischen Kriegsgefangenen und »Kollaborateuren« durch reguläre und irreguläre ukrainische Kombattanten, berichten schon seit Jahren über den »Genozid« an russischen Separatisten in der Ostukraine und die Gewalttaten der dort operierenden »Faschisten«.
Der Krieg hat alte Geister wieder aufgeweckt; Rußland stilisiert ihn zu einer Neuauflage des antifaschistischen »Vaterländischen Kriegs«, während auf ukrainischer Seite Erinnerungen an die sowjetisch-russische Gewaltherrschaft wieder wach werden. Wer sich ein historisches Bewußtsein bewahrt hat, wird jedenfalls seit Februar starke Déjà-vu-Erlebnisse gehabt haben.
Das »Massaker von Butscha« kam dem Westen äußerst gelegen, als verdächtiger Höhepunkt einer extrem einseitigen und aufgeregten Verteufelung der russischen Kriegspartei. »Butscha« sollte von Anfang an für den russisch-ukrainischen Krieg eine ähnliche Rolle spielen wie »Srebrenica« für die Jugoslawien-Kriege. Mit diesem Schlagwort sind Massaker gemeint, die im Juli 1995 in der Nähe der bosnischen Stadt Srebrenica stattfanden und die bis zu 8000 muslimischen Bosniern, vor allem Männern und Jungen, das Leben gekostet haben sollen. Von der UNO als »Völkermord« deklariert, diente Srebrenica dazu, im Westen eine antiserbische Stimmung zu erzeugen, die politisch im NATO-Einsatz von 1999 kulminierte, der nach Angaben der jugoslawischen Regierung bis zu 2500 zivile Todesopfer gefordert hat.
Mit »Srebrenica«, dem angeblich »größten Massenmord seit dem Zweiten Weltkrieg«, wurden zahlreiche andere Massaker und Kriegsverbrechen der Jugoslawien-Kriege, begangen von muslimischen Bosniern, Kroaten und Albanern, überschattet und relativiert, so daß die Serben in den Augen der »Weltöffentlichkeit« als die Hauptübeltäter dastanden, vergleichbar mit den historischen »Nazis«. So rechtfertigte der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer den Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo mit den Worten »Nie wieder Auschwitz«. Die »Wahrheit« über Srebrenica verfestigte sich rasch zum politischen Dogma, und wer dieses anzuzweifeln wagt, riskiert auch heute noch, nach einem altbekannten Strickmuster als »Genozidleugner« oder »-relativierer« abgestempelt zu werden.
Auch die »Wahrheit« über Butscha wird vermutlich nicht mehr umgeschrieben werden; ob sie wie Srebrenica eine langfristige Bedeutung im kollektiven Bewußtsein der Weltöffentlichkeit erlangt, wird sich noch zeigen. Abhängen wird dies von ihrem politischen Nutzen. Dieser entscheidet stets, ob bestimmte historische Narrative in Frage gestellt werden dürfen oder nicht. Revisionistische Darstellungen beispielsweise von »Guernica« oder »Oradour-sur-Glane« und anderen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs fristen ein Dasein in verfemten Samisdat-Nischen, während ihre Autoren zum Teil juristisch verfolgt werden. In anderen Bereichen gibt es keinerlei Hemmungen, jahrzehntelang gültige Opferzahlen drastisch herunterzurechnen, wie es die »Historikerkommission zu den Luftangriffen auf Dresden zwischen dem 13. und 15. Februar 1945« im Jahr 2010 tat.
Handelt es sich um komplette Erfindungen, wie die berüchtigten »abgehackten Hände belgischer Kinder« im Ersten Weltkrieg, die »Brutkastenlüge« anläßlich der irakischen Invasion Kuwaits im August 1990 oder die angeblichen »Massenvernichtungswaffen« Saddam Husseins, so verschwinden sie mitunter rasch aus der Geschichtsschreibung.
Was sich am zähesten hält, sind einseitige Darstellungen und Übertreibungen mit einem mehr oder weniger großen Kern Wahrheit, verbunden mit einem großzügigen »Vergessen« und Herunterspielen der Taten der eigenen oder der verbündeten Seite. All dies liegt in der intensiv parteiischen Natur der Kriegspropaganda selbst begründet, wie sie Baron Arthur Ponsonby (1871 – 1946) in seinem Klassiker Lügen in Kriegszeiten (Falsehood in Wartime, London 1928) beschrieb.
Die belgische Historikerin Anne Morelli hat daraus zehn Prinzipien destilliert, deren Wiedererkennungseffekt anläßlich des laufenden Krieges in der Ukraine enorm ist, insbesondere die Punkte »Der Führer des Feindes hat dämonische Züge«, »Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten, wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich« und »Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.«
Der Witz ist, daß sich diese Prinzipien spiegelbildlich bei allen Kriegsparteien finden, denn es handelt sich hier um den psychologischen Modus des Krieges selbst, dem sich kein Teilnehmer entziehen kann: Wir sind die Guten, sie sind die Bösen, wir sind im Recht, sie sind im Unrecht, sie haben grundlos mit der Gewalt begonnen, wir verteidigen uns lediglich oder üben gerechte Vergeltung, wir sagen die Wahrheit, sie lügen. Die »liberalen Demokratien« sind in dieser Hinsicht keinen Deut besser als die »autoritären Systeme«, die sie zum Feind- und Gegenbild erhoben haben. Damit ist freilich noch nicht geklärt, was in einem konkreten Fall, wie etwa Butscha oder Srebrenica, tatsächlich passiert ist.
Alle Vorwürfe gegen den Feind können theoretisch stimmen, aber fast immer wird der eigene Anteil an dem Geschehen und seiner Eskalation ausgeblendet oder verkleinert. Gewiß gibt es auch das Phänomen des »überzogenen Skeptizismus«, der »in bedauerliche Dummheiten wie die Leugnung von Fakten« mündet, wie Morelli formuliert, und gewiß ist es so, »daß Skeptiker im Lager des Feindes begrüßt, im eigenen dagegen abgelehnt werden«, womit man durchaus Gefahr laufen kann, dem Feind des eigenen Landes in die Hände zu spielen. Dies erscheint Morelli jedoch als das kleinere Übel gegenüber »blinder Leichtgläubigkeit«: »Systematischer Zweifel scheint mir noch als das beste Gegengift gegen das Gift der täglichen Gesinnungsprodukte, die uns über die Medien ins Haus geliefert werden, ob nun bei internationalen Kriegen, ideologischen oder sozialen Konflikten«.
Leider haben sich viele, die die mediale Herrschaft der »Gesinnungsprodukte« erkannt haben, mittels der antirussischen Propaganda wieder in ihren Bann ziehen lassen. Dieselben Instanzen, die uns über Massenmigration, Bevölkerungsaustausch und »Corona« belogen haben, belügen uns selbstverständlich auch über den russisch-ukrainischen Krieg, der weder in europäischem noch in deutschem Interesse ist. Es sind immer »die Bilder«, die jegliches Denken ausschalten sollen: ein totes Flüchtlingskind am Strand, Wagenkolonnen auf dem Weg ins Krematorium in Bergamo oder eben die Leichen in den Straßen von Butscha.