Es zeigt auf mehreren Ebenen die alte Bundesrepublik, das wiedervereinigte Deutschland nach 1989 und ein neues Deutschland des Jahres 2015. Nicht von ungefähr bedient sich Tellkamp mindestens zweier historischer Zäsuren, die als Epochenwende einer gemeinsamen deutschen Geschichte dienen, verschiedener Zeitebenen also, die an das solidarische Gefühl von Sieg und Ohnmacht, das Erleben biographischer Brüche und gesellschaftlicher Veränderung erinnern und an ein tiefes Gefühl willkürlicher Demütigung.
Denn es sind Zeiten, in denen die Uhren angehalten scheinen, in denen ein tiefer Schlaf über den Beteiligten liegt, am Vorabend weltgeschichtlicher Wenden.
Fabian, der uns als Chronist und Beobachter vorgestellt wird, arbeitet im Jahr 2015 in der »Tausendundeinenachtabteilung« des Staates Treva. Beauftragt ist er mit der Erstellung einer Chronik anläßlich des 25. Jahrestags der deutschen Wiedervereinigung. Als ehemaliger Dissident ist er in den Staatsdienst eingetreten, um die Macht von innen her zu erforschen und zu verstehen.
Neben seinem Erkenntnishunger zur Funktion eines Machtapparates treibt ihn vor allem ein eigenes Thema an, nämlich den Verrat an seinen Eltern aufzuklären, der diese in der untergegangenen DDR in die Fänge der Staatssicherheit getrieben hat. Das ist der eigentliche Glutkern seines Handelns; nur dafür begibt er sich in die schwarze Tiefe der Vergangenheit, durch labyrinthische Gänge des unterirdischen Reichs, der »Sicherheit«, die alle Vorgänge der Vergangenheit und Gegenwart archiviert, kontrolliert und in den eigenen Medien nacherzählen läßt.
Die Zitierlust und die über Jahre hinweg erfolgte Recherchearbeit Tellkamps bieten im Sinne einer sich endlos schlängelnden Tausendundeinenacht-Geschichtserzählung dem Leser Gelegenheit für vergnügliche Dechiffrierungen von Persönlichkeiten der bundesrepublikanischen und gesamtdeutschen Geisteswelt. Und so ist dieser Roman vor allem ein Geschichtsbuch, das wir an beliebiger Stelle aufschlagen können, ähnlich dem neugierigen König, der sich Nacht für Nacht die Geschichte ohne Ende von Scheherazade weitererzählen läßt, die sich so ihr Leben sichert. Denn Erinnern bedeutet nichts anderes, als das eigene Leben zu sichern, indem man Anker wirft an dem Ort, wo man hingehört. Als Heimat, wo man, so Tellkamp, sein kann ohne Fesseln und ohne auferlegte Disziplin.
Der Chronist Fabian ist also ein Geschichtenerzähler, der sich erinnert und dafür nicht nur in die Archive, sondern auch in seine eigenen Tiefen hinabsteigt. Als einer, der von Kindheit an stottert, ist er noch mehr ein Beobachter als aktiver Protagonist. Er bewundert den Weltenlauf, das fortwährende Verändern, das folgerichtige Entwickeln, erkennt damit eine höhere Macht an, die treibt und trägt. Wenn Hölderlin also in seinem Langgedicht »Archipelagus« von ebenjenem Entzücken über die Natur, die Schönheit und das Werden spricht, dann aber Zerstörung beklagt, weil dem Menschen die Demut fehle, ist es Fabian, der im Rückblick vor allem Trauer über Unwiederbringliches verspürt.
Wer sich an die Familienverhältnisse aus Tellkamps Turm noch erinnert, wird in dieser Fortschreibung nun belohnt mit Vor- und Nachgeschichten der Familien Rohde und Hoffmann. Ein Epos also. Tellkamp nutzt in seinem Roman die großen literarischen Motive und geht dabei traditionelle Wege der biographischen Erzählung. Schon in Dante Alighieris Göttlicher Komödie sind es die drei Reiche der jenseitigen Welt, die mit dem eigenen Gang durch Hölle, Fegefeuer und Paradies dem Geretteten ewige Seligkeit verspricht und den durchlebten Erkenntnisschmerz im nachhinein vergoldet.
Auch Uwe Johnson, der in seinem vierbändigen Hauptwerk Jahrestage einen Zeitraum von ungefähr 60 Jahren in zwei Generationen und damit Alltagserzählung als modellhaftes Erfahren eigener Entscheidungen und deren Konsequenzen beschreibt, gilt als weiterer literarischer Ahne Tellkamps. Denn auch Fabian wird sich dem eigenen Spiegel stellen müssen, um Wissen in einer Gegenwart zu erlangen, die auf verdrängt Erlebtem fußt.
Für ein 900seitiges Buch, das Mitte Mai erschien, ist die Rezeptionsgeschichte schon jetzt außergewöhnlich umfangreich, in ihrem fast einhellig ablehnenden Gestus zumindest bemerkenswert. Tellkamp selbst spricht davon, nichts damit »zu wollen«, lediglich Erinnerungsarbeit zu leisten, die notwendig sei und einer künstlerischen Adaptierung bedürfe. Auf einer der vielen Veranstaltungen, die Tellkamp mit seinem Roman absolvierte, äußerte er: »Wenn Sie sie dafür interessieren, wie Gesellschaft funktionieren mag, was gewisse Spieler in dieser Gesellschaft können oder wollen, wie Politik arbeitet in ihren verschiedenen Ausprägungen, wie Alltag in einer europäisch, bundesdeutsch, modern gestalteten Großstadt aussieht, wie Journalismus hier und dort arbeitet, dann ist der Roman für Sie richtig.«
Verstehen wir das Buch also als lustvolles Angebot, die ausgebreiteten Mosaiksteine zu sortieren und sich vom derzeit wichtigsten und sprachmächtigsten deutschen Schriftsteller Geschichte in Geschichten erzählen zu lassen – von Uwe Tellkamp.
Gekürzte Fassung einer Rezension, die zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung erschien.
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Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren. Roman, Berlin: Suhrkamp 2022. 904 S., 32 €
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